&&fz0 &&sw03 &&ll=0 &&am &&lg=0 &&___A4A5A6_Z0___A4UT_Z24___halb16zu9_Z16___T3A7_Z-1___SVGHTML_Z0 &&__»«„“›‹…¬__(F2)_oder_Zeile:_000 Georg Hermann &&fa {{Henriette Jacoby}} &&fe Roman Zuerst erschienen: 1908 &&ak=1 &&SGLogo &&wt0 &&sw02 &&x &&nsr &&am &&g0="Vorwort" &&lg=x Vorwort &&ax &&fz1 &&fzs=1 Es ist seltsam, wenn ich denke, daß sie nun wieder alle, auch alle um mich sein sollen, die schon weit draußen in der Welt leben und die mancher kennt oder zu kennen wähnt, sie, die allein mir gehören und doch wieder mir nicht mehr gehören. Und es ist seltsam, wenn ich denke, daß ich es nun wieder bin, der – ein neuer Charon – sie ihrem Schicksal entgegenführt, unerbittlich wie jener; einzig den Bord des Nachens darf ich mit Blumen umflechten. Und wenn es fürder das Leben nicht gut mit ihnen meinte, ich könnte ja die Karten anders mischen; aber was würde es nützen? Über Glück und Unglück, über Behagen, Wunsch und Wehe ist ja schon lange der Pflug gegangen, der alles in den Boden reißt. Nehmen wir Gewesenes und Seiendes für das, was es ist: für ein Spiel; traurig oder schön ... immer nur für ein Spiel, dessen Sinn wir nicht kennen. &&ar Georg Hermann &&x &&ns &&ax &&g0="Roman" &&lg=x Ich weiß nicht, ob man sich der Geschehnisse erinnert. Genug: Onkel Jason war zuerst fortgefahren, als allererster von Jettchen Geberts Hochzeit. Er hatte eine gute Entschuldigung, daß er doch noch krank wäre. Noch vor Jettchen hatte er das Fest verlassen. Noch ehe Jettchen in jener windklaren, sternhellen Novembernacht des Jahres 1839 (ich weiß nicht, ob man sich dessen erinnert) ihrer Hochzeit in der »Gesellschaft der Freunde«, oben in der Neuen Friedrichstraße, den Rücken gekehrt hatte, ohne abzuwarten, daß Madame Spiro den Kaffee servierte, und, was noch merkwürdiger war, ohne sich zu gedulden, bis ihre schöne, mit weißem Atlas ausgeschlagene Chaise – die beste, die Onkel Ferdinand überhaupt besaß – bis der Hochzeitswagen sie nach ihrer neuen Wohnung brächte, in der Tante Hannchens Mädchen indes alle vier Zimmer geheizt hatte, damit Jettchen sie nicht zu kalt und ungemütlich fände. Jettchens Mädchen sollte nämlich erst übermorgen zuziehen. (Ich weiß wirklich nicht, ob man sich all dessen erinnert.) Nicht eine Sekunde also hatte Jason Gebert den Wagen warten lassen. So pünktlich war er selbst nie zu einem Stelldichein gegangen, und doch konnte ihm hierin gewiß niemand Unpünktlichkeit vorwerfen. Die halbe Zeit hatte er unter dem Tisch mit seiner Uhr gespielt und die Zeiger verwünscht, die so langsam um das silberne Stundenglas krochen. Und dann hatte er wieder stocksteif dagesessen, in die Lichter gesehen und sich mit der Hand unter die weiße Halsbinde gegriffen, weil es ihm schien, als ob er erdrosselt werden sollte und als ob jemand immer wieder von hinten die Binde zuzöge, kaum daß er sie zurechtgerückt hatte. Jason Gebert begriff seinen Bruder Salomon nicht, der so breit und würdig dasaß, und Ferdinand – seinen Bruder Ferdinand –, der über die eigenen Witze lachte, daß man es durch den ganzen Saal hörte, und der immer wieder den Lohndiener Pieper rief, er solle ihm noch mal anbieten. Jason selbst bekam keinen Bissen herunter. Er hatte ja auch eine gute Entschuldigung, nichts zu nehmen; er wäre noch in der Genesung, sagte er, und der Rat Stosch hätte es ihm streng verboten. Aber Tante Rikchen, die sich als Brautmutter fühlte und für jedes Kuvert zahlen mußte, ob es nun gegessen wurde oder nicht – seine Schwägerin Rikchen wollte das nicht gelten lassen. Und sie kam selbst mit einer Schüssel und tat Jason Fisch auf – Fisch dürfe er doch essen, es gäbe nichts Leichteres als Fisch. Auch Onkel Naphtali erinnerte sich, daß er hier als Senior aller Jacobys Standesperson wäre, und sagte: »Aber der junge Mann scheint dem teuren Menü gar keine Ehre antun zu wollen«, während der alte Onkel Eli sich begnügte, seine brave Ehehälfte, die ihm schrägüber saß, nur mit dem einen[[Anzahl]] Auge anzublinzeln. Die kleine Tante Minchen schüttelte darauf zwar unwillig ihrer {{Ma¬ra¬bu¬toque}}, aber sie verstand schon, was jener meinte. Als aber Salomon Gebert endlich aufstand, um Mahlzeit zu wünschen, da war sein Bruder Jason auch schon aus der Tür. Und ehe nur einer sonst recht den Stuhl gerückt hatte, hatte jener auch schon draußen seinen grauen Spenzer umgenommen und hatte die Klinke in der Hand. Ja, sie mochten oben noch nicht einmal recht aufgestanden sein – denn nach einer so reichen Hochzeitstafel läßt man sich damit Zeit –, da hatte Jason sich mit geschlossenen Augen auch schon unten in die roten Polster des Wagens zurückgeworfen, und die Pferde zogen an. Jason Gebert konnte keinem Menschen sagen, wie ihm zumute war. Jedes Rattern des Wagens, jeder Hufschlag der Gäule traf ihn ins Hirn und gab ihm noch zu der Empfindung trostloser Leere und dumpfer Starrheit, die sich in ihm breitete, unleidliche körperliche Schmerzen. Nun hatte er gekämpft und gekämpft – und die Schlacht endlich doch verloren. Stein für Stein hatte er in Jahrzehnten aufeinandergeschichtet, und wie er dachte, nun bald den Schlußstein einfügen zu können, da war das alles, krach, in sich zusammengebrochen, und nie mehr würde er es wieder aufbauen können. Was war denn für ihn Jettchen bis heute gewesen? Ihm wurden die Augen feucht, wenn er daran dachte. Und nun war sie die Frau dieses Julius Jacoby, dieses Vetters aus Bentschen! Er sah sie als junges, fünfzehnjähriges Ding vor Augen, hinten in ihrem Zimmer nach dem Hof mit dem Nußbaum vor der Galerie. Wie hatte er sie so Schritt vor Schritt gegängelt, sie dahin gebracht, wo er sie hin haben wollte. Von Woche zu Woche hatte er sich gefreut, sie wiederzusehen. Und nun war das alles entzwei. Denn dieser Löbel Groschenmacher würde es ganz und gar niedertreten. Das wußte Jason Gebert. Und das war heute sein Abschied gewesen. Ein trauriger Abschied – nicht einmal ein Rückzug, nein, vielmehr eine Flucht, eine wirre, haltlose Flucht war es gewesen. Nun was denn? Er würde eben noch einsamer sein, das hätte eben auch ein Ende gefunden wie alles andere hier. Noch ein Jahrzehnt würde er sich so hinschleppen, vielleicht noch länger, dies und jenes beginnen, so ungefähr, wie man nutzlos Steine in einen[[Anzahl]] Brunnen wirft. Herrgott im Himmel, warum hatte er nicht schon jetzt wegtreten können, links in die Seitenkulissen hinein! Warum mußten diese lahmen alten Knochen schon wieder standhalten! Nun ja, nun wäre eben auch das zu Ende. Was scherte er sich eigentlich darum. Was ging es ihn an. Er würde sich jetzt schlicht und friedlich oben in sein schönes, warmes Zimmer setzen, auf seine grüne Damastbergere, würde die Beine von sich strecken und würde auf seine Art Abschied feiern. Richtig, da war ja noch eine Flasche Sillery, des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann Sillery, die ihm Onkel Eli gebracht hatte – der würde er den Hals brechen. Und dann würde er sich dazu »{{La Vie des Dames galantes}}« von {{Bran¬tôme}} vom Bücherbord herabholen, um, das halbgeleerte Glas in der einen[[Anzahl]] Hand und das Buch in der anderen, den geheimen Sinn dieses schmerzhaften und närrischen Daseins zu ergründen. Bis zum Bett würde er wohl endlich immer noch herüberkommen. Wozu brauche er nach irgend jemandem in der Welt zu fragen. Nach ihm frage ja auch keiner. – Und damit kletterte Jason Gebert mühselig mit seinen lahmen Beinen aus dem Wagen. Aber Jason Gebert hatte eben den Fuß auf das Trittbrett gesetzt, als etwas ganz Wunderbares und ganz Seltsames sich ereignete. Etwas, was Jason Gebert sich nicht erklären konnte, soviel er auch später darüber nachsann. Es war wie ein Aufblitzen in ihm, ein plötzlicher weißer Schein, so wie wir ihn zu sehen glauben, wenn wir von Explosionen oder Kanonaden träumen und dann, vom Pulverblitz geblendet, auffahren, nur damit wir um uns alles grausig finster und knisternd still finden. Jason wußte gar nicht, wie er dazu kam. Er hatte nicht mit einem Gedanken an diesen Menschen gedacht, wirklich, den ganzen Tag nicht. Und plötzlich stand doch die greifbare Gewißheit vor ihm: Doktor Kößling, da oben in seiner einsamen Stube, hinten in der Neuen Friedrichstraße, der jetzt da herumirrt, hungrig und verzweifelt wie ein Tier im Käfig – Doktor Friedrich Kößling wird sich jetzt in dieser Stunde etwas antun. Und wie Jason das aussprach, zögernd, mit einem Fuß auf dem Trittbrett, da sagte er sich auch schon, daß es nicht wahr wäre, daß es nicht mehr als eine haltlose Idee von ihm wäre, eine Einbildung – daß der andere nicht daran dächte. Aber kaum daß er es sich zu widerlegen suchte, befiel ihn eine solche drückende Angst, eine solche innere Unruhe, daß es ihm ganz eng um die Brust wurde und der Hals ihm wie zugeschnürt war. Jason Gebert glaubte nicht an Fernwirkungen und Mesmerismus. Er war viel zu sehr Skeptiker, um an irgend etwas zu glauben. Aber er wollte Klarheit haben – Klarheit, was das war. So rief er dem Kutscher zu, er möchte ihn noch einmal die Königstraße hinauffahren, gleich oben hin nach der Neuen Friedrichstraße. Langsam zog der Kutscher, als wolle er dem Herrn Zeit lassen, sich anders zu entschließen, die Leine an, drehte langsam sein Handpferd und bog wieder schräg in die Königstraße ein. Jason Gebert aber saß da, weit vorgebeugt, hatte das Wagenfenster niedergelassen und blickte in die graue Nacht, die vom flackernden Schein der hüpfenden Gasflammen – ganz weit standen sie voneinander entfernt – nur trübe und unregelmäßig unterbrochen wurde. Von einer unerklärlichen Unruhe gepackt, starrte er hinaus, verfolgte jeden, der auftauchte und verschwand, mit den Blicken, ob es nicht Kößling wäre. Er wußte nicht, was ihn in diese Lage hineinzwang. Er kam sich vor wie ein Jäger auf dem Anstand, so spähte und lauschte er in die bewegte Dämmerung hinein, Erwartung in jedem Muskel. Da aber erblickte er ganz von ferne einen[[Anzahl]] grauen Schatten, er hörte den Klang von Schritten, und er fühlte am Rhythmus der Bewegung, daß das ein Gang war, den er kannte, und daß das ganz jemand anders war als der, den er hier suchte. Und plötzlich schien Jason Gebert all das, was eben mit ihm geschehen, so unheimlich, daß es ihm vor sich selbst graute. Und er schrie dem Kutscher: »Halt!«, und er sprang mit beiden Füßen hinaus – er vergaß ganz seine Schwäche und seine Unbehilflichkeit –, und er hinkte über die krachenden Wasserlachen, den Hut im Genick und den Spenzer weit offen. &&x »Jettchen! Um Himmels willen, Jettchen!« rief er. »Was ist?« Jettchen fuhr zurück und blieb stehen. Sie[[1]] war noch eben mit ihren Gedanken weit fort gewesen. »Ach, Onkel Jason«, sagte sie, sonst nichts, und lächelte so wie ein Kind, das man beim Naschen ertappt. Sie[[1]] war ganz rot von der Luft. Das sah Jason. Und sie lächelte, konnte noch lächeln. »Du wolltest zu mir?« »Vielleicht«, sagte Jettchen, »ich weiß nicht. Jedenfalls wollte ich fort.« »Dir hat's da oben bei der Hochzeit wohl auch nicht gefallen«, sagte Jason, und jetzt mußte er gleichfalls lächeln, »ebenso wie mir.« Und damit griff er nach Jettchens Hand, die den Mantel zuhielt, und streichelte sie leise, während durch die Tränen, die er im Auge hatte, die Gestalt vor ihm verschwamm. »Aber du wirst dich in deinen leichten Schuhen erkälten, du großes Kind, du«, meinte er dann. »Das ist kein Wetter zum Promenieren. So kannst du dich anziehen, wenn erst wieder im Charlottenburger Schloßgarten die Vögel singen. Komm, Jettchen, da drüben hält mein Wagen.« Jettchen schüttelte traurig den Kopf. Jason nahm wieder ihre Hand. »Sage mal, Jettchen, bin ich nicht immer, solange du denken kannst, auf deiner Seite gewesen? Und meinst du, ich bin nun mit einmal gegen dich? Komm, wir sprechen im Wagen. Denke nur, wenn uns hier jemand sieht ...« Jettchen ließ sich ruhig und ohne Widerstand von Onkel Jason führen. Beim Einsteigen stützte sie sich sogar schwer auf seine Schulter, während Jason Gebert dem Kutscher sagte, er möchte hier auf und nieder fahren und dann zu seiner Wohnung zurückkehren. Jason konnte nun Jettchens Gesicht nicht mehr sehen, denn sie hatte sich tief in den Fond des Wagens zurückgelehnt. Aber er spürte mit dem ganzen Körper ihre Nähe, und ihm kam mit einmal zum Bewußtsein, was ihm dieses Mädchen war – viel mehr, als er sich gestehen konnte. »Jettchen«, begann er endlich, »wollen wir nicht einmal als zwei vernünftige Menschen miteinander reden? Weißt du denn auch, Jettchen, was du getan hast, wenn du jetzt deinem Mann nach der Trauung davongehst?« Jettchen nickte nur; dann sprach sie, und jedes Wort rang sich von ihr los. »Ich kann nicht, Onkel Jason – ich kann nicht. Ich habe die ganzen Tage gewartet und gewartet – irgend etwas, habe ich gedacht, muß geschehen. Ich habe gefiebert und gebebt jede Sekunde. Ich habe immer gemeint, Onkel Salomon müsse es mir doch ansehen und zu mir sprechen. Und dann – dann hätte ich es gesagt, daß ich es nicht kann. Ich habe geglaubt von Minute zu Minute, es käme noch irgend etwas Unerwartetes, etwas, was man sich gar nicht ersinnen könnte. Aber plötzlich hatte man mir schon die Schlinge über den Hals geworfen, ich habe schreien wollen, ich habe nicht glauben wollen, daß es wahr sein kann. Und da bin ich – weißt du, Onkel ...« Jettchen beugte sich vor, und Jason sah Jettchens Gesicht, das vom Schein einer Laterne mit einer scharfen Lichtkante umzogen war, und wie ein rotblitzendes Juwel hing ihr eine Träne an der Wimper. Jason aber hatte das Gefühl, als müsse er diese Träne fortküssen. Denn in dem grenzenlosen Mitleid, das er für Jettchen empfand, flammte plötzlich etwas anderes auf, was er sich vordem nie eingestehen wollte und dessen er sich vordem nie bewußt war. Aber gerade deshalb ergriff er nur Jettchens Hand, und er hatte sie immer noch in der seinen, die schöne, fleischige Hand mit dem breiten Brillantring und dem Goldreif an dem schlanken Finger – Jason Gebert fühlte den neuen Goldreif –, immer noch in der seinen, als er schon geendet und als der Wagen, der sich hinten jenseits des Alexanderplatzes in einem Wirrnetz und einem Bergauf und Bergab halbdunkler, ausgestorbener Straßen verirrt und verfangen hatte, wieder neben den flammenden Kandelabern der Königsbrücke entlangratterte. Jason sprach lange, ruhig und klug. Zuerst von den Tatsachen, dann von den Aussichten. Jettchen wollte nicht zu ihrem Mann? Nein? Gut, damit müsse man sich abfinden. Zwingen könne sie niemand. Aber sie müsse auch wissen, daß das nun ihr Mann sei. Das Gericht habe nicht zum Scherz heute mittag sein Siegel darunter gedrückt. Der Herr Staat sei eine Person, die keine Sentiments kenne und nicht mit sich spaßen lasse. Er könne davon ein Lied singen, und das wäre ebenso schön wie der »wackere Lagienka«. Soweit er die Lage überschaue, wäre Jettchen völlig mittellos, und alles, was sie besäße, wäre von Salomon in die Hände ihres Mannes gelegt. Das würde Schwierigkeiten ergeben. Denn wenn Julius Jacoby sie auch wohl endlich losließe – er habe ja keine Macht, sie zu binden –, so glaube er den neuen Vetter genug zu kennen – vom Geld würde er sich nicht trennen. »Die Sache, liebes Jettchen, wird – das sehe ich jetzt schon – sehr schmutzig werden und viel Lärm geben. Wir müssen zusehen, daß wir in aller Stille auseinanderkommen. – Du liebst Doktor Kößling?« Jettchen nickte. »Ich will dich nicht fragen, wie du mit ihm stehst. Du bist ja Herrin deiner Entschließungen und längst alt genug, um alles vom Leben zu erfahren.« »Nein!« rief Jettchen, fuhr auf und umklammerte wie flehend Jasons Hände. »Glaube das doch nicht von mir, Onkel.« Jason lächelte, denn nicht ohne Absicht hatte er diesen Seitensprung getan, und fuhr dann freier fort: »In das Haus von Onkel Salomon kannst du nicht zurück, Jettchen, und selbst wenn man es dir freistellt, wirst du über kurz oder lang dort gerade das tun, was du nicht willst. Dafür kenne ich meine[[Besitz]] lieben Schwägerinnen viel zu gut. Überhaupt, das begreifst du wohl, hast du jetzt mit einemmal die ganze, aber auch die ganze brave Familie gegen dich. Da darfst du dich gar keinen Hoffnungen hingeben. Kein Mensch wird auf deiner Seite sein, und kein Mensch wird dich verstehen, vielleicht nicht einmal der, den's am nächsten angeht.« »Doch, doch«, rief Jettchen. »Und deshalb, meine[[Besitz]] Freundin« – Jason überhörte die Einwendung –, »wirst du vorerst bei mir bleiben. Ich werde dich unter meine[[Besitz]] Fittiche nehmen, du armes, verirrtes Küken, du. Wie eine Löwin ihr letztes Junges werde ich dich verteidigen. Aber – mache mir keine Dummheiten, Mädchen. Setze dich nicht damit ins Unrecht. Du brauchst die Sympathie der Leute. Du hast einen[[Anzahl]] Kampf angefangen, Jettchen, verstehst du – einen[[Anzahl]] Kampf, du konntest nicht anders. Ich sage nicht ein Wort dagegen. Ich will dir helfen. Aber – keine Dummheiten. Du bist jetzt nicht mehr Jettchen Gebert, sondern Frau Henriette Jacoby, die man überall unmöglich machen kann. Und dann, Jettchen, mußt du dir ja selbst sagen, daß null und null erst hundert ergibt, wenn eine Eins davorsteht. Solange sind die zusammen nur ein kümmerliches Nichts, das eben nicht auf die Dauer bestehen kann. Und nun, mein altes Mädel, reden wir von etwas anderem. Fürs erste also wohnst du bei mir. Alles andere findet sich. Paß auf, wie nett wir's uns machen werden, du mein kleines Hausmütterchen, du. Eigentlich freue ich mich doch recht, daß ich dich erwischt habe. Mir ist es nämlich eben ganz eigen gegangen, und wer weiß, was du sonst getan hättest – jedenfalls nichts Gutes. Denke nur, was du denen da oben allen, die doch nicht wissen, wo du hin bist – was du denen für einen[[Anzahl]] Schreck eingejagt hast!« So sprach Jason, lang und bedächtig, klug und doch sarkastisch, wie das so seine Art war. Jettchen saß ganz still dabei, und nach all der Angst und all der Unruhe, all der Kälte und Benommenheit der letzten Tage hatte sie hier in dem dunklen, weichen Wagen das erste Mal wieder das Gefühl von Wärme und Geborgensein, und sie sah halb erstaunt nach den blinzelnden Laternen, die da draußen vorübertanzten, während der Wagen leise und langsam weiterschwankte. Für den Augenblick hatte sie die Empfindung, als ob all das, was sie erlebt, ganz fern läge und als ob sie das gar nicht sei, die das getan, sondern irgendwer Fremdes. Dann aber drang wieder die ganze Ungewißheit ihrer Lage auf sie ein, und Jettchen schmiegte sich an Jason und umfaßte ihn mit ihren Armen und begann zu weinen, von tief auf zu schluchzen. Und unter Tränen sagte sie ihm, wie gut er zu ihr wäre, daß er sie nicht verließe, da doch keiner etwas von ihr wissen wolle. Aber Jason antwortete ihr, daß sie eine Närrin wäre und daß sie immer der Liebling von allen gewesen wäre und daß sie das auch bleiben würde. Sie[[1]] sollte nur sehen, sie würden es so nett zusammen haben. Und später würde sich alles für sie schon gut gestalten. Dafür wolle er sorgen – das verspreche er. So redete Jason. In seinem Innern aber klangen ganz andere Stimmen, die Trauer und Besorgnis kündeten. »Und ahnt denn Kößling, was du getan hast?« »Ich glaube nicht, Onkel, ich glaube es nicht.« »Soso«, meinte Jason, und er wiegte nachdenklich den Kopf. Er merkte gar nicht, daß der Wagen schon hielt. Dann aber kletterte er langsam zur Chaise hinaus, denn seine Füße waren müde geworden, und half Jettchen beim Aussteigen. Hell in der Dunkelheit der Sternennacht sah Jason sie vor sich stehen. Er hörte in der Finsternis das Knistern ihres Atlaskleides, und er spürte die Kühle ihrer freien Arme. Und im Augenblick kam ihm dabei die Erinnerung an so manches liebe Mal, da er hier einer Schönen aus dem Wagen geholfen; und lächeln mußte er über die seltsame Rolle, die er heute dabei spielte. Sie[[1]] zeigte ihm, daß er doch nun alt und abgetan war, während ihm irgendwie doch wieder dabei der Gedanke durch den Kopf schoß an den Mann aus der Bibel, der auszog, seines Vaters Eselin zu suchen, und statt ihrer ein Königreich fand. »So, nun führe ich meine[[Besitz]] Braut heim«, sagte Jason fast spöttisch, in jenem Ton, den er so liebte und von dem er glaubte, daß er seine eigentliche Meinung und seine eigentliche Stimmung ganz verbarg; und er küßte Jettchen mit einer gesucht altmodischen Bewegung die Hand. Dann öffnete er das schwere Haustor, ließ Jettchen den Vortritt und hinkte schnell wieder zum Wagen zurück: der Kutscher solle warten, er bekäme auch nachher ein gutes Biergeld. &&x Einen[[Anzahl]] Augenblick stand so Jettchen in der Dunkelheit allein in dem Vorflur, und sie war ihr lieb, die Stelle. Sie[[1]] wunderte sich über den Kreislauf, daß sie nun wieder hier wäre. Alles andere, die letzten drei Tage schienen verblaßt und verklungen, die Gedanken an Doktor Kößling, ihren Liebsten, kamen ihr zurück und mit ihnen wieder die Tränen, daß sie sich an die Wand lehnte und still in sich hineinschluchzte. So fand sie Jason; und scherzend, als sähe er es gar nicht, bot er ihr den Arm und geleitete sie vorsichtig die spärlich erleuchteten Treppen hinauf. Sie[[1]] erschienen so weit, unheimlich und spukhaft mit ihren geschweiften, geschnitzten Geländern, den breiten Stufen, den hohen, weißen Türen und dem schwarzen Nachthimmel, der mit vielen Sternen durch die riesigen, vielscheibigen Flurfenster hineinsah. Und als Jason oben schloß, flatterte das alte Fräulein Hörtel in ihrem geblümten Kleid wie ein Käuzchen vorbei. »Komm, Jettchen, du sollst hier vorne dein Reich bekommen, du altes Mädchen, du.« Damit öffnete Jason die Tür zum grünen Zimmer und ging zum Tisch, auf dem die Moderateurlampe stand. Er schlug mit seinem Taschenfeuerzeug Licht, das das Zimmer zuckend und unruhig durchflammte und riesige, unbestimmte Schatten warf. Aber Onkel Jason hatte noch nicht die Lampenglocke gehoben, als er die Empfindung hatte, es fiele hinter seinem Rücken ein schwerer Gegenstand dumpf zur Erde. Ohne sich zu wenden, rief er schrill nach Fräulein Hörtel. Als er sich dann umdrehte, lag Jettchen neben einem Stuhl auf der Erde. Sie[[1]] hatte sich vielleicht noch setzen wollen, hatte sich vielleicht auch niedergesetzt, aber plötzlich hatte ihre Willenskraft versagt, und sie war zusammengebrochen, war seitlich vom Stuhl geglitten. Fräulein Hörtel steckte erschrocken ihren alten Kopf durch die Türspalte. »Mein englisches Salz«, sagte Jason halblaut, »es steht auf der kleinen Spiegeltoilette.« Dann kniete er nieder, öffnete den schweren Mantel, daß Jettchen in ihrem weißen Atlaskleid auf der roten Innenseite des Mantels wie auf einem roten Teppich lag, und hielt der Ohnmächtigen das geschliffene Kristallfläschchen vors Gesicht. Als Jason aber – Jettchen lag wie tot und war weiß wie ihr Brautkleid – keine Veränderung an ihr gewahrte, schob er vorsichtig den einen[[Anzahl]] Arm unter ihren Rücken und den anderen unter ihre Knie, und ganz langsam und zitternd erhob er sich mit der schweren weißen Last und trug sie – die weiße Schleppe schleifte dabei über den Boden – zu seinem Bett. »Wir müssen das Kleid öffnen, Fräulein«, sagte er. Und während das alte Fräulein Hörtel, die noch nicht mit einem Wort ihr Erstaunen geäußert hatte, an Jettchens Taille herumbastelte, suchte Jason draußen unter den Weinflaschen nach dem Sillery, den er ja noch heute hatte trinken wollen. Da er aber die Schnur, die den Kork hielt, so schnell nicht lösen konnte, so schlug er der Flasche den Hals ab, daß ihm Wein und Schaum über die Hände sprudelten. Und er nahm einen[[Anzahl]] silbernen Löffel und lief wieder vor in das grüne Zimmer. Fräulein Hörtel hatte es Jettchen ein wenig frei gemacht, ihr auch das Haar gelockert, und Jettchens Brüste atmeten ganz leise unter den breiten weißen Spitzenbesätzen, und das goldene Medaillon bewegte sich ganz leise zwischen ihnen bei den Atemzügen. Die Augen aber waren noch immer geschlossen und der Mund fest zusammengepreßt. Und als Jason ihr den Kopf hob, um Jettchen – das Haupt in seinem Arm – mit dem Löffel den gelben, sprühenden Wein einzuflößen, und als nun in dem Gesicht die dunklen Augen wieder langsam zu sprechen begannen ... und als Jettchen, ganz von fern herkommend, Jason zuerst so fremd und scheu anblickte, bis sie mit langsamem Lächeln und dankbarem Staunen alles um sich wieder erkannte und sich ihre Lage wieder zurückrief – da spürte Jason Gebert zum ersten Mal, heute an diesem Abend, wie schön doch dieses Mädchen sei, von welcher seltenen und erlesenen Schönheit, zart und unergründlich, fremd und rätselhaft wie das Leben selbst. Und eine ganze Weile saß er so vor ihr und blickte sie an, nachdenklich lächelnd, ohne zu sprechen. Er fühlte den Reiz und die Fremdheit allen Frauenlebens, das neben uns ist und doch so unendlich fernbleibt, um das wir unser Lebtag kämpfen, und das wir doch nie erringen, ja, das selbst nicht unser wird, wenn wir es in den Armen halten. Und in Jason quoll zugleich ein Mitleid mit dieser Schönheit auf, deren Schicksal es war zu leiden, wie eben Schönheit leiden muß. Endlich aber, als Jettchens Augen wieder die alte Klarheit zurückgewonnen hatten, sprach Jason noch einmal zu ihr, daß alles gut werden würde, daß sie sich nur keine Gedanken machen sollte und daß sie fürs erste ruhig bei ihm bleiben sollte. Er würde für sie eintreten und für sie sorgen. Sie[[1]] solle jetzt hier nur ruhig liegen, ganz ruhig, und sich nicht regen. Fräulein Hörtel würde ihr Gesellschaft leisten. Da wäre noch Wein, und da wären Biskuits. Aber sie solle entschuldigen, er wolle sich nun auch zurückziehen, denn er sei sehr müde. Jettchen hatte nichts dawider. Die Anspannung und Erregung der letzten Tage, die ihre Kräfte gesteigert hatten, waren plötzlich gewichen, und es war zu einer Erschöpfung und zu einem Zusammenbruch ihrer Seele und ihres Körpers gekommen, die keiner erneuten Entschließung mehr fähig waren und nur ein weichmütiges Sehnen nach Ruhe und Auflösung noch kannten. So sah Jettchen statt jeder Antwort Onkel Jason nur tief und dankbar in die Augen, als er sich leise über sie neigte, um mit seinen Lippen ihre kühle, weiße Stirne zu streifen. Auf den Zehen zog sich Jason zurück und winkte dem alten Fräulein, sie dürfe nicht von Jettchens Seite, und sie solle ihr ab und zu noch einmal Champagner geben; die Tür aber sollte sie hinter ihm schließen, ganz leise, damit Jettchen nicht merke, daß er fortginge. Sehr vorsichtig schlich Jason im Halbdunkel das dämmrige Treppenhaus hinab und weckte unten den Kutscher, der auf seinem Bock eingenickt war. Er solle ihn wieder zurückfahren zur Hochzeit. Der Kutscher aber, der ein galantes Abenteuer hinter alldem vermutete, sagte nur: »{{Uff mir kön¬nen Se Häu¬ser bau'n, ick schweig' Ihnen wie't Jrab.}}« Als Jason vor der »Gesellschaft der Freunde« ausstieg, hörte er es schon brausen wie von einem Bienenschwarm. Zuerst war Tante Minchen darauf aufmerksam geworden, daß Jettchen fehlte, und da mochte sie schon eine ganze Weile fort sein. Denn, wie das so bei Festen geht, jeder feiert nur sich selbst, und niemand kümmert sich um den, den man eigentlich ehren will. »Wo ist doch Jettchen?« fragte Tante Minchen und sie zog mit ihrem langen Kometenschweif von Schleppkleid hier- und dorthin in den Saal und in die Nebenräume. »Ich hab sie eben noch gesprochen«, sagte das Fräulein mit den Pudellöckchen und verfestigte einen[[Anzahl]] Faden an ihrer Näharbeit. Julius Jacoby saß bei Onkel Naphtali und entwickelte ihm seine Tendenzen der Geschäftsführung. Rikchen war liebenswürdig gegen irgendwelche Gäste, die ihr gleichgültig waren, denn gerade gegen die muß man immer am liebenswürdigsten sein, weil sie »draußen« erzählen, und Rikchen hatte infolgedessen für Minchens Frage keine Zeit. Nur Ferdinand, der seit Vormittag nicht so recht nüchtern geworden war, lachte und rief ganz laut: »Jettchen wird rausgegangen sein – 'ne Braut ist sozusagen auch ä Mensch.« Und das hielt er, bescheiden in geistigen Dingen, wie er immer war, für den besten Witz, den er an diesem Tage gemacht hatte. Aber Tante Minchen gab sich damit nicht zufrieden und trieb weiter ihren Zickzackkurs. Diese und jene blickten auf und sahen dann einander fragend an. Wolfgang beteiligte sich am Suchen und steckte den Kopf hinter alle roten Vorhänge. Und die kleine Tante Minchen brachte so plötzlich eine seltsame Unruhe und Befangenheit in die Gesellschaft. Keiner wußte eigentlich recht, weshalb. »Was suchst du, Minchen?« fragte Salomon. »Ich seh Jettchen nich. Wo is se doch?« Salomon bekam einen[[Anzahl]] Schreck. Er winkte Ferdinand, und die Bewegung, mit der er Ferdinand winkte, machte, daß er im Augenblick vollkommen nüchtern wurde. »St, Ferdinand«, sagte Salomon, faßte seinen Bruder beim obersten Knopf seines Gilets (Weste) und zog ihn in eine Ecke des hohen Fensters. »St, Ferdinand!« Salomon wiegte den Kopf im Genick und sah sehr ernst aus seinen beiden Augen. »Jettchen – hm –, sie ist weg!« Salomon sagte kein Wort mehr, aber die beiden Brüder verstanden einander. »Ich werde mal nach der Wassertür gehen«, sagte Ferdinand, denn das Grundstück ging auch zu dem breiten, trägen Wasser der Spree hinaus. »Und Max soll den Türsteher fragen, ob jemand fortgegangen ist.« Drinnen begann die Musik den »Liebeszauber« zu spielen. Aber man lief hinein – sie sollte aufhören. Hannchen kam hinzu. »Wo willst'n hin, Ferdinand?« Aber in Ferdinand, dem rohen, derben Ferdinand, quoll plötzlich eine wilde Wut auf, wie er seine kleine, breite Frau in ihrer ganzen behäbigen Selbstgefälligkeit so vor sich stehen sah. In seinem Hirn, das sich sonst nie mit Gedanken abgab, die über Tag und Stunde und über die gröbsten Bedürfnisse des Genusses und des Erwerbs hinausgingen, dämmerte plötzlich, wenn auch unbestimmt und verschwommen, die Wahrheit und Möglichkeit der Zusammenhänge. Und all das, was sich hier ereignet hatte, und sein ganz wildes und verfehltes Leben dazu, begriff er plötzlich, fühlte es in seinen Wurzeln, ohne daß er dem Worte geben konnte. Nur eine Wut, eine haltlose Wut kam über ihn; und ohne zu bedenken, wo er war, ohne auf Ort und Stunde zu achten, schrie er laut in den Saal hinein, daß Jettchen fort wäre und daß er seine Hände in Unschuld wüsche. Sie[[1]] hätten es gewollt, nun hätten sie es ja. &&x Alles lief zusammen. Auch Julius, der ganz ernst und kleinlaut war, kam hinzu. »Nu, nu, regt euch nicht auf«, sagte er, »sie wird schon wiederkommen.« »Wenn se auf mich gehört hätten«, sagte Eli, den doch schon nicht mehr so recht etwas aus der Ruhe brachte, »dann wär das nich passiert. Ich weiß nich, frieher sind se immer alle zu mir gekommen; aber seitdem ich kein Geld mehr habe, meinen[[Meinung]] die Leit, ich hätt auch keinen Verstand mehr. Aber jedenfalls werd ich doch mal nach de Königstraße zum Herrn Viertelswachmann gehen, der kennt mich sogar sehr gut.« Onkel Naphtali aber mußte man mühsam erklären, was sich ereignet hatte. Als er es aber endlich begriffen hatte, sagte er nur: »E so – ich hab's kommen sehen. Se hat mer gleich nich gefallen. So is keine Braut!« Pinchen und Rosalie saßen umgefaßt in einer Ecke und weinten sich einander in die Augen und schluchzten ein Mal über das andere: »Die Schande! Die Schande! Unser armer Junge!« Auch Hannchen, die stets Lachen und Weinen in einem Sack hatte, war nun sogleich aufgelöst in Tränen und fuhr sich kreuz und quer mit dem Spitzentuch über ihr breites Kindergesicht. Daß so etwas in ihrer Familie passieren müßte! Solange wäre nun alles gut gewesen. Aber sie wisse schon, wo Jettchen hingelaufen wäre. Rikchen, die ganz weiß geworden war, meinte, das könne sie doch von Jettchen nicht glauben. Aber das Fräulein mit den Pudellöckchen sah, völlig eingewickelt in einen[[Anzahl]] alten bauschigen Flauschmantel, wieder zur Tür hinein. »Ich geh mal nach den Obstkähnen, Herr Gebert«, sagte sie. »Vielleicht hat sie da einer gesehen.« Julius Jacoby meinte, ob man nicht Jettchen hier durch Soldaten suchen lassen könnte; bei ihnen könnte man das. Aber Hannchen sagte immer bestimmter, sie wüßte, wo Jettchen zu finden sei, sie hätte das lange schon beobachtet; aber sie hätte nichts sagen wollen. Und wenn man Hannchen jetzt gefoltert hätte, sie hätte ihre Aussage nicht widerrufen. Sie[[1]] wüßte, was sie wüßte; sie wüßte es schon lange und hätte es vorher sagen können, wenn sie auch Jettchen für so niedrig und verderbt nicht gehalten hätte. Die Gäste bildeten Gruppen, und alle steckten die Köpfe zusammen wie Schafe beim Gewitter. Ferdinand kam zurück, er rief Salomon zu sich. Die Wassertür sei gottlob verschlossen gewesen. Der Türsteher hätte sich nicht vom Platz gerührt, und er hätte dabei nichts gesehen, gar nichts – sagte Max. Aber was er nicht sagte, weil er es nicht wußte, war, daß der Türsteher die ganze Zeit über oben bei den Dienstmädchen gewesen war, allwo er seinem kummervollen Leibe und Herzen neue Nahrung zugeführt hatte. Oder meinte einer, daß man von Amt und Gehalt eines Türstehers diesen Körperumfang gewinnen könnte? Ob man nicht alle Mädchen, die von Rikchen, Hannchen, Minchen, die Näherin, die Scheuerfrauen aus dem Geschäft, die im Hintergrund tafelten, ausschicken sollte, Jettchen zu suchen – schlug Minchen vor. »Man wäscht seine schmutzige Wäsche nicht vor fremden Leuten«, sagte Ferdinand so laut, daß es alle fremden Leute hören konnten. »Oder meinste, se werden nich schon so genug reden?« Julius Jacoby hatte einen[[Anzahl]] sehr roten Kopf bekommen und trippelte hin und her. »Wenn Jettchen nur nichts passiert ist«, sagte er jetzt. Einige Gäste rüsteten sich zum Gehen, denn sie verstanden eigentlich nicht, was sie hier noch sollten. Die Unruhe und Ungewißheit hielt sie noch am Ort. Ganz laut und ohne Rücksicht auf den Gastgeber besprachen sie den Vorfall. Das arme Mädchen! Man hätte es sich sagen können, daß das kein gutes Ende nähme. Sie[[1]] hätten schon deshalb nicht kommen wollen, und nur um nicht zu beleidigen, hätten sie nicht abgesagt. Aber man hätte es Salomon Gebert auch so zu verstehen gegeben ... Der Madam Spiro war vor Aufregung das Spitzenhäubchen ganz auf die linke Seite gerutscht, und sie lief umher, ratlos und hilflos, als ob sie irgendwelche Schuld träfe. Nur der brave Onkel Naphtali hatte ein kleines, dünnbeiniges Tischchen vor sich und trank in aller Ruhe seinen Kaffee; aber ohne Milch – vor sich hin summend wie eine Fliege in der Ofenecke. Er war nicht zufrieden: Erstens war mit der Trauung was passiert; den einen[[Anzahl]] Absatz hätte nicht der Geistliche, sondern Salomon sagen müssen. Bei ihm zu Hause käme so etwas nicht vor, des könnte man versichert sein. Zweitens hatte er dem Essen mißtraut. Denn er war ein wirklich frommer Mann. Und jetzt endlich war die junge Frau sogar nicht mal da. Lauter Ungelegenheiten! Eli kam wieder. Der Viertelswachmann wäre nicht zu Hause gewesen, aber er hätte bei ihm eine Botschaft hinterlassen. Das Fräulein mit den Pudellöckchen trat auch ein ganz außer Atem. Einer hätte jemand da langgehen sehen; aber die Beschreibung hätte wohl nicht auf Jettchen gepaßt. Und Max kam zurück und nach ihm Wolfgang, der, ohne einem etwas zu sagen, heruntergelaufen war, gleich so, wie er ging und stand, und der nun ganz durchgefroren war und nur so zitterte wie ein geschorenes Windspiel. Hannchen sagte, der Junge wolle sich wohl mit Gewalt krank machen, er könne sich ja den Tod holen – und das wäre es nicht wert. Und sie gab ihm eins gegen den Hinterkopf. Aber Madame Spiro brachte ihm eine Tasse heißen Kaffee, er solle sich mal aufwärmen. Der Junge kriegte vor Tränen nicht einen[[Anzahl]] Schluck hinunter. Und Salomon sagte, man müsse nun doch die Stadtwache benachrichtigen; und dann setzte er sich in eine Fensternische und nahm den Kopf zwischen beide Hände. Ferdinand meinte, man solle noch etwas warten, denn man liefere sich damit einfach der Öffentlichkeit aus, und tun könnte sie ja doch heute nichts mehr. Vielleicht wüßte Jason Rat. Man sollte einmal zu ihm schicken. Aber Salomon schüttelte nur traurig, mit müden Augen, den Kopf. »Lieber Ferdinand, lassen wir Jason aus dem Spiel dabei«, sagte er. »Was soll's ihm – er ist doch noch krank.« In Wahrheit fürchtete Salomon, seinen Bruder Jason jetzt wiederzusehen, denn jetzt wußte er, daß er trotz allem, was er getan hatte, trotz der vielen Tausende von Talern, die er für Jettchen hingegeben ... er recht schlecht für Jettchen gesorgt hatte, daß er ein Gut vergeudet und vertan hatte, das in seine Hände gelegt worden war. Ja, er wußte nicht, was er antworten sollte, wenn jener kam und ihm wortlos Rechenschaft abverlangte. Und auch jedesmal, wenn Salomon Elis Stimme hörte – und der alte Onkel Eli sprach heute sehr laut, denn er hatte seinen tauben Tag und war deswegen der Meinung, daß alle Welt schwer hörte –, jedesmal, wenn der alte Onkel Eli den Kopf schüttelte, daß der weiße Puder stäubte, und irgend jemand versicherte, daß sie es in » seine « Familie, bei »de Geberts«, von jeher alle immer »als mit de Liebe« hätten und daß er gleich gesagt hätte, zu solche Sachen wie die hier pflegt man nach fünfundzwanzig Jahre zu gratulieren; daß man aber leider nich auf ihn gehört hätte ... jedesmal, wenn Salomon Elis Stimme hörte, fuhr er zusammen, als ob gegen ihn eine Anklageschrift verlesen werden sollte. Rikchen und Hannchen hatten Julius umzingelt und redeten auf ihn ein. Rikchen sagte, er solle sich nicht erregen, Jettchen würde schon Vernunft annehmen: sie wisse das, sie kenne Jettchen, und sie verstehe sie. Aber Hannchen sprach nur von ihrem Verdacht. So würde es schon sein. Auch Naphtali sagte, daß er sich genau erinnere, daß mal »ä ähnliche Geschichte vorgekommen sei mit de geborene Reitzenstein«. Minchen aber ging überall umher und sagte immer dasselbe: Jettchen würde schon wiederkommen, sie könne das nicht glauben! Ferdinand eilte wieder zu Salomon. Man müsse Jason holen. Man müsse zu erfahren suchen, wo der andere wohne. Salomon sträubte sich. Er würde dazu nie und nimmer seine Zustimmung geben. Von Minute zu Minute wuchs die Unruhe. Jeder schlug etwas anderes vor. Jeder wollte den andern überstimmen und überschreien; und jeder dachte, je lauter er seiner Meinung Ausdruck gab, desto eher würde die Stimme in seinem Innern zur Ruhe gebracht werden, daß ja doch alles zwecklos wäre und daß sich Jettchen nur von der Tafel gestohlen hätte, um in dieser Welt nie wieder an ihr teilzunehmen. Denn so ist nun einmal der Mensch, daß er eine Gewißheit nie glauben will und sie nie sogleich in ihrer ganzen Bedeutung zu begreifen vermag. Immer wieder sträuben wir uns, unsere Hilflosigkeit den Tatsachen gegenüber einzugestehen. Und wir versuchen sie niederzureden wie einen[[Anzahl]] überlegenen Gegner, der uns mit seinen Gründen in die Enge treibt. Und deshalb sprach auch hier alles durcheinander. Jede Gruppe hatte ihren Sprecher, jede Meinung ihren Verteidiger; jeder Vorschlag wurde erwogen und bestritten, und keiner kam zur Ausführung. &&x Mitten in diesen Lärm und in dieses Gewoge und in das Hinundherlaufen und in die Unruhe von den vielen knisternden Schleppen hinkte Jason in den Saal hinein. Ruhig und ernst, mit seinen harten Zügen, die noch schärfer als sonst erschienen nach der Krankheit und nach der Erregung der letzten Stunde. Keiner achtete zuerst auf ihn, trotzdem Jason Gebert seinen grauen Spenzer nicht abgelegt hatte und seinen hohen, geradkrempigen braunen Zylinder in der Hand hielt. Denn jeder war mit sich selbst beschäftigt; und wer Jason etwa sah, dachte eben, man hätte ihn geholt oder er wäre nur fortgewesen und käme nun zurück. Jason ging auf Salomon zu, der vor einem Tischchen saß und den Kopf in die Hände gestützt hatte. »Nun, Salomon«, sagte er und berührte seinen Bruder an der Schulter, »was gibt es?« Salomon Gebert blickte auf und sah Jason fragend an. »Weißt du: Jettchen ist fort, Jason.« Jason zuckte nur mit den Schultern. »Das war zu erwarten«, meinte er. »Ich habe nicht geahnt, daß es so kommen würde«, sagte Salomon, und zwei dicke Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Willst du einen[[Anzahl]] Augenblick mit mir in das Zimmer gehen?« meinte Jason. »Bitte, ich hätte mit dir zu reden.« Und Salomon stand auf und folgte ihm in das kleine Zimmerchen, das am Flur lag. Alle blickten ihnen nach. »Jason weiß was«, meinte Minchen. »Laß ihn nur, er wird schon machen«, versetzte Eli, denn er hielt große Stücke auf seinen Neffen Jason Gebert. »Du, jetzt spricht Jason mit Salomon«, rief Hannchen. »Pst. Jason Gebert spricht mit ihm«, schwirrte es durch den Saal. »Nu, ich werd' wohl auch noch dabeisein dürfen«, rief Julius Jacoby. »Ich rat dir gut, bleib draußen«, meinte Rikchen. Und Jason sprach. Er sagte zuerst, daß Jettchen fort wäre. Man hätte sich hier wohl sehr um sie geängstigt. Wo sie wäre, meinte Salomon. »Bei ihm.« Salomon stutzte. Wie das käme? Ja, sie müsse hier fortgelaufen sein – weiß Gott, wo sie hin wollte –, kurz nachdem er gegangen. Durch einen[[Anzahl]] Zufall, durch ein Glück hätte er sie aufgegriffen. Mit aller Mühe und aller Überredung hätte er Jettchen in seine Wohnung gebracht, da wäre sie ihm aber ohnmächtig geworden, und er hätte sie in sein Bett gepackt. Ferdinand solle doch ja noch zu Stosch schicken, vielleicht sieht er noch heute nacht nach ihr. Salomon ging auf und ab. Er hatte den Kopf gesenkt und beide Hände an den Schläfen. »Ja, jetzt, jetzt läuft sie fort. Warum ist sie denn nicht eher gekommen? Bin ich denn ein Hund? Beiße ich denn – Was soll denn nun werden? – Was soll denn nun werden? – Kannst du mir das vielleicht sagen, Jason?« »Scheidung«, sagte Jason ganz kurz und trocken. Salomon hatte sich schnell erholt; er begann jetzt, die Angelegenheit sogleich wie ein Geschäft zu behandeln, zu dem man einen[[Anzahl]] klaren Kopf braucht, um nichts zu verprudeln. »Ja«, meinte er, »vielleicht ließe sich das so ordnen. Man muß zusehen.« Aber im Innern hoffte er schon, man würde es doch des lieben Friedens willen umgehen können. »Aber Jason, da kann man natürlich heute oder morgen nichts tun, und vor allem Julius muß da ...« »Nun«, meinte Jason, »jedenfalls ist sie doch in Sicherheit. Und das ist doch mir wie dir vorerst wohl die Hauptsache.« »Ja, warum soll ich es nicht sagen, ich hab mich wirklich sehr um Jettchen geängstigt; denn weißt du, sie ist doch gerade, als ob sie mein Kind wäre; und Rikchen – so hab ich sie überhaupt noch nicht gesehen, solange wir verheiratet sind!« »Na«, unterbrach Jason, und dieses »Na« klang sehr eindeutig, »das hätte sie sich ersparen können, denn die Rechnung deiner Frau hätte um ein Haar ein sehr schlimmes Resultat ergeben. Darüber sind wir uns doch wohl beide – wie wir hier stehen – vollkommen einig. Jedenfalls versprich mir nur das eine, Salomon, lassen wir den Dingen ruhig ihren Lauf. Vorerst ist und bleibt Jettchen bei mir, und in ein paar Tagen reden wir einmal darüber.« »Sie[[1]] kann ruhig zu uns zurück. Wir werden ihr nichts in den Weg legen.« »Das ist ja jetzt nicht so wichtig, lieber Salomon.« »Gewiß nicht«, sagte Salomon, und er hatte seine ganze alte Festigkeit wiedergewonnen. »Und meinst du, daß Jettchen mit dem andern ...« »Sie[[1]] hat mir nichts davon gesagt, ich weiß nichts«, versetzte Jason, und zwar in einem Ton, der hieß: Gewiß, mein Lieber, aber was geht es mich an? Doch Salomon hörte nur das, was er hören wollte. »Nun, desto besser«, sagte er und atmete auf. »Ja, dann wollen wir hineingehen.« Drinnen vor der Tür standen die Herren mit langen Hälsen, und die Damen mit ihren breiten schwarzen Atlasmiedern und den grauen Taftkleidern, in ihren silbrigen und hellroten, mattblauen und apfelfarbenen Glockenröcken, in den streifigen Krepproben – sie bildeten einen[[Anzahl]] dichten Wall hinter ihnen. Das mochte vielleicht unhöflich sein, denn den Damen gebührt der Vortritt; aber bei dem Ernst des Lebens pflegt gemeiniglich die Höflichkeit aufzuhören. »Nun, was bringt Jason?« rief Ferdinand ungeduldig. »Es ist gut«, entgegnete Salomon sehr würdig. »Was hat er gesagt?« fragte Eli; und als man dem alten, heute gerade besonders tauben Onkel Eli in die Ohren schrie, daß es »gut« wäre, nickte er nachdenklich und meinte: »Nu scheen! Aber wo ist Jettchen doch?« »Ja«, sagte Salomon, und er fühlte sich als Diplomat aus der Schule Metternichs, »es ist ihr jedenfalls nichts Ernstliches zugestoßen. Trotzdem, lieber Ferdinand, gehst du wohl noch mal bei Stosch vorüber, er möchte nachher nach Jettchen sehen.« »Wo ist sie denn?« fragte Tante Rikchen ganz hoch und schnell. »Jettchen ist bei mir«, sagte Jason sehr ruhig und fast galant, aber doch in einem Ton, als ob er dabei einem Gegner den Fehdehandschuh hinwerfe. »Sie[[1]] ist bei Jason! Das hab ich gewußt!« schrie Tante Hannchen und brach in Tränen aus. »Solche Schande, immer Jason!« »Hat man so etwas schon erlebt? Sie[[1]] heult wie ein Schloßhund«, polterte Ferdinand und schlug, da er keinen Tisch in seiner näheren Umgebung sah, an dem er seinen Unmut auslassen konnte, mit der Faust aufs Fensterbrett, daß die gewölbten Scheiben klirrten. Julius Jacoby fühlte sich unbehaglich, denn er sah, man nahm nicht seine Partei. »Jettchen ist krank?« sagte er endlich. »Da werd ich doch gleich zu ihr müssen.« »Es ist für Jettchen besser, Sie[[1]] lassen es«, sagte Salomon sehr förmlich, und Rikchen hörte nur das eine, daß ihr Mann jetzt wieder »Sie[[2]]« zu Julius sagte. »Gewiß«, sagte sie freundlich und drängte sich mit ihrer ganzen Fülle vor Julius, »lasse nur Jettchen heute ganz ruhig machen, was sie will. Sie[[1]] wird schon wieder zur Vernunft kommen.« Naphtali hatte bisher ganz ruhig zugehört und nur gesummt, wie das wohl so seine Art war, wenn er etwas überlegte. »Weißt du, Joel«, begann er endlich und packte Julius an der Krawattennadel, »da is mer ä sehr ähnlicher Fall bekannt, von der Familie Goldstein bei uns in Posen, un sie is nachher doch zu ihm gegangen, und se haben sogar sehr gut gelebt miteinander. – So was kann immer mal vorkommen.« »Die gemeine Person kommt mir nicht mehr über die Schwelle«, zeterte Hannchen. »So wahr ich hier stehe, für mich existiert sie nicht mehr.« »Ich verstehe Jettchen auch nicht«, wagte sich Jenny hervor, die sich bisher ganz verschüchtert in einen[[Anzahl]] Winkel geduckt hatte, »Julius ist doch so nett.« Pinchen und Rosalie aber weinten immer noch. »Die Schande, die Schande.« Sie[[1]] erklärten sich mit Julius solidarisch und sagten, daß Jettchen damit ihre ganze Familie beschimpft und beleidigt hätte. »Na, Gott sei Dank«, sagte Eli ganz vergnügt, »nu wären wir doch endlich soweit. Ich geh nach Hause.« Die kleine Tante Minchen aber puffte und puffte ihren alten Ehegemahl, er solle um Himmels willen nicht so was reden. Aber da kam sie schön an. »Warum nich?« rief Eli, der fühlte, daß er, seine Leute und seine Meinung jetzt das Oberwasser hatten. »Warum nich? Meinste, ich wer' mich hier genieren? Recht, ganz recht hat se. Se hätt's nur schon eher tun müssen. Das ist der Fehler.« Und dann ging Eli hinaus und kam gleich darauf mit seinem großen blauen Schirm in der Faust wieder herein, als Zeichen, daß er sich unweigerlich entschlossen habe, seine Zelte hier abzubrechen. »Nun, Minchen«, sagte er, »woran liegt's noch?« Salomon hatte jetzt auch ganz die Würde[[würdig]] des Gastgebers wiederbekommen und versicherte jedem, daß er den Zwischenfall von Herzen bedauere, Jettchen hätte wohl in der letzten Zeit durch alle die Vorbereitungen ihren Nerven zuviel zugemutet, und so wäre das zu erklären. Aber es hätte wohl nichts auf sich ... Und Rikchen unterstützte ihren Gatten darin und gab zugleich einen[[Anzahl]] heimlichen Wink, noch etwas Brötchen herumzureichen, und bat die Leute, doch noch etwas zu verweilen. Sie[[1]] würde schon morgen alles ins Lot bringen. Aber niemand wollte mehr nehmen, niemand mehr bleiben. Sie[[1]] sagten, sie wären ja auch sowieso jetzt gegangen. Nur das Fräulein mit den Pudellöckchen huschte noch umher und sah, ob sie sich Kuchen und Näschereien in den perlgeschmückten Strickbeutel – er war so groß wie ein kleiner Fußsack – stecken könnte. Denn sie hatte den Kindern, die bei ihr im Hause wohnten, fest versprochen, ihnen etwas von der Hochzeit mitzubringen. &&x Julius stand bei alledem mitten zwischen diesen Verabschiedungen und Komplimenten ganz hilf- und ratlos umher, und eigentlich kümmerte sich auch so keiner recht um ihn. Was sollte man ihm sagen? Davon hatte nämlich für den guten Vetter Julius Jacoby aus Bentschen nichts im Buch gestanden, und das war für ihn derart überraschend gekommen, daß er noch gar nicht recht fassen konnte, was denn eigentlich geschehen war. Bisher war ihm alles in diesem Leben immer geglückt, alles nach Wunsch und Willen gegangen, stets, wenn er sich mit dem einen[[Anzahl]] Chef entzweit hatte, hatte er wieder eine bessere Stelle gefunden. Und jetzt – kaum daß er nach Berlin gekommen war, so hatte er ein Geschäft, Geld, ein warmes Nest und eine schöne Frau ... und was für eine, eine berühmt schöne Frau bekommen. Er war fest davon überzeugt, daß er all das nur seinen ungewöhnlichen Gaben als Mensch und Kaufmann verdanke, und diese Erkenntnis hatte dem guten Vetter Julius seinen felsenfesten Glauben an sich selbst noch gestärkt und gefestigt, so daß dieser »Glaube an sich selbst« jetzt gleichsam sein ganzes Wesen durchtränkte und ihm, wenn man es so sagen darf, wieder aus allen Poren drang. In jeder Bewegung seiner kurzen, dicken Finger sprach er sich aus; er ließ sein Haar noch starrer und lustiger emporweisen denn ehedem, er gab seinem Hals und seinem Gesicht die lachende Röte von beleidigender Gesundheit; und seine kleinen schwarzen Jettknöpfe von Augen endlich machte er blitzen und blinkern, als ob sie jeden Morgen frisch geputzt würden. Ja, dieser Glaube ... gab dem Vetter Julius Jacoby sogar die Überzeugung von der bestechenden Anmut seiner Manieren, die ihm vordem doch nicht so ganz einwandfrei erschienen waren, und er pflanzte in ihn die Erkenntnis von der Überlegenheit seiner Bildung und seines Geistes. Nun hielt er sich für liebenswürdig und gefällig genug, um jedes Erfolges bei den Frauen sicher zu sein, und er pries in seinem Innern eigentlich die, die so glücklich wäre, ihre Gunst an solch einen[[Anzahl]], wie er es war, auf die Dauer zu verschenken und sich dadurch zur beneideten Rivalin aller derer zu machen, die sich nur begnügen durften, ihn von fern anzuschauen. Und all das, was er zu bieten hatte! – War er vielleicht nicht der Mann, eine Frau glücklich zu machen? – Das war mißachtet worden, einfach weggeworfen, mit Füßen getreten worden. Und zwar war es so plötzlich gekommen, so überraschend, so ganz aus heiler Haut, daß es dem guten Vetter Julius beinahe den Atem versetzt hatte und er ordentlich nach Luft schnappen mußte, wie ein Karpfen, den man aus dem Wasser nimmt. Nur eines sah er bis jetzt ganz deutlich vor sich: Er müßte verzeihen. Auch sagte er sich in ruhigen Augenblicken – und er hatte als gewitzter Kaufmann Erfahrung darin –, es käme oft vor, daß ein Käufer oder ein Verkäufer noch im letzten Moment scheinbar zurückschnappe, während der Handel zum Schluß trotzdem zustande käme. Aber selbst diese Gedanken benahmen ihm nicht seine Zweifel und ernstlichen Bedenken; und besonders war es noch ein dumpfes Gefühl, daß es sich doch eigentlich für ihn um mehr und um Höheres drehte, nämlich um sein »Geschäft«. Und um das würde er kämpfen. Denn wenn ihm das Glück endlich einmal einen[[Anzahl]] Schimmel zwischen die Knie gespielt hätte, so würde er auch im Sattel bleiben und reiten – und wenn das Vieh darüber an Gurgelschwindsucht verrecken sollte. Jason sprach noch ein paar Worte mit Salomon und hinkte hinaus, denn er meinte, daß er müde wäre, und hier wäre ja auch seine Mission erledigt. Von den Gästen hatte eigentlich keiner recht das Wort an Jason gerichtet; denn die Art, wie er auftrat, machte, daß man eine geheime Scheu vor ihm empfand. Und einer nach dem anderen bedankte sich nun bei Salomon und Rikchen und sagte, daß es sehr hübsch gewesen wäre – was man ja auch, abgesehen von dem einen[[Anzahl]] kleinen Zwischenfall, wohl behaupten konnte. Julius lief dabei auf und ab wie der große Löwe beim Tierbändiger Martin, und Hannchen blieb in einem Reden, ließ keinen Menschen zu Worte kommen, sie überschwemmte alles mit ihrem Geschwabbel: Sie[[1]] fand das unerhört; für sie existierte die Person nicht mehr und für ihren Mann und ihre Kinder auch nicht. Sie[[1]] wisse schon, wie das zusammenhinge, wolle aber schweigen, weil ihre Kinder da wären, sonst würde sie mehr sagen. Rikchen war auch sehr mißgestimmt, ließ sich aber nichts merken, sondern plinkte ihrer Schwester nur zu, sie solle doch stille sein, sie gösse ja Öl ins Feuer, und man wüsche seine schmutzige Wäsche nicht vor den Leuten. Aber das brave Hannchen ließ sich das nicht anfechten, denn sie hätte eben nicht sie selbst sein müssen, wenn sie diese Gelegenheit, ihre besten Gaben zu zeigen und gleichsam in bengalischer Beleuchtung dazustehen, unbenutzt hätte vorübergehen lassen. Rikchen wußte schon, weswegen sie still war. Sie[[1]] kannte diese Geberts ... nur nicht aufputschen! Morgen würde ja alles von selbst anders aussehen. Minchen und Onkel Eli waren gegangen, und Eli hatte Minchen noch ein Schaltuch umgebunden über die schwere graue Enveloppe, denn Minchen hätte sich echauffiert und könne sich sonst leicht verkühlen. Der alte Onkel Naphtali aber fand nun keinen Grund mehr, kein Brötchen zu essen, und er hatte sich – da auch die vorgeschriebene Frist verstrichen war und sich die ganze Angelegenheit ja, wie er hörte, in höchst friedlicher Form gelöst hatte – einige davon gesichert und sich mit ihnen an einen[[Anzahl]] bescheidenen Fensterplatz zurückgezogen. Er sah nicht ein, warum man das nicht tun sollte, es gehörte doch sicherlich mit zum Kuvert. Mit dem letzten Bissen im Munde jedoch erhob sich nun der alte Onkel Naphtali aus Bentschen in seinem braunen Rock und ging mimmelnd auf die wenigen Gäste zu, die zwecklos umherstanden und sich nicht so recht darüber klarwerden konnten, warum sie eigentlich noch hier waren. Einzig das Bedürfnis, miteinander zu sprechen, hielt sie zusammen. »Weißt du, Joel«, sagte Naphtali bedächtig, »ich hab mir die Sache reiflich überlegt. Ich hab doch nun schon die teure Reise gemacht, und das Gasthaus kost't auch e Stange Gold ... Jetzt hast du doch de große Wohnung für dich ganz solo, mit e Masse Platz drin; allein wirste auch sein ... weißte was: Da könnt ich doch eigentlich solange bei dir wohnen.« Salomon Gebert, der sich ermüdet für einen[[Anzahl]] Augenblick hingesetzt hatte, sprang auf: »Ich geh nach Hause, Rikchen«, sagte er ganz kurz und kniff dabei die Lippen zusammen; dann schlug er die Tür der Garderobe hinter sich zu, daß es wie ein Böllerschuß durch den Saal knallte. Tante Rikchen eilte ihm nach, so schnell es ihre fette Umfänglichkeit und ihr schweres taubengraues Moirékleid, das lang hinschleppte, nur zuließen. Eine ganze Weile stand der Onkel Naphtali, der Senior aller Jacobys, mit offenem Mund da. »Verstehst du, Joel, was der Mann will?« meinte er endlich kopfschüttelnd. »Ich nicht!« Hannchen sagte auch, daß man so Gäste nicht behandeln dürfe; und es war niemand da, ihr darin zu widersprechen, denn ihr Gemahl war auch schon gegangen, wer weiß, wohin? Und die Jacobys waren nunmehr ganz unter sich – keine fremde Nase. Pinchen und Rosalie machten sich um Julius zu schaffen, ihren Bruder, der ihnen ein und alles war, und drangen in ihn, er möchte, er solle, er müsse notwendig noch etwas zu sich nehmen, er könnte sonst »Gott behüte« krank werden bei all der Aufregung, die er gehabt hätte. Auf der Treppe war es Jason eingefallen, daß er nun noch einen[[Anzahl]] Weg hätte, aber den wollte er sich auf morgen versparen. Dann jedoch dachte er wieder, es wäre vielleicht richtig und besser, er täte ihn heute, täte ihn gleich. Und Jason lehnte sich wieder in den Wagen zurück und schloß die Augen und folgte den roten und tiefblauen, feuergelben und schwefligen Mustern und Sternen, die ihm das erregte Blut auf den schwarzen Grund seiner Nacht malte gleich bunten, wechselnden Vorhängen, die vor zwei dunklen Höhlen ausgespannt sind. Gewiß, er hatte durchgesetzt, was er wollte, aber wie war er müde, zum Umsinken müde. Und wie war er hoffnungslos! Denn ob das, was er selbst verteidigte und zu seiner Sache gemacht hatte, das Spiel verlöre oder gewänne, er selbst, Jason Gebert, hatte dabei immer verloren. Das fühlte er, und das war es, was ihn so traurig stimmte. – Ob er Kößling treffen würde? Spät war's noch nicht; es war kaum neun Uhr. Zu Hause würde er sein. Denn heute wäre ein Tag, wo man zu Hause bliebe, so einer wie er ... auch solch Einsamer und Eigenbrötler, ganz allein und knurrig zu Haus wie ein Hamster in seinem Bau. &&x Das waren seltsame Tage für Doktor Kößling gewesen, die drei letzten Tage. Alle Stunden hatten ihre Bedeutung verloren, Lichtzeit und Nachtzeit verkehrten sich, das Wachen war Schlaf und das Schlafen Wachen geworden. Denn sein Tag war Träumen – und die Träume waren taghell. Kößling war auf die Bibliothek gegangen, ohne zu wissen, wie er hingelangte; und er hatte dort seine Arbeit getan, ohne daß er ein Buch recht vor Augen gesehen. Er war zurück über die Plätze geirrt, am Wasser entlang, den Blick auf den Schloßbau, über dem die Wolken wie Gespenster jagten, und dann hatte er sich hineinverloren in die Straßen, zweck- und ziellos, ihrem Netzwerk folgend. Er ertappte sich, wie er in der Post durch die langen grauen Labyrinthe der Gänge irrte, ohne daß er sich sagen konnte, was er dort wolle; und er fand sich immer wieder an jenem Ausgang nach der Spandauer Straße, wie er auch seine Wege geführt hatte. Und dann blieb er eine Weile aufatmend stehen, gleichsam, als müsse er Mut sammeln, ehe er in diesen Wirbel von engen Straßen untertauchte, ehe er die alten steinernen Brücken wieder zu sehen wagte, die engen, dampfenden Kanäle, die sich zwischen Häuserzügen plötzlich und rätselhaft verloren. Da irrte er so dahin. Er wußte es gar nicht, welche Kirche es war, deren Turm in den Wolkendunst ragte, oder ob jener Orgelton, den er empfand, nun von den Baumzweigen herrührte, die in irgendeinem Fleck Garten der Wind gegen eine Mauer peitschte; ob er oben aus dem offenen Dach der Gerbereien durch die Luft klang oder ... ob es ihm nur so im Blut brauste. Vor irgendeinem Fenster stand er dann wieder, bis das Gesicht, das er dort hinter den Scheiben erblühen sah, verschwamm und sich in Nichts löste. Und dann sagte er sich, daß es unmöglich wäre, daß er mit wachen Augen träumen müsse, da Jettchen sicher nicht hier sei und auch hier nicht wohne. Aber er hatte sie doch soeben deutlich, ganz deutlich erkannt. Denn das, was nur noch über seinem Sein gelegen hatte, so wie der Abendwind im Frühling immer über den Seen liegt, kaum sichtbar, nur daß die blanke Fläche leise zittert und die Helligkeit des Himmels heller spiegelt – dieses Frühlingserlebnis Jettchen Gebert, das ihn einmal ganz durchleuchtet und durchglüht hatte, das ihn dann geschmerzt und das ihn endlich wieder und wieder mit weichen Händen der Erinnerung gestreichelt hatte, so daß auch der verklingende Schmerz anfing, ihm wohlzutun ... dieses Frühlingserlebnis Jettchen Gebert war für ihn nun wiedergekehrt; aber nicht als umschmeichelnder Abendwind, sondern als Herbststurm, der die Wasser aufrührt und brausen macht und die Strudel umherjagt, der keinen Nachen eines Gedankens, einer klaren Empfindung auf ihrem Rücken duldet, sondern ihn sofort mit Wellen überschüttet, überschlägt, anfüllt und zum Sinken bringt. – Nichts ist mehr da, kein Bild des Himmels, kein Ziel, kein Ufer, nur die Seele und der Sturm. Er wollte ... ach, was wollte er nicht; aber jeder Plan zerrann ihm sofort, quoll auf, wurde zur Wahrheit, zum Erleben, ging ins Unmögliche über. Und Kößling zitterte dabei vor Hitze und innerer Erregung, während sich doch der Wind in seinen Mantel setzte und die nasse Kälte des Novembers ihm bis auf die Haut drang. Einmal hatte er sich sogar vor Jettchens Haustür gefunden, und er hatte die harte eiserne Klinke in der Hand gefühlt, aber dann rasselte im Hause irgend etwas, als ob eine Kiste umgelegt würde, und er war fortgestürzt, immer weiter – sinnlos und ziellos, so wie Kinder laufen, wenn sie heimlich an einer Klingel gezogen haben. Und eine Nacht brauste heran, mit schwarzen Flügelschlägen, und sie hob erst spät ihre Schatten von den Straßen und von den Häusern; und ein kurzer Tag folgte, so kurz, so trübe, daß es schien, als ob durch den Tag sich die beiden Nächte, die ihn umschlossen, die Arme entgegenstreckten und einander suchten. Dann aber kam ein Wirbel, ein Taumel über ihn, er wußte nicht, ob er lief, ob er lag oder stand, es war ihm, als ob die Zeit aufgehört hatte, Zeit zu sein. Sie[[1]] stand fest, als wäre sie gefroren. Kößling war in die Bibliothek gelaufen, und er war, ohne sich zu entschuldigen, wieder fortgestürzt, mitten aus der Arbeit heraus. Und als er wieder daheim war, da hatte es ihn emporgezwungen, und er hatte auf und ab gehen müssen – immer auf und ab, es war ihm, als ob ein Toter irgendwo im Zimmer läge, und er hatte ab und zu ganz heimlich nach seinem Bett hinübergeblickt, zu dieser alten, feindlichen Burg von Bett, die da so trotzig und unheimlich mit ihren grünen Gardinen im Zimmer stand und sich seit Jahrzehnten anscheinend nicht gerückt und gerührt hatte. So unbehaglich und trotzig war Kößling all das noch nie erschienen, und doch zwang ihn eine innere Angst immer wieder in das Zimmer hinein, und jedesmal, wenn er fortstürzen wollte, war es ihm, als ob er heute, gerade heute, hierbleiben müsse. Er schmiedete an Plänen für die Zukunft. Wie er sich Jettchen nähern könnte, und gleich danach beschloß er, sie nie wiederzusehen. Er hatte die Empfindung, als ob eine Riesenhand sich langsam, ganz langsam nach ihm ausstreckte, und sein Herz schlug wie das eines verängstigten Vogels, der schon den eisernen Griff spürt, dem er nicht mehr entfliehen kann. Die Süße seines Traums hatte sich in Bitterkeit verwandelt, und während ihn erst gegen Jettchen eine nie gekannte Dankbarkeit erfüllte, die ihn warm werden ließ und ihm Tränen in die Augen trieb, wenn er nur ihren Namen vor sich hin sprach, so veränderte sie sich, während er so rastlos einherging, in Zorn, Ungerechtigkeit und Haß. Wofür sollte er Jettchen auch dankbar sein? In seinem Leben hatte noch nie eine Frau eine Rolle gespielt, nicht einmal Mutter und Schwester. Nie hatte eine Frau ihn gefördert. Nie ihn vom Ziel abgebracht. Seine ganzen Jahre waren hart und männlich und einsam gewesen, und er hatte diese Härte und Einsamkeit geliebt, trotz aller Qualen, die sie ihm bereiteten. Nun zitterte es in ihm von Haß und Ungerechtigkeit gegen die, welche sie gefährdete und seine Gedanken zu sich zwang. Aber dann kamen doch immer wieder mit Tränen die heißen Wellen seiner Zuneigung und überschütteten und begruben die harten Gedanken. Und der Tag schwand; die kahlen Wipfel der Rüstern und Pappeln hinten am Graben klagten in der Dämmerung, wenn sie der Wind schüttelte, bis zu Kößling herüber. Heimlich und vorsichtig streckte die Nacht ihre schwarzen Hände nach den Dächern und Schornsteinen, nach den Figuren auf der Kolonnade und wischte alles, eines nach dem anderen, aus. Und sie griff zugleich hinein in das Zimmer und breitete schwarze Gazeschleier in den Winkeln aus, hüllte sie um das Bett und den Lehnstuhl, nagelte sie über die paar Bilder, die Lithographie der Sonntag als Rezia und über die paar Silhouetten der längst verschollenen Studienfreunde ... diese schwarzen, dichtgewebten, freudlosen Gazetücher. Und nur jenen Flecken auf der Diele ließ die Nacht noch unberührt, das kurze Stück, auf dem Kößling auf und ab schritt, immer wieder rastlos hin und her. Aber auch hiervon nahm die Nacht Zoll für Zoll und breitete darauf ihre dumpfen Teppiche. Und mit der Dunkelheit kam über Kößling selbst durch das Frösteln im kalten Zimmer die Schwüle sinnlicher Vorstellungen und der Haß und Ekel gegen den, den er nicht kannte, diesen kleinen, feisten Menschen, an dem er nur einmal auf der Straße vorübergegangen und der nun das ganz besaß, was ihm das einzige auf dieser Welt erschien, und der sich den Besitz erzwungen hatte, den er sich nicht einmal in seinen Träumen gönnte. Und das erste Mal tauchten vor Kößling wie rote, feurige Kugeln in der Dunkelheit die Gedanken der Selbstvernichtung auf, die gierige Sehnsucht, ein Ende zu machen; Gedanken, die ihn nicht mehr völlig verlassen sollten, die er erst haßte und mit denen er sich dann aussöhnte, um sie endlich fast liebzugewinnen. – Noch waren sie ganz fern; aber schon leuchteten sie grell und schreckhaft, so daß Kößling vor ihrem Glanz sein Gesicht gegen das schwarze, kalte Wachstuch des Lehnstuhls pressen mußte. Und die Stunden tropften hin, eine zur anderen, müde und nutzlos in frostiger Dunkelheit, schwankend zwischen Klagen, Sehnsucht, Beteuerungen und Vorwürfen; bis Kößling endlich von seinem Stuhl sich hochriß, weil er draußen jemanden sprechen hörte. Jason Geberts Stimme! – Der Schrecken packte Kößling, daß er die Tür aufriß und ihm entgegenschrie, was es gäbe. Denn Jason Gebert, das wußte Doktor Kößling, war nicht der Mann, der ohne Grund zu jemandem ging – und vor allem noch jetzt, nach seiner Krankheit und an einem Tage wie dem heutigen. Aber Jason Gebert beachtete die Frage nicht. »Nun«, sagte er, »Sie[[1]] sind im Dunkeln, Doktor!« »Ja«, meinte Kößling, »was soll man? Wünschen Sie[[1]], daß ich Licht mache?« »Wie Sie[[1]] wollen, Doktor.« Das hieß, »ich bitte«. Und Kößling tastete an seinem Bett herum und entzündete auf dem hohen, glatten Zinnleuchter die Kerze, die knisterte und sprühte und unruhige Lichter und große Schatten im Zimmer umherjagte. »Die Lampe kommt gleich«, meinte Kößling und seufzte. »Das ist nicht nötig«, sagte Jason. Er war an den Tisch gehinkt, der am Fenster stand, und blätterte, wie das seine Art war, in einem der Bücher, aber er konnte den Titel nicht entziffern. Wie kalt das hier war und wie ungemütlich! War denn überhaupt ein Ofen im Zimmer? &&x Eine ganze Weile blickte Jason Gebert in das Buch. »Es sind wohl die ›Unterhaltungen mit einer Heiligen‹?« sagte Kößling. »Ach ja«, sagte Jason, als besänne er sich, wo er war, und blickte Kößling über den Rand des Buches scharf an mit seinen grauen Augen, die so hart und ernst sein konnten. »Ach ja ... aber Sie[[1]] wollten den Christian Garve für mich suchen; wissen Sie[[1]], ›Gesellschaft und Einsamkeit‹« »Ich bin in diesen Tagen wirklich nicht dazu gekommen«, meinte Kößling müde. »Ich verstehe«, sagte Jason. » Meine[[Besitz]] Nichte Jettchen hat heute geheiratet.« Kößling biß sich auf die Lippen, senkte den Kopf und wiegte ihn ein paarmal. »Ich weiß«, sagte er und kämpfte mit den Tränen. Jason war auf Kößling zugehinkt, der da an der kahlen Wand beim flackernden Licht auf einem der dünnbeinigen Stühle saß, ganz weit vorgebeugt, die Hände auf den Knien. »Mann«, schrie er und schlug Kößling auf die Schulter, »Doktor«, schrie er und schüttelte ihn, »wenn ich Sie[[1]] wäre – ich wüßte ja nicht, was ich täte!« Kößling blickte ihn verständnislos an. »Ich wüßte schon«, sagte er; aber Jason ließ ihn nicht los. »Mann, wenn ich Sie[[1]] wäre«, schrie er wieder, »so alles vor sich haben; aber Sie[[1]] sind das ja nicht wert! Kein Mensch ist das wert! Wer sind Sie[[1]] denn, daß man Ihretwegen so etwas tut? Oder wenn es nicht Ihretwegen geschehen ist – auch dann? Wer sind Sie[[1]]? Doch nur ein ganz netter Junge, wie es Hunderte gibt!« Kößling sah Jason Gebert an, ohne sich zu rühren. Was hatte Jason Gebert nur, daß er so alles vergaß, sogar seine spöttische Überlegenheit? »Und seit Stunden bin ich in einer Erregung, ich spiele mit den Fäden wie der Puppenspieler Richter; Herrgott, was habe ich alles getan und für wen?« Durch Kößlings Gesicht ging ein fragendes Leuchten. »Was ist?« » Meine[[Besitz]] Nichte hat geheiratet.« Kößling sank wieder zusammen. »Das weiß ich«, sagte er. Aber da schüttelt ihn Jason Gebert, er kam ihm ganz nahe. »Was ... Sie[[1]] wissen, Doktor? Gar nichts, gar nichts wissen Sie[[1]]! Wissen Sie[[1]], daß meine[[Besitz]] Nichte fortgelaufen ist, von der Hochzeitstafel fort? – Ja? – Wissen Sie[[1]], daß ich sie gefunden habe? Wissen Sie[[1]], daß sie jetzt bei mir ist, in meinem Hause? Oben in meinem Zimmer? Und daß sie nicht zu ihrem Mann gehen wird, nie und nimmer? – Ja? – Wissen Sie[[1]] das?« Kößling war aufgesprungen, er hätte beinahe Jason Gebert umgerissen. Er wollte das nicht glauben, es wäre nicht wahr! Es wäre unmöglich! Er könnte es gar nicht fassen. Jason Gebert ahne ja gar nicht, was das für ihn bedeute; er hätte plötzlich das Gefühl von ungeheuren Weiten, so hell, daß das Licht ihn taumeln mache, so hell, daß er fast lichtblind würde! Er wolle zu ihr, er müsse sie sofort sprechen, ihr alles sagen. »Sie[[1]] irren, Doktor«, sagte Jason Gebert und richtete sich steil auf. Jetzt war er wieder ganz er selbst, und er mußte lächeln. »Sie[[1]] irren, Doktor, meine[[Besitz]] Nichte empfängt jetzt nicht. Ich bitte Sie[[1]] – wie es in der Diplomatensprache heißt –, all diese Mitteilungen diskret zu behandeln. Ich wollte Sie[[1]] nur ganz vertraulich von den Ereignissen in Kenntnis setzen. Was Sie[[1]] daraus folgern wollen, ist Ihre Sache. Ich vertrete Ihre Interessen nicht, sondern nur die meiner Nichte – und, doch das können Sie[[1]] nicht verstehen, auch in gewissem Sinne die der Geberts. Ich kann auch deshalb nicht Ihre Partei ergreifen, ich nehme nur die Partei meiner Nichte. Und wenn ich Ihnen damit endlich auch nützen sollte ... nun gut, mein Freund, so kann ich es eben nicht hindern. Aber, aber, Kößling, das eine sage ich Ihnen schon jetzt, es wird schwerhalten ... schwer ... sehr schwer!« Und Jason erzählte von seinen Zweifeln und Bedenken, wie er alles daransetzen wollte, daß Jettchen nicht zu ihrem Manne ginge und daß sie, wie sie gerichtlich getraut waren, nun auch gerichtlich getrennt würden, und wie das heute so einfach und klar erschiene und so sicher und so aussichtsreich; wie er aber glaube, daß schon morgen alles ein ganz anderes Gesicht hätte. Jettchen sei dem nicht gewachsen, und er fürchte weiter schlimme Zeiten für sie. Es kämen noch materielle Dinge hinzu, über die er hier nicht reden wolle. Jason war indessen wieder an den Tisch, an das Fenster getreten und sprach und sprach in die Dunkelheit hinaus. Hinten in den Straßenzügen flackerten die Lichtscheine zwischen den Dächern unbestimmt in die Nacht hinein. Die kahlen Baumwipfel drüben hatten sich noch nicht ganz verloren, schwarz hoben sie sich vom schwarzen Himmel. Ein paar tiefe Sterne blinkten durch das Netzwerk ihrer Äste, und über ihnen stieg die ganze hohe Nacht empor, blank ausgestirnt, kalt und unerbittlich herzlos. Jason preßte die Stirn gegen die Scheiben, während er weitersprach und all seine Bekümmernis in die frostige Dunkelheit hinausredete. Hinter ihm im halb erleuchteten Zimmer knisterte und zuckte dabei das Licht der gelben Kerze und zitterte über die kahlen Wände hin, und durch den stillen Raum vernahm Jason die langen Schritte Kößlings auf den knarrenden Dielen. Kößling achtete in seiner Erregung kaum auf das, was Jason Gebert zu ihm sprach. Er wiederholte sich nur immer wieder das eine, daß nun doch nichts, noch gar nichts verloren sei und daß er sich umsonst abgeängstigt habe und daß er zu Jettchen müsse, um alles Unrecht, welches er ihr in Gedanken angetan, vor ihr wiedergutzumachen. Er war stolz auf sie, aber zugleich peinigte ihn die Furcht, daß sie nun krank sei. Doch was wog diese Furcht gegen die tiefe Lust am Leben, die ihn plötzlich durchflammte, so unerhört und berauschend, daß es ihm in allen Muskeln zuckte, sich auszurasen, bis er vor Müdigkeit niedersänke. »Nun«, sagte Jason, wandte sich und ergriff seinen Hut – den breiten Spenzer hatte er nicht abgelegt –, »nun, lieber Freund, mein Wagen wartet unten. Vielleicht sehe ich Sie[[1]] bald einmal bei Drucker; oder treffen wir uns lieber bei Stehely in der Nachmittagsstunde?« Kößling erschrak. »Und den Christian Garve?« »Ich hole ihn mir einmal von Ihnen, Doktor«, sagte Jason und ging grüßend an Kößling vorüber. Kößling nahm das Licht, um dem anderen zu leuchten, und schritt hinter ihm her die schmale Stiege hinab. Noch an der Haustür trug er Jason Grüße auf. Morgen früh würde er selbst kommen. »Lieber Doktor«, sagte Jason, während er schon den Wagenschlag in der Hand hielt, »die Grüße werde ich gern ausrichten, ich vergesse es nicht. Wissen Sie[[1]], Doktor, die beiden zartesten Worte, die die Menschheit je ersonnen hat, meine[[Meinung]] ich immer, sie sind ›grüßen‹ und ›sehnen‹. Aber – hm – darf ich Sie[[1]] bitten, mich nicht zu besuchen.« Kößling wurde rot bis in die Haarwurzeln und zitterte, daß das Licht fast verlöschte. »Nicht, lieber Doktor, daß ich Sie[[1]] nicht bei mir haben will; aber Sie[[1]] wissen nicht, wie die Dinge liegen. Frau Jacoby durfte ich bei mir aufnehmen – ihren Liebhaber darf ich nicht bei mir empfangen, verstehen Sie[[1]]? Wenigstens nicht jetzt; aber wir sehen uns ja so ...« Und damit lehnte sich Jason in die Polster seines Wagens zurück und schloß müde die Augen. War das ein Tag gewesen! Und langsam und wie verschlafen zogen die Pferde wieder an. Kößling stand einen[[Anzahl]] Augenblick wie betäubt, dann aber lief er nach oben, seinen Hut und Mantel zu holen. Er mußte noch Luft haben, sich ausrasen, und wenn er bis zum Morgengrauen durch die Straßen laufen sollte ... Und während nun Jasons Wagen gemächlich die kurze Strecke bis zu seinem Hause weiterschwankte, da ratterte noch ein anderer Wagen durch die Straßen Berlins; von Haus zu Haus. Ratterte die Königstraße herauf und die Spandauer Straße vom Molkenmarkt bis zur Garnisonkirche hinab, die Poststraße, die Burgstraße entlang, ja, er vergaß nicht einmal den Hohen Steinweg und den Neuen Markt. Er schwankte um die Marienkirche und kam bis nach der Münzstraße, ja, selbst in der Neuen Roßstraße hatte er zu tun. Aber dieser Wagen war nicht aus dem Fuhr- und Wagengeschäft Onkel Ferdinands, kein {{Break}} und keine {{Britsch¬ka}}, kein {{Char à bancs}} und kein Tandem, sondern ein ganz altmodischer Wagen mit geschweiften Federn war es und mit einem himmelhohen Bock und mit einem Tritt für betreßte Lakaien in Dreimastern und weißen Perücken. Vier schwere, reichbehangene Gäule zogen ihn, und mit Trompeten ritten Vorreiter voran; und Tuben und Hörner bliesen vom Kutschbock – und kleine bösartige Pikkolos und Flageoletts zwitscherten vom Trittbrett. Und drinnen in dem Wagen, faul und lügnerisch, in den alten Seidenpolstern saß sie selbst, sie, die alte Vettel, Frau Fama. Und von Haus zu Haus wurde sie fetter, breiter, wohlgenährter, runder und lachender. Ihre kleinen Augen verschwanden beinahe in dem feisten Gesicht; immer mehr wuchs sie, und die Fugen ihrer alten Karosse krachten ordentlich unter ihrer Fülle. Und in alle Häuser, bis in die letzten Winkel, bis unter die Himmelbetten mit den Mullvorhängen drangen die Tuben und Hörner, die kleinen, bösartigen Flöten und Flageoletts, und immer neue, ungehörte und unerhörte Weisen raunten, zischelten, bliesen und flüsterten sie ... &&x Und alles kam, wie es kommen mußte. Man freute sich auf Frost und klare Tage, aber das Wetter hielt nicht an. Am nächsten Morgen war schon wieder der Himmel umzogen, und der weiße Reif auf den Dächern der Remisen, auf dem hölzernen Gartenzaun am Lagerhaus, in dem Winkel unter der Königsbrücke, dort, wo im Frühjahr die paar Veilchen standen und wo jetzt der Wind das welke Laub zusammengetrieben hatte – der weiße Reif mit seinen kleinen, weißen, blitzenden Zinken und Zacken, der verging, gerade als wäre er zu fein und zu stolz dazu, sich allen Blicken preiszugeben. Nur ein paar Jungen, die Milch trugen, nur ein paar Bauernwagen, die von draußen zum Gänsemarkt kamen, nur der Barbier, der mit fliegenden Rockschößen beim ersten Morgengrauen von Tür zu Tür lief, der durfte ihn sehen, und er durfte die Nachricht von Ort zu Ort tragen, daß es draußen wirklich Winter würde. Aber bloß bei den ersten Kunden kam er dazu, hiervon zu sprechen. Nachher gab es Wichtigeres für ihn mitzuteilen. Und die Jungen mit den Milchkannen, die durften sogar mit den Stiefelhacken noch versuchen, ob das Eis auf den Pfützen, das mit seinen langen, blanken Kristallnadeln so schön glatt aussah, etwa schon zu einer Schlitterbahn hergäbe. Doch ehe sie es recht bedauern konnten, daß es das nicht tat, ehe sie noch von ihren Stulpenstiefeln die letzten Spuren ihrer vergeblichen Versuche getilgt hatten, da war an Reif und Eis und Winter gar nicht mehr zu denken. Wie ein grauer Rauch zog es von den niederen Dächern, Zäunen und stillen Winkeln und überzog dafür alles mit einer glitschigen Nässe. Und nicht ein Bröckelchen Eis duldete es mehr auf den Pfützen, sondern es sorgte dafür, daß sie ihren zähen Schlamm bis an den Bürgersteig schoben und daß die Kopfsteine und Platten, die sich so schmal dahinzogen, ganz wie in klebriger Feuchtigkeit gebadet waren. Und aus dem Nebel wurde ein Triefen und Sprühen; und aus dem Triefen und Sprühen wurde langsam ein zäher, gleichmäßiger Regen, der aus dem grauen Rauch herabsank und alles überzog mit seiner blanken Feuchtigkeit; der bis in die Häuser und Nischen und Torbogen drang und auf den alten Höfen nicht einmal die Ecken vergaß, an denen, nach Möglichkeit geschützt, die leeren Geschäftskisten zu Pyramiden aufgeschichtet standen. Aber dieser Regen und die Unfreundlichkeit des Tages machten es gerade heute doch nicht, daß die Straßen deswegen weniger belebt waren. Die Postwagen natürlich, die mußten kommen mit ihren ganz bespritzten Ledern und über und über grau vom Schmutz der Landstraßen, und die Lastwagen, die hinausgingen nach Frankfurt an der Oder, hochbepackt und von schweren, dampfenden Gäulen mit klirrenden Geschirren gezogen, für die gab es gleichfalls kein schlechtes Wetter, und wenn der Schnee zehn Zoll hoch gelegen hätte. Aber warum dieser oder jener und mehr noch diese oder jene, die gewiß kein Geschäft auf dieser Welt hatten, nichts versäumten und ruhig auf angenehmere und stillere Tage warten konnten, auf der Straße sein mußten und Besuche machen mußten, bei denen man den Leuten doch nur die gebohnten Stuben vertrat – das, ja, das konnte einen[[Anzahl]] schon in Staunen setzen! Soviel Kunden hatte der Tischler Löwenberg noch nie gesehen. Und das Haus, in dem das alte Fräulein mit den Pudellöckchen wohnte, in der Poststraße – es war beinahe so klein und schief wie sie selbst –, das wurde rein zur Wallfahrtskapelle. Betagte Damen in großen gestickten Umschlagtüchern, die jahrelang nicht mehr aus der Tür gegangen waren, erkannten plötzlich, daß sie schon lange sehr ungezogen wären und die Frau Minchen Gebert auf dem Hohen Steinweg nicht einmal besucht hätten; und sie meinten, daß Tag und Stunde gerade günstig wären, um das nachzuholen. Und alte Herren, die sich wegen des Reißens vor jedem Windzug und vor jedem Regentropfen hüteten und vormittags nie weitergingen als bis zur nächsten Tabagie, zeigten plötzlich hippologisches Interesse und wandelten bedächtig unter ihren großen Regenschirmen die Königstraße hinauf und hinab und betrachteten aufmerksam die ostpreußischen Wallache vor den Prenzlauer Wagen, als müßte diese Anteilnahme den alten Elias Gebert herbeilocken. Vielleicht konnte man von dem etwas erfahren. Aber sei es, daß der alte Onkel Eli wirklich sein Reißen in der Schulter hatte, sei es, daß ihm ausnahmsweise das Wetter zu schlecht war – die alten Grauköpfe mochten straßauf, straßab gehen –, Onkel Eli war nicht anzutreffen. Und ebensowenig kamen die betagten Damen bei Tante Minchen auf ihre Rechnung, denn wenn Minchens Minna auch ein bißchen taub war, soviel verstand sie doch, daß die alten Herrschaften gerade heute keinen Besuch wünschten. Hannchen hingegen fühlte sich geehrt durch die Leute, die zu ihr kamen – es war doch ein Zeichen von Teilnahme, daß sie in diesen schweren Tagen an sie dachten; und Tante Hannchen hatte deshalb, gerade wie zu einem Trauerfall, ein schwarzes Taftkleid angezogen; in dem saß sie nun breit in der Mitte vom Sofa, eine Fußbank unter den gestickten Morgenschuhen und ein Kissen im Rücken. Und in einer Stunde sprach sie mehr, als sie in einer Woche verantworten konnte. Wenn Ferdinand dagewesen wäre, so hätte er das wohl nicht geduldet. Aber Ferdinand war nicht da. Doch während sonst Tante Hannchen klüglich von den Gängen ihres Mannes schwieg und dem Besuch stets sagte, daß ihr Mann in den Remisen oder in der Lackiererei beschäftigt wäre, nahm sie heute kein Blatt vor den Mund, wo er hingegangen war. Ganz früh – sie sei noch gar nicht aufgewesen – habe schon der Lakai vom Prinzen Karl bestellt, ihr Mann möchte um zehn Uhr ins Palais kommen und Muster vorlegen. Und es sei gut gewesen, daß ihr Mann gerade in dieser Woche die Neuheiten aus Paris bekommen hätte: göttliche Wagen, von einer Eleganz und einem Pli, wie sie das hier gar nicht machen könnten. Aber trotz Tante Hannchens Beredsamkeit erfuhr doch keiner etwas Rechtes und Befriedigendes über den Fall. Immer wieder hörte man die paar Dinge, die man schon längst wußte. Gar keine pikanten Einzelheiten waren in Erfahrung zu bringen. Wie das nun zusammenhing, wie es sich eigentlich ereignet hatte, darüber bekam keiner Klarheit. Nichts Derartiges war vorher von Jettchen geäußert worden, keine Silbe; keiner hatte etwas Ähnliches erwartet, alles war beim Schönsten und Besten – und plötzlich hieß es, die junge Frau sei fort. Herrgott, gab das einen[[Anzahl]] Schrecken! Daß der alte Junggeselle, Jason Gebert, dem überhaupt nicht recht zu trauen war, dabei seine Hand im Spiele hatte und sicherlich in ganz anderer Weise, als er es darstellte, das sähe jedes Kind. Und die, die ganz kühn waren und zu Salomon Gebert ins Geschäft gingen, um ihn an irgendwelche Lieferungen zu erinnern oder um ihm mitzuteilen, daß das offerierte Packpapier um einen[[Anzahl]] Dreier billiger zu beschaffen sei, und die dabei so nebenher und linksherum etwas zu hören hofften, die erfuhren nun schon gar nichts. Denn der Chef, hieß es, wäre nicht da; und der alte Demcke nahm zwar von der Notierung des Packpapiers freudig Kenntnis, knurrte aber, daß ihn die andere Sache nichts anginge und er nichts davon wisse. Salomon Gebert war wirklich nicht ins Geschäft gekommen, den ganzen lieben langen Tag nicht, trotzdem schon Weihnacht vor der Tür und man noch mit der Lieferung und mit dem Versand im Rückstand war. Solange das Geschäft bestand, war Salomon nie ohne Grund auch nur eine Stunde fortgeblieben. Ganz gleich, was gestern gewesen, ganz gleich, was heute war. Immer und allezeit war Salomon Gebert in seinem Geschäft der erste, der kam, und der letzte, der ging. Er war dabei, wenn der Hausdiener aufschloß, und er nahm die Schlüssel ihm beim Weggehen aus der Hand. Er hatte es so getan, als es nötig war; und er tat es noch jetzt, als es schon längst nicht mehr nötig war, gleichsam aus einer abergläubischen Gewöhnung – gerade, als ob daran das Geschick seines Hauses hinge. Und heute hatte er das erste Mal seit Jahrzehnten die Gewöhnung durchbrochen; aber hätte er es auch nicht getan, es hätte wohl keiner eine Antwort von ihm erhalten, und vielleicht hätte auch keiner, der ihn gesehen, ihn zu fragen gewagt. &&x So also war das Neuigkeitsbedürfnis aller näheren und weiteren Freunde und lieben Bekannten der Geberts – und wer zählte sich plötzlich nicht dazu! – keineswegs gestillt worden. Und als gut eine Stunde früher denn sonst der Tag verdämmerte und gut eine Stunde früher denn sonst in Salomons Kontor der Hausdiener Gustav die hohen Lichte auf den hohen Stehpulten anzündete, vor denen sich die Buchhalter auf den Füßen wiegten wie Pferde vor der Krippe – da, ja, da war zwar die Nachricht von dem Geschehnis wohl sechsmal um die Mauern der Stadt geflogen, hatte jedes Ohr gestreift, gestreift und wieder getroffen, man hatte die abenteuerlichsten Vermutungen ausgetauscht und für wahr ausgegeben; aber klüger war eigentlich niemand geworden. Niemand wußte mehr als gestern abend, da zuerst die Flageoletts und Pikkolos zwitscherten und die Tubenstöße der Frau Fama bis unter Himmelbetten und Mullvorhänge drangen und diese schwanken und flattern machten. Nun wartete man auf die Zeitungen, ob die etwas geben würden. Der »Beobachter« würde sich das sicher nicht entgehen lassen und Krauses »Berlin« wohl auch nicht ... oder Sommerfeld? Irgendwo würde man schon Sicheres erfahren. Und während nun so das Geschehnis alle Welt erregte und immer weitere Wellen schlug – denn alle erinnerten sich mit einemmal, daß die Geberts doch eigentlich einst recht angesehen waren, und alle gönnten es ihnen und freuten sich innerlich, ihren Namen und ihren Ruf so recht durch den Mund zu ziehen, vor allem, da ja, wie sie meinten, die Sache eines lustigen Beigeschmacks nicht entbehrte –, währenddessen ... ja, währenddessen waren eigentlich die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig. Nun, peinlich war es immerhin für Julius Jacoby gewesen, denn er hatte etwas anderes erwartet. Aber da sich für ihn ein gutes Gewissen mit manchem Glase guten Weins – vom Champagner ganz zu schweigen – und mit einem guten, neuen Bett vereinten, so konnte er doch am nächsten Morgen von sich sagen, daß er eigentlich nicht gerade schlecht geschlafen hatte. Und als er sich gar in der Frühe in seiner neuen Wohnung – warum hätte er etwa da nicht hingehen sollen, auch ohne Frau? – etwas umtat und sah, wie alles aus dem vollen geschöpft war und mit Liebe bereitet, gleich einem guten, hausbackenen Butterkuchen, da wurde ihm, bei aller pflichtschuldigen Bekümmernis – auch ohne Frau –, ganz warm ums Herz. Doch als nun erst Tante Hannchens Mädchen ihm den Kaffee brachte, der sich an Güte und Ausgiebigkeit – sie hatte für zwei Personen gekocht – merklich von dem seiner letzten Zimmerwirtin unterschied, und als sie ihn da so mitten hineinpackte in ein ganzes Feldlager von frischen Brötchen, von Butter, Honig, Marmelade und von silbernen Sahnenkännchen, von bauchigen Zuckerdosen und durchbrochenen Zuckerzangen – da konnte sich der Vetter Julius doch nicht enthalten, das Liedchen zu pfeifen, das man gestern in so vielen Versen bei seiner Hochzeit gesungen hatte, das Liedchen von dem »Ei, was braucht man, um glücklich zu sein«. Und er pfiff es immer noch, als er schon aus der Tür trat, um ins Geschäft zu gehen. Denn jetzt, sagte er sich, müsse er im Ernst der Arbeit Vergessenheit suchen. Tante Rikchen hingegen hatte den ganzen Tag Tränen in den Augen und ging unruhig von einem Zimmer ins andere. Aber gewiß hätte sie auch Tränen in den Augen gehabt und wäre durch alle Räume gependelt, wenn alles gut und glatt gegangen wäre. Denn ohne von dem zu reden, was ihr Jettchen angetan hatte – sie fehlte ihr, und ihre Abwesenheit schmerzte sie. Auf ihre Art nämlich hatte die Tante Rikchen ihre Nichte Jettchen, die so lange wie Kind im Haus gewesen war, ganz liebgewonnen, und nichts lag ihr ferner, als ihr Böses zu wollen. Eigentlich war Tante Rikchen nur traurig, daß das Gute, das sie bereitet hatte, von Jettchen so mißachtet worden war. Nun, sie würde sich schon fügen. An ihren Mann aber richtete Tante Rikchen heute kaum das Wort, und nicht mit einer Silbe erwähnte sie das Vorgefallene. Auch er sprach nicht davon. Sie[[1]] gingen beide umeinander herum wie zwei Räder in einem Uhrwerk, die eng beieinander sich drehen und sich doch nicht berühren und sich doch nicht begegnen. Salomon war matt, hatte gerötete Augen; in Morgenschuhen schlurfte er umher, setzte sich vom Lehnstuhl auf den Korbstuhl und von da auf das schwarze Ledersofa und vom Sofa wieder an seinen Fensterplatz – die Ellbogen auf den Knien und den Kopf zwischen den Händen. Wie war die Wohnung ihm leer und öde! Ihm war es gerade, als ob Jettchen gestorben wäre. Und mehr als einmal war er drauf und dran, zu Jason zu gehen und Jettchen sich zurückzuholen. So sehr fehlte ihm ihre Gegenwart, ihre stille Nähe und die feine, kluge Sorgfalt, mit der sie ihn umgeben hatte. Warum wollte sie denn nicht wiederkommen? Hier gehörte sie doch her! Und er würde doch gewiß nicht darauf bestehen, daß sie zu ihrem Manne ginge. Wo hatte er nur die ganze Zeit seine Augen gehabt? Und wie hatte er nur je glauben können, daß das gut würde? Hin und wieder kam ihm der Gedanke an die Leute draußen und daß sein Name und der gute und ehrliche Name seiner Familie jetzt schon sicherlich in aller Munde sei und daß man lächle und tuschle und klatsche und Lügen über sie alle verbreite. Dann packte ihn ein solcher Zorn, daß er beinahe die roten, geschliffenen Gläser vom Büfett herabgerissen und sie auf die Erde geschleudert hätte, nur um an irgend etwas seine Erregung auszulassen. Und als er nach dem Essen, das er, ohne ein Wort zu reden, in sich hineingewürgt hatte, sich nicht zu Tante Rikchen aufs Sofa setzte, um in seiner Ecke mit dem Papagei auf der Schlummerrolle sein Schläfchen zu machen, sondern, mit dem letzten Bissen im Mund, aufstand und in sein Zimmer ging, da konnte Tante Rikchen nicht anders: sie mußte sich in den Lehnstuhl setzen und ihre beiden dicken Hände in die Augen bohren und weinen. Wenn er mit ihr geschimpft hätte, wenn er ihr wenigstens Vorwürfe gemacht hätte! Ferdinand nun hatte sich die Angelegenheit mit Jettchen, als seine erste Erregung geschwunden war, nicht gerade sehr zu Herzen gehen lassen, und das Kopfweh und die Migräne, mit denen er erwacht war, kamen durchaus nicht aus den Gebieten des Seelischen, sondern waren etwas tiefer begründet und beheimatet – ein wenig rechts unter dem Herzen. Aber als der Lakai erschien und Ferdinand die freudige Botschaft vernahm, da war dieses Mißbefinden wie weggeblasen. So schnell schwand es selbst nicht, wenn Ferdinand Gebert sich Gurkenscheiben auf den Kopf legte, und hiervon hielt er viel. Wie weggepustet war es, dieses Mißbefinden, und aus dem grauen, katzenjämmerlichen Morgen wurde Ferdinand ein Himmel voller Geigen. Richtig, er bekam die Bestellung: einen[[Anzahl]] Jagdwagen, eine Britschka und ein Tandem. Drei Wagen auf einmal – und in allerbester Ausführung. Und dazu noch vom Hofe! Das würden natürlich nicht die einzigen bleiben, und irgendwelche Auszeichnung würde für ihn noch abfallen. Wie hatte er immer wieder und wieder seine Angel ausgeworfen danach, seit Jahren! Und jetzt, als er es am wenigsten vermutete, hatte plötzlich der Fisch angebissen. Er hatte ja schwere Zeiten durchgemacht. Denn als das mit der Eisenbahn kam, vor ein paar Jahren, da hatte er fest geglaubt, daß bald niemand mehr einen[[Anzahl]] Reisewagen oder überhaupt eine Chaise sich kaufen oder leihen würde. Und alle hatten das gleiche prophezeit. Und nun? Dieser oder jener mochte schon »kaputtgegangen« sein. Aber er, er stand jetzt größer da als je. Denn der Hof, der preußische Hof – was das bedeutete: der preußische Hof! –, die andern würden dann schon von selbst kommen. Und ganze Marställe sah Ferdinand vor sich, mit endlosen Reihen von rotlackierten Prunkwagen und von himmelblauen Kaleschen, die alle aus seinen Werkstätten gekommen waren. Daß an einem solchen Tag ihn das Ereignis mit seiner Nichte Jettchen nicht allzusehr beschäftigte, kann man ihm nicht verargen. Und wenn es sich wirklich einmal in seinen Gedanken etwas zu weit nach vorn schob, dann kamen wieder der Hof, der kleine, hochrädrige Jagdwagen, der Prinz selbst, der sogar »lieber Gebert« gesagt hatte – er war ein Mann ganz nach dem Geschmack Ferdinands –, und all das versetzte dem armen Jettchen einen[[Anzahl]] solchen Stoß, daß es in seinem Kopf, in seinen Gedanken ganz weit nach hinten flog, alldahin, wo es gut aufgehoben war und sich in keiner Weise unangenehm bemerkbar machte. Eli und Minchen aber sprachen viel darüber, und sie hatten Meinungsverschiedenheiten. Dabei saßen jedoch die beiden Alten einträchtig nebeneinander wie zwei Vögel auf einer Stange. Minchen war mit Jettchen nicht zufrieden. Sie[[1]] hatte noch nie gehört, daß eine so etwas gewagt hätte, und deshalb mißbilligte sie es. Das heißt recht betrachtet: innerlich mißbilligte sie es gar nicht. Sie[[1]] wußte nur noch nicht, wie sich die andern dazu stellen würden und wie man sich, ohne anzustoßen, Jettchen gegenüber zu verhalten habe. Eli hingegen sagte, seit langer Zeit hätte ihn nichts mehr so gefreut wie gerade das. Jetzt, eben jetzt müsse man zeigen, daß man auf Jettchens Seite stehe und sie nicht etwa im Stich lasse. Ja, auch für alle »allenfallsigen Nebenseiten« des Problems – denn mit ihnen rechneten jetzt auch die Nächsten – zeigte der alte Onkel Eli ein tiefgehendes, zustimmendes und verzeihendes Verständnis. Er verstieg sich sogar dahin, es ganz natürlich zu finden. Aber soweit konnte ihm die kleine Tante Minchen nicht folgen. Ihr weibliches Gemüt, sagte sie, sträube sich gegen alles Unmoralische. Das wollte wieder Onkel Eli nicht gelten lassen, und er versuchte ihr zu erklären, daß es unmöglich wäre, da Unterschiede herauszufinden, wo in der Natur gar keine beständen. Und als seine Argumente nicht überzeugten – denn man kann fünfzig Jahre und über fünfzig Jahre mit einer Frau verheiratet sein, und sie wird den Feinheiten und der Folgerichtigkeit der männlichen Logik ebenso ungläubig und verständnislos gegenüberstehen wie am ersten Tage –, da begann er zu poltern und auf die Frauensleute – die Seinige inbegriffen – zu schimpfen; während er doch sonst bei seinen Anwürfen diese auszuschließen beliebte. Und ein Mal über das andere schrie er mit ganz rotem Kopfe: »Kann man so etwas wohl in so ä Frauensmensch reinbringen!« Minchen schwieg natürlich auch nicht, und es gab das schönste, doppelseitige Ärgernis. Bis Minchen endlich klein beigab und damit bewirkte, daß der Himmel sich klärte. &&x Minchen tat recht daran. Denn wie so oft in diesem Leben: Minchen und Eli stritten sich einfach um Worte, Im Grunde ... im Grunde nämlich stimmten sie beide in allem, was sie dachten und sagten, ganz und gar überein. Also waren – während alle Welt sich in Erregung befand – die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig. Ach so, ich vergaß von Jettchen zu erzählen, von Onkel Jason und von Doktor Kößling. Stosch war am Abend noch dagewesen, aber da Jettchen schlief, sagte er, das wäre besser für sie, er wolle nicht stören. Als er dann früh wiederkam, beklopfte und behorchte er Jettchen; und als Jason ihn fragte, sagte er, es fehle der jungen Frau wohl gerade nichts, aber sie sei mit dem Herzen nicht recht in Ordnung. »Zu dieser Diagnose, Herr Rat«, sagte Jason, »hätte ich Sie[[1]] nicht gebraucht.« Aber der alte Herr war in seinem Beruf nicht für Scherze, und er brummte nur etwas von Schonen, Pflege, keine Aufregungen und etwas Ruhe. Dabei sollte sie aber nicht liegen, sondern tun, als ob ihr gar nichts fehle. Darüber, daß er Jettchen bei Jason traf, und über alles, was sonst geschehen war, verlor der alte Stosch kein Wort. Jettchen war früh erwacht, und es hatte eine Weile gedauert, bis ihr alles wiederkam, was sie erlebt hatte. Und jetzt erschien es ihr in ganz anderm Licht. Nicht, daß sie etwa ihre Tat bereut hätte; aber sie wußte nicht ein noch aus und war ganz hoffnungslos. Zu alldem kam auch das Lächerliche, daß sie nun einzig ihr weißes Brautkleid besaß und nichts sonst. Keinen von ihren vielen Morgenröcken in allen Farben, für jeden Monat einen[[Anzahl]], und keins von ihren Gesellschafts- und Straßenkleidern, nicht das von grünem englischem Tuch und nicht das neue, fliederfarbene Seidenkleid, ja nicht einmal das alte, silbergraue Taftkleid oder das mit den goldenen Kornähren, das sie nun für alle Tage auftrug. Und Onkel Jason machte Jettchen einen[[Anzahl]] Morgenbesuch, nachdem er Fräulein Hörtel zum Parlamentieren vorausgeschickt hatte, ob er auch angenommen würde. Die Damen des vorigen Jahrhunderts, sagte Jason, pflegten vor dem {{Lever}} ihre Empfänge zu halten, und er für seine Person finde diese Sitte im äußersten Maße nachahmenswert, ja, er bedauere aufrichtig, daß sie bei der honorigen Damenwelt leider mehr und mehr im Schwinden begriffen sei. Jason hatte vollkommen seinen alten Ton wiedergefunden, und er plauderte mit Jettchen von hundert Dingen – nur nicht von dem, was gestern gewesen war; nicht einmal von dem, was morgen sein könnte, sprach er. Das schien für ihn nicht zu bestehen. Aber er war Feuer und Flamme für die Einstellung der Jahrbücher; das wäre recht, da zeigte man einmal Mannesmut. Was man wohl oben dazu sagen würde? Das hätte man sicherlich gerade jetzt nicht erwartet; und die besten Namen wären mit dabei. Dann bat er Jettchen, sie solle morgen mitkommen; er hätte einen[[Anzahl]] Platz bei einem Freund in der Breiten Straße, ein Fenster, von dem aus sie den Fackelzug der Studenten sehen könnten. Sie[[1]] solle es nur tun, damit sie wenigstens etwas vom Reformationsfest hätte. Ganz Berlin werde ja auf den Beinen sein. Aber Jettchen sagte, sie werde vorerst nicht ausgehen. Dagegen eiferte Jason. Gerade müsse sie hinaus, unter die Menschen; sie solle nur nicht glauben, daß sie sich einzuspinnen brauche; sie könne ihren Kopf ebenso hoch tragen wie andere Leute, und sie hätte ihn ja sonst immer so hübsch hoch getragen. Sie[[1]] würden zusammen ins Theater gehen, und er würde ihr {{peu à peu}} alle siebzehn Hohenstaufen-Dramen Raupachs zeigen, die man im Winter geben wollte, oder das neue Drama von Herrn Bart aus Neustrelitz, das sie angenommen hätten. Ob sie Herrn Bart aus Neustrelitz kenne? Schon Name und Vaterstadt bürgten für Genialität. Während aber Jason vor Jettchens Bett saß, das noch vorgestern sein eigenes gewesen war – ein respektvolles Stück davon, auf einer Ecke der Mahagonibergere mit den großen Bronzerosetten saß –, und nun von da aus eine leichte und etwas gezwungen-graziöse Konversation führte, altmodisch und blumenreich, gleichsam als spiele er die Rolle eines galanten Abbé ... und während Jettchen in all ihrem Kummer doch darüber lächeln mußte und lächelnd das erste Mal die neue Umgebung betrachtete, die ihr jetzt so ganz anders dünkte als früher, in der plötzlich alles ein neues Gesicht hatte und in der jede Lithographie an der Wand, auf der mattgrünen Seide, jedes Porzellanfigürchen in den Servanten etwas von dem Wesen seines Besitzers angenommen zu haben schien ... und während also Jettchen so ganz erstaunt und träumerisch in die weiße Helligkeit blickte, die trotz des grauen Tages draußen durch die tiefen Fenster hereinflutete und alles so blank und peinlich sauber machte: den Tisch, die grünen Sessel, die braunen Schränke mit den goldenen Säulenknöpfen und den vielen weißen und bunten Porzellanen, alles, alles, bis in den letzten Winkel hinein – da, ja da mochte es vielleicht an der Tür gepocht haben, und Jason mochte vielleicht »Herein« gesagt haben, denn plötzlich sah Jettchen das Mädchen von Tante Rikchen, ihr Mädchen von zu Haus, vor sich stehen, mit einem ganz verquollenen Gesicht und rotgeweinten Augen. Und daneben das kleine Fräulein Hörtel mit Augen wie eine Fledermaus. Den großen Wäschekorb zwischen ihnen sah sie, der hoch voll lag von Röcken und Matinees, roten, grünen, weißen, blauen und ganz zart pastellfarbigen. Und das Mädchen schluckte und schluchzte und sagte: Eine schöne Empfehlung von der Madame Gebert, und hier schicke sie der jungen Madame Jacoby ihre Sachen; und die andern Sachen würden auch noch kommen. Und Jettchen schluckte und schluchzte und sagte: sie ließe sich vielmals bedanken. Ja, selbst Jason meinte, daß das doch rührend liebenswürdig von der Tante wäre. So viel Takt hätte er ihr gar nicht zugetraut. Aber er vergaß, daß die Tante es nicht sehr selbstlos tat, sondern wohl wußte, daß man mit Speck Mäuse fängt. Aber nun, sagte Jason nach einer Pause allgemeiner Rührung, nun wolle er sich zurückziehen, da Jettchen für die nächsten fünf Stunden ja hinlänglich Beschäftigung hätte. Und er trete ihr noch die Hälfte seines Reiches ab. Dort in dem großen Schrank dürfe sie allen Raum besetzen, der frei wäre. Ihre Sachen würden sich schon miteinander vertragen. Mit dem andern sonst solle sie sich an Fräulein Hörtel wenden. Und nach einer Weile schellte draußen Kößling. Er müsse sogleich Herrn Gebert sprechen. Früh am Morgen war er schon einmal dagewesen, um sich zu erkundigen, wie es Jettchen gehe. Aber da schlief noch alles. Und jetzt kam er wieder. Er müsse Herrn Gebert sprechen. Jason ließ ihn bitten, ganz leise hinter zu kommen in das Arbeitszimmer, trotzdem er eigentlich innerlich starke Bedenken gegen diesen Besuch hegte. Aber ehe noch Jason dazu kam, irgendwie sein Mißfallen zu äußern, streckte ihm Kößling einen[[Anzahl]] Oktavband mit breitem Lederrücken und schöner Goldpressung entgegen, gerade wie man dem Zerberus einen[[Anzahl]] Honigkuchen zuwirft, und sagte, jetzt habe er's. Und wie billig er es gekauft hätte: kaum zur Hälfte des Preises; nur achtzehn und einen[[Anzahl]] halben Silbergroschen habe er dafür gegeben, und dann sei es noch die erste Ausgabe, und ein purer Zufall habe sie ihm in die Hände gespielt. Was er aber nicht sagte, das war, daß er den ganzen Vormittag umhergelaufen war, von einem Büchertrödler zum andern, bis in die kleinsten und entlegensten Keller in der Neuen Jägerstraße, und daß er endlich nicht achtzehn und einen[[Anzahl]] halben Silbergroschen, sondern einen[[Anzahl]] Taler und fünf gute Groschen[[1]] gezahlt hatte. Aber das war Kößling der Christian Garve heute wert. Und dann war es ja auch die beste Ausgabe und wie neu. Zu teuer, nein, zu teuer war es eigentlich nicht. »Nun«, sagte Jason, »da haben Sie[[1]] ja zufällig, Herr Doktor, einen[[Anzahl]] sehr guten Griff getan. Einen[[Anzahl]] Taler ist das Buch schon unter Brüdern wert.« Aber Kößling versicherte, daß er es so billig erstanden hätte, und er hoffe, bei dem Mann noch mehr zu finden; denn er wollte sich doch seinen Vorwand nicht nehmen lassen. Und von allerlei Büchern und seltenen Ausgaben erzählte er, als hätte er die Absicht, ja zu verhüten, daß irgendein anderes Gesprächsthema aufgenommen würde. Trotzdem Jason diese kleine List durchschaute und sich innerlich darüber belustigte, daß die Liebe selbst einen[[Anzahl]] ungelenken Menschen erfinderisch machen kann, so brachte es das Gespräch doch mit sich, daß er bald vergaß, daß es eigentlich nur ein Fintenspiel war. Und trotzdem Kößlings Sinn und Herz eigentlich auch ganz woandershin standen, so machte es der Stoff, daß auch er ganz und gar mitgezogen wurde und das andere fast aus dem Sinn verlor – so daß nun bald die beiden miteinander lustwandelten in ihren gemeinsamen Reichen, in die gottlob das Lärmen, die Wirrnis und die Nöte, die das arge Weibervolk den Männern bereitet, nicht hindringen können. Jason ging auf und ab an seinen braunen Regalen, zwischen den blanken Lederrücken mit den eingepreßten goldenen Sternchen und den roten und grünen Saffianschildchen. Und einmal bückte er sich, und ein anderes Mal mußte er mit dem Arm ganz hoch hinauflangen, um dies oder jenes vorzuzeigen. &&x Und gerade war er dabei, seine Goethe-Ausgabe von 1775 Kößling zu zeigen, die von Himburg, und ihn auf die Kupfer aufmerksam zu machen, die er den Rambergschen in der Ausgabe letzter Hand weit vorzöge – trotzdem jene ihnen ja viel näherständen –, als die Tür aufging und ganz leise Jettchen hereintrat. Ganz leise. Denn sie hatte ein paar neue Hausschuhe aus rotem, weichem Leder an, die eigens für ihren Fuß gefertigt waren. Einen[[Anzahl]] von den Morgenröcken trug sie, die man ihr eben gebracht hatte, einen[[Anzahl]] ganz neuen, silbergrauen. Den Hals ließ er frei und auch die weißen Arme bis über die Ellbogen. Und das schwere Haar hatte Jettchen nur aufgesteckt. Eigentlich war sie hintergegangen, um sich Jason zu zeigen und, vor allem, um ihm ein freundliches Gesicht zu weisen und ein paar Worte mit ihm zu sprechen, damit er sehe, daß sie nun ganz wieder die alte sei und er sich etwa keine Sorgen um sie mache. Daß Kößling bei ihm war, hatte sie jedoch nicht vermutet. Für ihn war diese neue Morgentracht auch nicht bestimmt. So erschrak sie, und Kößling erschrak gleichfalls. Kößling fühlte, daß er jetzt irgend etwas sagen müsse, ihr danken müsse für das, was sie um ihrer beider willen getan hatte. Aber er brachte kein Wort hervor. Und Jettchen fühlte sich plötzlich beengt und verschüchtert und wußte nicht, wie sie sich verantworten sollte. Hier im Licht des Tages lag die gestrige Nacht so fern, daß Jettchen sie in ihrer Kühnheit kaum noch verstand. »Nun«, sagte Jason und steckte vorsichtig dabei das Buch wieder zwischen die andern an seinen Platz, » den Besuch hast du wohl hier nicht erwartet?« »Gerade deswegen ist er mir nur desto lieber«, meinte Jettchen und hob Kößling langsam die Hand entgegen. Der war ganz verwirrt und stammelte etwas von Dank, als er sich auf die Hand niederbeugte. Jason aber bemerkte plötzlich etwas Wunderbares an seinen Büchern, das ihm noch nie vordem aufgefallen war und das er sich mit höchster Anteilnahme aus nächster Nähe betrachten mußte ... eine ganze Weile lang. Als er sich aber umwandte, standen die beiden noch an der alten Stelle, und Jason hatte auch nicht gehört, daß sie zueinander gesprochen hätten, und doch war es ihm, als fühlte er deutlich in seiner Hand die beiden Schicksalsfäden, die miteinander verknüpft und verknotet waren, und es war ihm, als wäre es seine Pflicht, sie nur noch fester miteinander zu verschlingen und zu verbinden. Aber wie so Menschenhände sind – gerade als er glaubte, daß er sie noch dichter und inniger ineinanderflechten würde, lockerte er nur ihre Schleifen und Maschen. Denn er selbst fühlte, wie die beiden sich während seiner Worte voneinander entfernten. »Wissen Sie[[1]], Doktor«, sagte er und drohte Jettchen lachend mit dem Finger, »sie gefällt mir. Ich liebe solche Menschen, die auf eigenen Wegen wandeln. Und wenn sie auch jetzt alle draußen schreien: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen[[Anzahl]] schlimmen Gang – passen Sie[[1]] auf, es ist für das Diesseits wie für das Jenseits nun einmal so eingerichtet, daß die guten Wege zum schlechten Ende führen und die schlechten Wege zum guten.« Aber Jettchen schüttelte und Kößling lachte gezwungen. »Ich habe Ihrem Onkel nur ein Buch gebracht«, sagte er, als müsse er seine Anwesenheit entschuldigen. Und Jason zeigte es und pries den guten Kauf, während Kößling – froh über seine List – Jettchen zublinzelte, und Jason tat, als merke er es nicht. »Ja«, meinte er, »jetzt mache ich es wie Ritter Blaubart und führe dich hier umher durch mein Schloß. Zu allen Zimmern wirst du den Schlüssel bekommen, Jettchen, alle darfst du betreten, soviel und sooft du willst, nur, siehst du, diese eine Kammer hier ...«, und er wies auf eine Reihe seiner Regale, »hier dieses eine Zimmer meines Schlosses ist dir verboten.« Kößling überflog die Reihe mit einem kurzen Blick, und als er »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« sah, wußte er, warum Jason wünschte, daß dieses Zimmer für Jettchen verschlossen bleiben sollte. Jettchen aber lachte. »Nun«, sagte sie, »die andern Zimmer in deinem Schloß, Onkel, sind ja geräumig genug. Aber eigentlich wollte ich dir nur einen[[Anzahl]] kurzen Gegenbesuch für vorhin machen.« Und damit hatte Jettchen wieder die Klinke in der Hand. »Ich muß auch zur Bibliothek«, meinte Kößling und griff schnell nach seinem grauen Schlapphut, den er in der Eile auf einen[[Anzahl]] Stuhl gelegt hatte. »Haben Sie[[1]] etwas Neues über die Jahrbücher gehört?« fragte Jason im Hinaustreten. Kößling wußte nichts. »Schade, ich hätte gern einmal etwas darüber aus Universitätskreisen erfahren«, sagte Jason. »Also ja, dann kommen Sie[[1]] nur bald wieder einmal auf einen[[Anzahl]] Augenblick zu mir herauf. Ich werde mich immer über Ihren Besuch freuen. Und jemand anders vielleicht ebensosehr. Aber entschuldigen Sie[[1]] mich jetzt, ich habe ja dem Garve – ich danke Ihnen noch, Herr Doktor –, ja richtig, dem Garve noch nicht seinen Platz gegeben.« Und damit hinkte Jason wieder ganz schnell zurück, zog die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und ließ die beiden allein auf dem halbhellen Korridor, der sein kümmerliches Licht nur durch ein paar Türfenster bekam und dämmerig und grau mit seinen paar kleinen goldenen Hockern und seinen paar kleinen goldgerahmten Spiegeln vor den beiden lag. Eine ganze Weile standen sie einander gegenüber, scheu und verwirrt. Denn das, was bisher ihrer beider Geheimgut gewesen war, das war plötzlich eine öffentliche Angelegenheit geworden, und Sehnsucht und Leiden hatten sich über Nacht in Trotz und Kampf gewandelt; und noch hatten sie sich beide nicht dazu gefunden, und wie etwas Fremdes, Trennendes stand es zwischen ihnen. »Jettchen«, fand Kößling endlich das Wort, »du liebes Mädchen, du, was hast du alles inzwischen ausgestanden um unsertwillen!« »Ja«, sagte Jettchen, »das habe ich wirklich. Und am Ende, da wird doch alles vergeblich sein. Gestern, da war es noch möglich und klar, aber heute? – Wenn Onkel Jason nicht noch wäre, ich wüßte ja überhaupt nicht, was ich täte.« Kößling sprach ihr Trost zu. Es werde schon alles nach ihrem Wunsch gehen; zwingen, mit Gewalt zwingen, könne sie doch kein Mensch. Sie[[1]] seien doch auch nicht schlecht zu ihr, und er werde schon zu etwas kommen. Zu alt wären sie ja beide nicht, um nicht auf ihr Glück warten zu können. Dann nahmen sie Abschied zwischen Tür und Angel, umschlangen sich mit langen Küssen, die die Unersättlichkeit des Feuers in sich trugen und die immer mit neuem Sehnen aus den Tiefen ihrer Wünsche stiegen. Aber kaum daß sich die Arme voneinander gelöst, so verschlangen sie sich wieder, als ob sie wie Kettenglieder miteinander verschmiedet werden sollten. Erst als Jason hinten laut nach Fräulein Hörtel rief, huschten sie auseinander, und Jettchen lehnte sich weit übers Geländer draußen und warf Kußhände hinab und lauschte, bis unten die letzten Schritte klangen. Dann schlich sie hinein, müde und zerschlagen. Ihre Füße trugen sie kaum. Das Leben aber zog weiter; dieser unversiegbare Strom, dessen Wellen nie zurückpulsen, er trieb weiter, und auf die Erregung kurzer Tage kam Ruhe und stetes Dahingleiten, kam das ermüdende Ineinandergreifen von Stunde in Stunde, von Abend in Morgen, von Morgen in Abend. Und keiner trug etwas in Händen, keiner brachte etwas, und jeder machte, ohne daß man es wußte, nur älter und müder. Wenn Onkel Salomon nur versucht hätte, Jettchen zurückzuholen, sie wäre ja gegangen. Denn das fühlte sie: Dort war ihr Platz, und dort gehörte sie hin. Sie[[1]] war es gewohnt, zu schaffen und in der Wirtschaft Anordnungen zu treffen. Sie[[1]] liebte ihre kleinen Sorgen; und hier gab es nichts für sie, und sie sehnte sich tagelang nach ihrem einfachen Zimmerchen mit den Birkenmöbeln und nach ihren Büchern, die sie kannte und wieder las, von dem »Immergrün der Gefühle« bis hinab zu dem Vogelbuch mit dem marmorierten Deckel und den vielen, vielen Sprachfehlern. Hier hatte sie eine ganze Bibliothek, aber es waren doch nicht ihre Bücher. Sie[[1]] war nur bei ihnen zu Gast geladen. Wenn noch die Tante Rikchen gekommen wäre und ihr Vorwürfe gemacht hätte, sie hätte schon Worte gefunden, sich zu verteidigen. Und Jettchen legte sich in langen Stunden eine wohlklingende Rede zurecht, in der sie von ihren Herzensrechten sprach und von Liebe und Dankbarkeit und daß sie durchaus alle menschlichen Vorzüge des Vetters Julius anerkenne und gar keinen Haß gegen ihn hege, aber sie könne und könne ihm nun einmal nicht angehören. Und Jettchen war fest der Meinung, daß es ihr gelingen würde, Tante Rikchen auf ihre Seite herüberzuziehen. Tante Rikchen aber – sie hatte zwar die Sachen geschickt und freundliche Grüße dazu – kam selbst nicht und ließ vorerst nichts weiter von sich hören und verlauten. Sie[[1]] war nämlich nicht dafür, die Speisen allzu warm zu genießen, da die Erfahrung sie gelehrt hatte, daß es besser sei, bei allen heißen Dingen abzuwarten. &&x Auch Tante Hannchen kam nicht und keines von den Kindern. Nicht Jenny, die das Brautgedicht gesagt hatte, noch Wolfgang, der in Charlottenburg Wochen bei ihr gewohnt hatte – keine Seele ließ sich blicken. Jeder mied sie. Nein, das entspricht doch nicht ganz der Wahrheit. Gleich am dritten oder vierten Tage erschien Tante Minchen, wenn auch der Nebel bis auf die Dächer hing und der Regen nicht aufhören wollte. Es war ja gewiß nicht weit vom Hohen Steinweg nach der Klosterstraße – aber da kam sie gar nicht her, sie war erst noch bei Madame {{Four¬nier}} gewesen, »Unter der Stechbahn«, trotz Wind und Wetter. Da hatte sie drei schöne, mattgelbe Apfelsinen gekauft, für Jettchen zur Stärkung. Und Apfelsinen waren jetzt nicht billig. Sie[[1]] hatte lange geschwankt, ob sie ihr nicht statt dessen ein Glas von ihrem Eingemachten mitbringen sollte – vielleicht Quitten oder Hagebutten. Aber das sah so alltäglich aus; Apfelsinen jedoch konnte man nicht alle Tage haben. Und wenn – wie man sagt – sauer lustig macht, so hätte Jettchen nach den Apfelsinen eine Woche lang die lustigste Person von ganz Berlin sein müssen. Ja, die kleine, gute Tante Minchen, die so verschrumpelt wie eine Backbirne war und einen[[Anzahl]] Mund hatte wie ein ausgerissenes Knopfloch, sie hatte sogar eigens zu diesem Besuch ein schwarzes Seidenkleid angezogen, damit Jettchen nicht meinen[[Meinung]] solle, sie halte nichts auf sie. Leicht fiel ihr dieser Besuch gewiß nicht, denn sie wußte noch gar nicht, wie er bei den andern ausgelegt würde; aber sie hatte sich trotz alledem dazu entschlossen. Und es war das nicht allein der Wunsch ihres alten Ehegatten – dem hätte sie wohl ihren eigenen Willen entgegengestellt –, es war auch ihr Wunsch. Nur wußte sie nicht recht, was sie mit Jettchen reden sollte. Beschönigen wollte sie nichts, tadeln wollte sie nichts, und umgehen wollte sie die prekäre Angelegenheit schon gar nicht. »Nu, Jettchen«, sagte Tante Minchen, bevor sie sich noch gesetzt hatte, »ich komm eben e bißchen hier vorbei. Jason hat neulich auf de Hochzeit gesagt, du wärst nich ganz wohl, und da wollt ich doch mal zusehn, wie's der geht.« Jettchen dankte. Es gehe ihr schon besser. »Nu«, meinte Tante Minchen feierlich und wickelte jede der Apfelsinen mit ihren kleinen, welken Fingern aus dem Seidenpapier und legte sie fein säuberlich auf die blanke Tischplatte, »nu, Jettchen, da hab ich der drei Apfelsinen mitgebracht, für deine Gesundheit. Iß se mit Verstand, was dir ja nicht schwerfallen kann. Se sind nämlich von de {{Four¬nier}} und kosten fünfzehn Silbergroschen.« Jettchen sagte, daß diese Ausgabe für sie aber wirklich unnötig gewesen wäre. »Nein«, meinte Minchen, »ich wollte dir, liebes Jettchen, gerade damit zeigen, daß mir für dich nichts teuer und gut genug ist. Nach wie vor. Und wenn sie auch in de Zeitungen über dich schreiben.« Jettchen erschrak. »Nu, hat der Jason nich gesagt?« schwabbelte Minchen ohne böse Absicht. »Im ›Beobachter an de Spree‹ stand doch de ganze Sache, das heißt nich mit richtige Namen, aber es war ganz deutlich deine Geschichte; weißte, von Herrn Gimpel, Herrn Schlau und Fräulein Pfiffig hieß es da.« Das hatte Jettchen nicht erwartet, und sie brach in Tränen aus. Minchen beschwichtigte. »Was brauchste der daraus was zu machen«, sagte sie. »Weißte, was Eli gesagt hat? – Wenn er noch jünger wäre, als er is, hat er gesagt, würde er einfach hingegangen sein auf de Zeitung und hätte, ohne e Wort dabei zu sprechen, dem Mann rechts und links ein paar hinter die Ohren gegeben ...« Wenn Ferdinand jedoch nur noch etwas auf de Familie hielte, dann müßte er's tun. Und ihr Eli, der würde es auch Ferdinand sagen. Aber selbst dieses Versprechen der Blutrache vermochte nicht Jettchens Tränen zum Versiegen zu bringen, und deshalb beschloß Tante Minchen, geschickt das Gespräch auf ein anderes Thema hinüberzuspielen. »Lächerlich«, sagte sie, »du wirst dich ärgern! De Meinungen sind doch sehr verschieden darüber. Ich muß ja in Wahrheit dir eingestehen, ich bin eigentlich nicht deiner Ansicht. Man muß sich aneinander zu gewöhnen versuchen. Wenn de Angelegenheit mit de Scheidung so leicht war wie de Hochzeit, würde keine Ehe länger wie e Jahr dauern. Und wir – Eli und ich – sind nächsten Herbst, so Gott will, siebenundvierzig Jahre verheiratet. Aber Eli sagte wieder, de hättst ganz recht gehabt. Und viele andre – weißte, man spricht ja von nichts weiter – sagen auch, se begriffen nicht, wie Salomon dich an Julius Jacoby hätte geben können. Aber wirklich, mein Kind, trotzdem und trotzdem ... ich versteh dich nich. Was haste an de Männer? Se sind doch alle gleich. Meinste, de merkst nachher 'n Unterschied?« »Sage, liebe Tante, kann ich dir irgend etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht?« Aber Minchen war nicht abzubringen. Sie[[1]] schüttelte nur den Kopf und blieb beim Thema. Und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beleuchtete sie es einmal von rechts und einmal von links. »Mir«, sagte sie, »hat er eigentlich nicht so schlecht gefallen wie Eli. Der nennt 'n immer nur 's litauische Pferdchen. Aber das eine muß er doch auch zugeben, daß Leder immer noch e aussichtsreiche Branche ist. Und e guter Geschäftsmann soll er ja sein. Und der andere? Nu ja, hätt er vielleicht damals de Stelle gehabt, die er heute hat, hätt man drüber reden können. Aber damals war er doch gar nichts ... wie e Doktor. Aber endlich, Jettchen, was geht's mich an? Das is doch deine Sache. Tu, was du willst. Uns soll's gleich sein. Bei uns wirste – nach wie vor – immer e offenes Haus finden. Und Eli fragt schon jeden Tag, warum de eigentlich nich mal auf e Viertelstündchen zu uns rüberkommst. Er freut sich doch immer so mit dir.« So sprach Tante Minchen. In schöner Regelmäßigkeit des Redeflusses. Und doch wäre es falsch, wenn man annehmen wollte, daß sie es etwa böse meinte. Sie[[1]] meinte es gut und war Jettchen wirklich zugetan. Aber das hinderte eben nicht, daß sie Jettchen mit ihren Worten das Herz abstieß; wie wir ja auch gemeiniglich denen am meisten weh zu tun pflegen, die wir am liebsten haben. Als Onkel Jason kam, sah er auf den ersten Blick, daß Jettchen traurig und mutlos, noch trauriger und mutloser als sonst war. Aber er tat, als bemerke er es nicht. »Ach«, sagte er, »Jettchen, da ist mir heute vormittag eine merkwürdige Geschichte passiert. Weißt du, hier an der Ecke am Köllnischen Fischmarkt sitzt doch die dicke Bücklingsfrau. Und als ich vorbeikomme, zählt sie gerade ihre Bücklinge ab. Eine, zweie, dreie, viere – das eine Dutzend stimmte nicht. Sie[[1]] zählt noch mal. Wieder dreizehn. Na, mich interessiert das, und ich stell mich zu der Frau hin. Mit einmal ruft sie: ›Herrgott‹, ruft sie, ›richtig, richtig, da is mir doch wirklich die olle Tante Minchen mang die Bücklinge mang jekommen.‹« Jettchen mußte lachen. Und Jason nahm ihre Hand. »Mädel, du mußt nicht immer zu Hause hocken. Du verklönst mir dabei ganz. Witz und Schönheit sind gesellige Kräfte. Denn, heißt es, was gewänne ein witziger Einsiedler und eine schöne Einsiedlerin? Wenn du rätst, wer das sagt, nehme ich dich morgen mit ins Schauspielhaus. Oder wollen wir übermorgen in die ›Schuld‹ gehen? ›Dort ist oder nirgends Heil, dort versöhnt das Henkerbeil mich mit mir, vielleicht mit Gott.‹ Willst du das hören, Jettchen?« Aber Jettchen wollte doch lieber noch nicht ins Theater gehen, weil sie dort so viele Leute sehen könnten. »Dann, Jettchen, wollen wir wenigstens einmal des Abends musizieren. Früher hast du noch manchmal gesagt: ›Jason, ich weiß ein Lied.‹ Aber jetzt bist du ganz still geworden.« Für das Musizieren war Jettchen eher zu haben. »Ja, schön«, meinte Jason, »dann lade ich dir deinen Freund ein, und er soll uns auf dem alten Tafelklavier eins vorspielen. Wer weiß, wie lange da keiner drauf gespielt hat. Denn mein bißchen Geklimper kann ich ja nicht Spielen nennen. Und wenn ihr ganz brav seid, dann zeige ich euch Sibirien.« Was Sibirien sei? Das dürfe er nicht sagen. Jettchen bat ihn, und Jason freute sich, sie aus ihrer Reserve zu locken. »Siehst du«, sagte er, »Sibirien ist die kleine Zierkommode da«, und Jason zeigte auf ein ganz niederes, geschweiftes Schränklein, das mit vielen Fächern bescheiden in der Ecke am Fenster stand. Es machte gar nichts von sich her neben den hohen Servanten mit den vielen bunten und weißen Porzellanen. Aber wenn man es näher ansah, so mußte man eine ganze Zeit bei seiner Betrachtung verweilen. Denn es war über und über eingelegt mit Elfenbein, Buchsbaum, Kirschholz und Rosenholz, und jedes Schubfach zeigte eine andere Szene aus dem Alten Testament; fein säuberlich in den Raum zwischen die beiden schweifigen Bronzegriffe hineingeschrieben. Da war die stolze Lea am Brunnen; und Josua und Kaleb, die die große Traube trugen; und Absalon, der mit den Haaren am Ast sich verfangen hatte und nun elendiglich sich verzappelte. Auch Josua als Reitergeneral war da, der der Sonne Vorschriften machte, wie sie sich zu benehmen hätte. »Du wunderst dich, warum das Schränkchen Sibirien heißt. Das hat noch dein Vater so getauft. Weißt du, es gehörte eigentlich dem alten Onkel Simon. Und wenn der von der Leipziger Messe kam, dann brachte er immer Lebkuchen mit und Bonbons und alles erdenkliche Schöne. Alles wanderte vor unseren Augen in das Schränkchen hinein. Nie ist wieder was herausgekommen. Und deswegen hat dein Vater das Schränkchen Sibirien genannt. Als es nachher keiner haben wollte, habe ich es mir genommen; nun bewahre ich eben meine[[Besitz]] Heiligtümer darin auf.« &&x Und Jason zog ein Fach nach dem andern und wies Jettchen Briefe, Locken und goldene {{Cha¬te¬laines}}; Büchlein und Bänder, Blumen aus Haar gebastelt; einen[[Anzahl]] Fetzen roter Seide mit den Lilien der Bourbonen aus dem zerstörten Thronzimmer der Tuilerien; eine kleine Alabasterbüste der {{Sontag}}, ein Täßchen mit dem Bild des Studenten {{Sand}}; ein Papiermaché-Figürchen mit Saphirs Wollkopf und ein paar Verse von ihm dazu; Uhren und Medaillons aus dem väterlichen Geschäft; silberne Riechbüchslein in Form von Schnecken mit beweglichen Hörnern oder solche wie Muskatnüsse mit vielem Geäder. Aber all das lag nicht wirr durcheinander, jedes hatte sein Plätzchen, sein Schächtelchen, sein Zettelchen mit der Lebensgeschichte. Doch Jettchen sah da auch – daran hatte Jason vielleicht nicht gedacht – einen[[Anzahl]] kleinen Fingerhut mit einer roten Granatplatte, der ihr einmal gehört hatte und den sie wähnte, verloren zu haben. Auf dem Blättchen standen – das sah sie – ein paar Verszeilen von Jasons steiler und zierlicher Hand. Und Jettchen wurde über und über rot. Und der Regen schwand, und es gab wieder sternklare, frische Nächte und Reif am Morgen auf niedern Dächern, auf Remisen, auf den Holzfassungen der Abwässer. Und es gab klare, mattblaue Winterfrühen, an denen die Sonne so ganz tief stand und die gewölbten Scheiben von Jettchens Zimmer mit roten Strahlen streifte. Das sonderliche Paar! Es lebte doch bald besser zusammen, als es sich selbst zugestand. Jettchen lernte sich in die kleinen Eigenheiten Onkel Jasons fügen, kleine Eigenheiten, die Jason außer dem Hause nie zeigte. Wer wußte zum Beispiel, daß er heimlich ein wenig schnupfte; wer, daß er selbst seine Porzellane und Gläser abstaubte und ihren Platz nach einer vorgeschriebenen Vorlage mit dem Zollstock bestimmte. Wer hätte geglaubt, daß er manchmal den alten, hohen Jägertschako aufstülpte und aus einem abgegriffenen Bändlein alte Lieder sang, mit deren Inhalt seine Anschauungen von heute so gar nicht mehr übereinstimmen wollten; oder daß er einen[[Anzahl]] geheimen Kult mit einer Frau trieb, von der er alles an Bildern und Stichen und Plakaten sammelte, dessen er nur habhaft werden konnte. An diesen kleinen Eigenheiten lernte Jettchen still vorübergehen, und es war gar nicht nötig, daß Jason sich hin und wieder mit der Sentenz des kleinen buckligen Physikers verteidigte: »Jeder ist in seinen vier Pfählen ein Sonderling« und dann nach einer geheimnisvollen Pause hinzufügte: »Das wissen am besten die Eheweiber.« Nein, Jettchen spann sich auch so langsam in die gleichen Kreise wie Jason ein, in denen man die Kapricen liebte und dem einfachsten Ding im Leben Bedeutung beimaß – in denen man vom Schnitt eines neuen Rockes sprach, als ob es eine Sache von hochpolitischer Bedeutung wäre, und über eine hochpolitische Tat wie die Amnestie witzelte, als ob es sich nur um den Schnitt eines neuen Rockes handelte. Jason war viel daheim. Nun ja, jeden Nachmittag von vier bis fünf ging er zu Stehely, und alle vierzehn Tage einmal stahl er sich heimlich zur Therbuschschen Ressource. Seine alte Gepflogenheit, auf Tage für alle Welt verschollen zu sein – man vermutete dann geheime Wege –, schien er jetzt ganz abgelegt zu haben. Ja, ob überhaupt in seinem Leben irgendein weibliches Wesen Figurantin oder Statistin spielte oder ob gar mehrere dieser leicht beschwingten Grazien ihre flatternden Schleier um seine geheimen Stunden woben, davon bemerkte Jettchen nichts. Jason schien jede Stunde in und außer dem Haus nur für Jettchen zu leben. Er brachte ihr immer etwas von seinen Ausgängen heim, und wenn es selbst einmal nur Neuigkeiten waren. Ohne daß Jettchen es äußerte, hatte er herausgefunden, daß man vergessen hatte, Jettchen einen[[Anzahl]] Muff mitzugeben, und er kaufte ihr nun einen[[Anzahl]] ganz kostbaren von Danneberg, einen[[Anzahl]] aus grünem Samt mit einem breiten Nerzbesatz, lang und groß wie eine Ziehharmonika. Den sollte sie nehmen, wenn sie mit ihm ausginge, des Abends einmal ins Theater. Aber Jettchen ging nicht viel vor die Tür. Und des Abends schon gar nicht. Höchstens, daß sie manchmal mit Fräulein Hörtel Einkäufe für den Haushalt machte. Aber dann eilte sie immer wieder, heimzukommen, denn sie fürchtete, Bekannte zu treffen. Und wenn sie wirklich irgend jemand sah, mit dem sie früher vielleicht ein paar Worte gesprochen hatte, dann beschleunigte sie noch ihre Schritte und bog hastig in eine Nebenstraße ein. Oder wenn das nicht ging und sie doch an ihm vorüber mußte, dann klopfte ihr das Herz bis in den Hals, während sie leise den Kopf zum Gruß senkte, mit Mienen reglos wie eine Statue. Kößling kam nicht gar oft. Er brachte eine Nachricht oder ein Buch für Jason, blieb am Nachmittag eine Stunde und ging. Und immer wieder war es das gleiche. Man sprach, man plauderte, Jason zeigte Bücher, Stiche, ja, er las auch einmal einen[[Anzahl]] Abschnitt vor, schritt mit langen, klappenden Schritten auf und nieder an seinen Bücherreihen, die ausgerichtet standen wie preußische Soldaten. Und er deklamierte, während er sein Gedächtnis nur manchmal mit einem Blick auf das Büchlein in seiner Rechten stützte, den Schlußchor des Helena-Aktes. Wie das schön sei! Wie griechische Verse. Die ganze »Braut von Messina« gäbe er dafür, gebe sie für ein paar Worte, für diese letzten Worte des Euphorion: Laß mich im finstern Reich, Mutter, mich nicht allein. Das seien Worte, über die man Stunden weinen könnte, alle Schauer der ewigen Nacht seien da in einen[[Anzahl]] Schrei gepreßt. So einfach sei es, daß es ein sterbendes Kind lallen könnte; und so gewaltig, daß der markerschütternde Klageruf des Prometheus uns nicht tiefer in den Ohren gellen könnte. Die schwersten Nöte des Menschen, sie klängen darin wieder; das angstvolle Sichhineinschmiegenwollen in zwei weiche Arme; und alle Jubel des Lichts klängen darin wieder, doppelt leuchtend im Augenblick des Abschieds. Schiller – Herrgott, Schiller ... alle Welt käme jetzt mit Schiller! Man sollte ihm ein ähnliches Wort bei ihm zeigen. Ob Kößling das könnte! Er sage: Reichtum; er sage: Fülle. Ob er das Gastmahl des Trimalchio kenne? Ob er Heinse kenne? Das wäre Reichtum, das wäre Gold und Purpur. Im Faß müßte es gären, nicht in den Flaschen. Und Jettchen fühlte während dieser Gespräche, wie sie beide, Kößling und sie, sich langsam und trotzig voneinander entfernten. Nur in den Dämmerstunden, wenn Kößling sich an das Spinett setzte und die feinen Tonfolgen der Mozartschen Sonaten über die Bücherreihen hinzogen und zu den Fenstern flüchteten, durch die der wilde, rote Abendhimmel über graublaue Dachrücken hereinsah – nur dann strebten sie sich entgegen und suchten einander. Dann gingen ihre Blicke nicht aneinander vorüber, sondern sagten sich Schmeichelworte. Stets war es dasselbe Spiel. Jason fiel es ein, daß er irgend etwas noch zu tun hätte. Darauf erhob sich Kößling, er wolle nicht länger stören. Und Jettchen und Jason begleiteten den Besuch bis auf den dämmrigen Flur hinaus. Aber dann mußte Jason zu seinem Bedauern gerade irgend etwas vergessen haben und mußte die beiden gerade jetzt sich selbst überlassen. Und es folgte der Abschied zwischen Tür und Angel, wortlos und stürmisch, ein Aneinanderpressen in dem kaum gelichteten Dunkel, als müsse dem Augenblick die Kraft und die Tiefe von Stunden gegeben werden. Ein kurzes und schmerzvolles Auseinanderreißen folgte, ein Zusammenstürzen von neuem und ein Sichtrennen mit brennenden Lippen ... Immer dasselbe unbefriedigte, zerrissene Spiel der Sehnsucht. Über ihre Lage sprachen sie nicht und nicht über ihre Aussichten. Sie[[1]] nahmen nur ohne Besinnung die flüchtigen Sekunden des Beieinanderseins. Was hätten sie auch groß davon sprechen sollen. Sie[[1]] standen auf dem alten Punkte, nicht einen[[Anzahl]] Zoll waren sie weitergekommen die ganzen Wochen. Nicht um einen[[Anzahl]] preußischen Zoll; wenn auch draußen die Frau Fama, die immer noch mit vier Rossen und zwei Vorreitern ihres Weges durch die Stadt kutschierte, sich jeden Tag Neues zu erzählen wußte über sie und ihre Lage. Was war denn daran wunderbar? Die Anteilnahme der Menge war eben einmal erregt und konnte nicht zur Ruhe kommen. Und da die Wirklichkeit keinen Anhalt bot und allzu langsam dahinfloß, so waren viele Köpfe und Sinne damit beschäftigt, etwas mehr Strömung dem trägen Fluß der Ereignisse zu verleihen und täglich – je nach Partei – die baldige Rückkehr und Aussöhnung oder die sofortige gerichtliche Scheidung zu proklamieren oder gar noch andere, lebhafte und freudige Ereignisse in Aussicht zu stellen. Aber was blieb denn eigentlich von alldem? Jettchen wußte, daß Onkel Jason ihretwegen Gänge machte, daß er Advokaten aufsuchte. Sie[[1]] hörte zu, ruhig und widerspruchslos, wenn er ihr Gesetzesparagraphen vorlas, die sie nicht verstand und die ihr wie eine Verhöhnung der Vernunft und jedes natürlichen Empfindens vorkamen. Ja, Jettchen erfuhr, daß Jason selbst mit dem Onkel Naphtali, dem Senior aller Jacobys, der nun doch den teuren Gasthof mit der billigeren Wohnung seines eheverlassenen Neffen vertauscht hatte, mit Onkel Naphtali bei Stehely konferiert hatte; daß Onkel Jason zweimal vergeblich versucht hatte, den Vetter Julius in höchsteigener Person im Geschäft zu stellen; daß Onkel Jason mit seinem Bruder Salomon ganze Stunden im Kontor hin und her gesprochen hatte und daß Ferdinand wichtige Wege ihrethalben machte – über all das war Jettchen wohl und genau unterrichtet. Aber was eigentlich hinter den Kulissen sich abspielte, auf welchem Punkte man stand, davon hatte sie doch nur ganz vage Vorstellungen. &&x Soviel erfaßte sie immerhin, daß es nicht um sie allein mehr ging und daß die ganze Ehesache sich außerordentlich verwickelt und verknotet hatte, daß alles Erdenkliche mit daran hing: Familiendinge und Geldsachen. Jettchen hörte von großen Summen, die dabei auf dem Spiel standen; und sie sollten von dem braven Vetter Julius mit einer Schnelligkeit ins Treffen geführt worden sein, die selbst der Kriegskunst eines Napoleon alle Ehre gemacht hätte. Und sofern sie sich nicht in duftende Lederballen gelöst hatten, taten sie nun mit bei allen möglichen Unternehmungen, von denen Kaufleute alten Schlages fein säuberlich die Finger ließen. – Von ganz großen Summen hörte Jettchen, die auf dem Spiel standen, ohne daß sie sich einen[[Anzahl]] rechten Begriff machen konnte, was sie eigentlich zu bedeuten hätten. Denn was Geld war, hatte Jettchen im Hause Onkel Salomons nie erfahren. Man bezahlte das, was man kaufte; und kaufte das, was man brauchte. Und wenn es wirklich mehr war wie bei anderen Leuten, so machte man sich auch keine Gedanken; man hatte den lieben Gott so gewöhnt, und es gehörte nun einmal zum Leben. Eines Vormittags aber kam Jason heim mit nassen Sachen, denn es war draußen ein unfreundlicher Tag. Er bringe eine wichtige Neuigkeit für Jettchen, sagte er; ob sie es schon wüßte ... das rate sie gewiß nicht. Und Jettchen wurde es ganz heiß bei Jasons Worten, da sie glaubte, daß das eine Wendung in ihrem Geschick beträfe. Ja, meinte Jason und ließ plötzlich hinter dem Rücken eine Knarre kreisen, er sei eben da entlangegangen. Auf dem Schloßplatz schlügen sie schon die Buden auf; und die ganze Breite Straße herunter sei man auch schon an der Arbeit; und auf der Schloßbrücke säßen nun wieder die Kinder mit ihren Dreierschäfchen und riefen: »'n Sechser der Bock, 'n Dreier das Schaf!« Vor den Walddeibeljungen aber wüßte man sich gar nicht zu retten. Wenn erst alles im Gange wäre, morgen oder übermorgen oder nächste Woche, da müßten sie einmal beide nachmittags auf den Weihnachtsmarkt gehen. So zwischen vier und fünf, wenn gerade das Licht angezündet würde und man doch noch etwas sehen könnte. Dann wär's am schönsten: unten die langen erleuchteten Budenreihen und das Schloß darüber und der farbige Winterhimmel dazu. – Oder wenn es vielleicht Schnee gäbe, dann müßten sie hingehen. Und es gab Schnee – schon am nächsten Tag. Des Abends hörte Jettchen noch den Ostwind durch die Straßen heulen wie einen[[Anzahl]] herrenlosen Hund, und als sie an das Fenster trat, sah sie oben auf einem tiefschwarzen Himmel weiße, ganz helle Wolken dahingleiten, wie mächtige weiße Bettücher mit zerschlissenen Rändern. Und wenn für einen[[Anzahl]] Augenblick ein Stern zwischen ihnen in den schwarzen Rissen aufblinkte – schon war er verschwommen, schon war er verschleiert; aber kaum daß er wieder aufzuckte, verlosch er von neuem. Zur Nacht aber ließ der Wind nach und ächzte nur noch manchmal auf in der Ferne; bis er endlich ganz einschlief. Ein jedes Schwarz am Himmel schwand dahin, daß er nur so ganz stumm herniederhing, wie in grauen Wattelasten. Als jedoch Jettchen dann in der nächsten Frühe erwachte, fand sie das grüne Zimmer so seltsam hell und ruhig. Kein Laut von der Straße drang herauf. So war es die ganze Zeit über nicht gewesen. Und als Jettchen darob erstaunt sich umwandte, sah sie durch das Fenster in ein Stück trübgrauen Himmels hinein, und daraus tanzten immerzu kleine, weiße Plättchen und Federchen herab, langsam und sorglos. Und als sie nun aufsprang und an das Fenster eilte, da sah sie, daß drüben schon ganz dicke weiße Samtpolster auf allen Dächern lagen und daß schon jeder Vorsprung und schon jede Kante an Fenstern und Giebeln mit einem breiten Streifen von weißem Pelz besetzt war. Ein paar heidnisch nackte Götterfiguren, die sonst drüben auf dem Gesims froren und fröstelten, daß Jettchen oft fast glaubte, sie mit den Zähnen klappern zu hören, hatten schnell aus weißem Zobel dicke Mäntel umgebunden und schienen nun ganz glücklich und zufrieden. Der ganze Straßenzug aber unten war blank und licht, wie ein Leinentuch; kaum daß auf dem Bürgersteig ein paar erste frische Stapfen durch den lockeren Schnee führten; kaum daß eine erste breite Wagenspur auf dem Damm ihn niedergepreßt hatte. Doch jeder Zaunpfahl beim Lagerhaus hatte schon eine Großmutterhaube sich umgebunden; und auf das Laubendach war über Nacht ein schweres damastenes Tischtuch gedeckt worden – so rein, so neu gewebt, wie das keine Bleicherin von der Bleiche bringt. Auch die schweren Äste der Bäume hinten jenseits der Mauer hatte der Schnee weiß nachgezogen und mit jeder Krümmung in Silber nachgezeichnet. Und in die feinsten schwarzen Netze der Zweige und Zweiglein der Büsche und Hecken hatte er noch vorerst wenigstens flockige, lockere Watteballen gesteckt und geheftet. Die Brunnen jedoch, die strohumwickelten Holzbrunnen, standen nun ganz und gar eingemummelt da – wie Schneemänner. Aber wenn eine Schneelast sich löste und von dem Gesimse oder den Zweigen herabschwebte, so vermählte sie sich mit dem weißen Boden, und man sah schon im Augenblick nachher nicht mehr die Stelle, wo sie niedergesunken war. Und immer von neuem glitt und flatterte das vom Himmel herab – leise, müde und gleichmäßig, ohne Aufhören und ohne einen[[Anzahl]] Windhauch, so daß die Fernen vor den weißen, rieselnden Schleiern licht verdämmerten. Und dazu diese Stille ... diese wundervolle Ruhe, die wie mit Katzenpfoten durch die Straßen schlich! Jeder Laut – das Zwitschern eines Spatzen, das Knarren einer Wagenachse, der Ruf eines Fuhrmanns, der von unten heraufdrang verlor sich sofort wieder und machte die weiche Einsamkeit des Schneetages nur noch müder und noch träumerischer. Gegen Mittag aber ließ der Schnee nach, und es kam der kalte Nebel und der rauhe Frost von draußen hinein in die Straßen, und sie trugen die Schönheiten des Winters bis an die letzte und geschützteste Stelle. Was vordem der Schnee vergessen hatte, das überzog nun der Rauhfrost mit seinen ganz feinen, glitzernden Kristallnadeln, die wie die Haare eines Pelzes emporstanden. Die Muster der niederen, verrosteten Eisengitter vor Jettchens Fenster wurden zu klaren weißen Linien; und die alten Spinnennetze, die dazwischen taumelten und an denen Jettchen wohl nun an hundertmal achtlos vorbeigesehen hatte – sie wurden plötzlich zu feinen Stickereien von weißen Perlenfäden. Wenn vordem nur die schweren Äste der Bäume drüben sich Weiß aufgelegt hatten, so zog jetzt der Rauhfrost auch das letzte Zweiglein, die heimlichste Knospe nach und machte sie weithin sichtbar, als wären sie aus blinkendem Glas und grauem Silber gesponnen. Um die Großmutterhauben der Zaunpfähle aber und um die weißen Pelzkappen der Figuren drüben auf dem Dach, da häkelte er – der Rauhfrost schnell mit ganz leichter Hand zarte Spitzenbesätze und zierliche Blonden. Und wenn Wagen unten vorüberfuhren mit dampfenden Gäulen, so hatte er auch schon die Geschirre umflochten und umzogen! Aber wie jeder Laut der Stadt in dieser weißen Stille ertrank, so versank auch der Blick in diesem träumerischen Weiß, in diesen dumpfen Nebelwänden, die von allen Seiten herandrückten und schon machten, daß die Dächer weiter drüben und die Spitze des Kirchturms hinten sich ganz im Dunst verloren. Am späten Nachmittag jedoch, kurz vor dem Dunkelwerden, als die Zimmer nur noch der Widerschein des Schnees draußen erhellte – Jettchen hatte gewartet auf Kößling, der ihr versprochen hatte zu kommen, und Jason ordnete hinten an seinen Stichen –, da brachte der Hausdiener Gustav ein Brieflein von Tante Rikchen; er müsse Antwort heimbringen. Jettchen, die jetzt sehr schreckhaft war, dachte, wunder was es gäbe. Aber es hieß nur da, ganz kurz und freundlich: sie beide möchten den Abend zu Salomon Gebert kommen. »Jettchen, willst du?« fragte Jason. Doch Jettchen, die fürchtete, die Tante hätte es so eingerichtet, daß sie dort jemanden träfe, den sie um keinen Preis treffen mochte, und die lieber eine erste Aussprache mit Tante Rikchen oder dem Onkel Salomon unter vier Augen gehabt hätte, sagte, sie ließe vielmals danken, aber sie fühlte sich nicht so recht wohl, und sie würde dafür in den nächsten Tagen die Tante besuchen. Jason aber antwortete, daß er gern kommen würde, und fragte, ob Herr Elias Geben und Herr Ferdinand Gebert auch da wären. Zu Jettchen hingegen äußerte er, daß er diese Zusammenkunft schon lange gewünscht habe und daß er sich viel von ihr für ihre Sache verspreche. &&x Und draußen kam dann die Nacht heran – frostig und seltsam. Der Himmel schien schwarz und war doch von einem eigenen, unheimlichen Leuchten durchdrungen. Die Häuser, die sonst im Dunkeln untertauchten, zeigten mit phantastischen weißen Bändern die Linien und Rhythmen ihres Baus; und gleich breiten Rücken schlafender Tiere lagen die Dächer darüber. Die Straße unten aber dämmerte dahin in einem grauen Band; und nur dort, wo die Laternen ihre zuckenden Lichtscheine über den Schnee warfen, war sie mit schnell wechselnden gelblichweißen Quadern bedeckt. Es war ganz still; und der Schatten, der vielleicht neben dem Lichtschein auftauchte, war im Augenblick wieder verschwunden. Kaum daß man vermuten konnte, ob das nun ein Mann oder eine Frau gewesen war. Den ganzen Abend lehnte Jettchen am Fenster und sah in die halbe Dunkelheit hinaus. Das Essen stand unberührt vor ihr; knapp, daß Jettchen einen[[Anzahl]] Schluck Tee[[2]] genommen hatte und einen[[Anzahl]] Bissen Fleisch. Und wenn Jettchen etwa zu lesen versuchte – es waren die »Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde«, ein Buch, das ihr Jason unter Vorbehalt eingehändigt hatte: es wäre auch eine Seite des Lebens, die bestehe und seinen Wert habe, aber über die man zu schweigen sich angewöhnt habe –, wenn Jettchen etwa zu lesen beginnen wollte, schwammen die Zeilen ihr ineinander, so erregt und ängstlich war sie. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie mit Jason zu den andern hätte gehen können. Gewiß war die Stube hier warm – fast zu warm; der weiße Feilnersche Porzellanofen strahlte förmlich vor Hitze, und jeder Winkel atmete Heimlichkeit; wie ein goldner Kreis lag der Schein der Messinglampe überm Tisch. Aber es war doch nicht warm – dieses Zimmer – von Menschen, von Worten, von häuslichen Gewohnheiten. Es hatte nie etwas vom Geruch des Bratens oder vom Blinken des schweren Silbers und des roten Glases. Es war eine Stube, in der noch kein Kinderlachen erklungen war oder das sorglose Geplauder von schwatzenden Frauen. Und diese Empfindung legte sich Jettchen auf die Brust, wenn sie allein war. – Aber heute kam noch die Angst dazu um Kößling, der am Nachmittag hatte kommen wollen und um den sie nun jede Minute wieder an das Fenster eilte; dessen Gestalt sie in jedem vermutete, der unten neben der Laterne auftauchte, nur um nach wenigen Schritten wie verweht und vergessen wieder in der Winternacht zu verschwinden. Es war in letzter Zeit öfter geschehen, daß Kößling sich verspätet hatte. Dann kam er angelaufen, mit hochroten Wangen und wirren Haaren, noch ganz fiebrig vom Schachtisch her. Er hätte sich nicht trennen können. Bilgner sei auch im Royal gewesen und Löwenthal. Das hätte eine interessante Partie gegeben; ein Zweispringerspiel. Er habe den Schluß nicht abwarten können; aber er habe die Stellung aufgeschrieben. Bilgner stände um eine Idee stärker, doch es schien ihm fraglich, ob es auch zum Siege ausreiche. Jettchen war dann das Weinen näher als das Lachen. Sie[[1]] hätte so gern einmal mit Kößling gesprochen, von dem, was ihn anging, von seinen Arbeiten und Plänen; sie glaubte an den Dichter in ihm. Und immer kam er mit roten Wangen und leuchtenden Augen und erzählte von einer Schlußkombination, die eines Stamma würdig gewesen wäre: die schwarze Königin hätte sich auf der H-Linie geopfert, und Läufer und Springer hätten dann ein vierzügiges Matt gegeben. Jettchen verstand diese plötzliche Leidenschaft Kößlings nicht, und sie vermochte auch nicht in irgendeinem Zug das Überraschende und Neue zu erblicken, daß Kößling noch am nächsten Tage in seinem Bann hielt. – Nur manchmal kam Jettchen so ganz dumpf die Empfindung, als ob diese plötzliche Hingabe an das Schach für Kößling mehr bedeute als eine bloße Zerstreuung, als ob sie eine Flucht und eine Betäubung wäre; dann meinte Jettchen, daß er es tue, weil er sie nicht mehr liebe, und war noch unglücklicher denn vorher. Heute war er nun ganz fortgeblieben. Jason hatte ihn zwar entschuldigt und gemeint, daß der Schnee daran schuld sei und das schlechte Wetter oder daß Kößling nicht ganz auf dem Posten sei. Aber das glaubte Jettchen nicht, und sie konnte sich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß er nicht käme. Immer wieder drückte sie die Stirn gegen die Scheiben und sah – einmal nach rechts und einmal nach links – die Straße hinab, folgte jedem mit spähenden Blicken, der unten im Lichtkreis der Laternen auftauchte und im Dämmer wieder verschwand. Aber immer seltener wurden diese einsamen Gestalten, und schon wollte Jettchen sich mutlos von ihrem Fensterplatz zurückziehen, als sie sah, wie unten jemand ganz hastig an der Laterne vorüberging, mit langen Schritten. Am Gang meinte sie Kößling erkannt zu haben; und sie lief an die Korridortür und lauschte hinaus in das halbhelle, breite Treppenhaus, in dem ordentlich die Kälte von unten emporstieg. Erst nach einer ganzen Weile hörte Jettchen Stufen klingen und vernahm ein hastiges Atmen. Und dann – dann stand Kößling vor ihr: ganz erregt, rot vom Frost, mit offenem Mantel und verzerrter Krawatte. Und Jettchen warf sich ihm entgegen. Aber Kößling erwiderte ihre Liebkosungen kaum, so daß Jettchen sich ganz erschrocken aus seinen Armen wand. Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, daß er so spät käme ... »Nein – nichts«, meinte Kößling in einem Ton, der seine Worte Lügen strafte, »nein – gar nichts.« Doch – doch, er solle es ihr sagen. Nein – er habe sich wirklich nur verspätet; ob ihr Onkel Jason vielleicht da sei. Der sei heute abend bei Onkel Salomon. Aber warum sie denn hier draußen ständen! Er möchte hineinkommen. Ob er denn nicht vielleicht noch etwas essen wollte. Nein, nein, er könnte nicht hineinkommen, er müsse nach Haus; er hätte eben nur gern heute noch Jason Gebert gesprochen. Warum er denn nicht wenigstens auf einen[[Anzahl]] Augenblick hineinkomme! Kößling zögerte, und Jettchen sah neben ihm zu Boden, unmutig und traurig. »Mein liebes Jettchen«, begann Kößling endlich, »meinst du denn wirklich, du großes Kind, ich bliebe nicht lieber hier bei dir, ganz bei dir, immer und ewig? Ich denke ja nichts anderes mehr als dich, Tag und Nacht, und zähle die Stunden, bis ich dich wiedersehe.« Und Jettchen wurde heiß unter seinen Küssen. »Aber ich habe deinem Onkel mein Wort geben müssen, nie in seiner Abwesenheit diese Wohnung zu betreten. Und Jettchen – wirklich, Jettchen, es will mir fast selbst scheinen –, es ist besser so.« Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, er solle es doch sagen. Nein, nein, gar nichts. Aber er hätte doch gern noch Jason Gebert gesprochen. Und wieder warfen sie sich einander in die Arme. Wortlos und stürmisch. Aber als Jettchen drinnen Fräulein Hörtel mit dem Geschirr klappern hörte, da war es ihr, als ob sie etwas Böses täte, als ob sie ein Vertrauen mißbrauche; und auch ein anderes, was sie vordem nicht gekannt, flammte dazwischen auf: Angst vor sich selbst und vor ihren Sinnen. So löste sie denn die Arme von Kößlings Schultern und die Lippen von Kößlings Lippen und schlich sich auf den Zehen zurück zur Tür, ihm winkend, daß er ganz still sein sollte. Leise, zitternd und leise zog Jettchen dann hinter sich die Tür ins Schloß. Aber als sie im Zimmer war, da überfiel sie von neuem die Unruhe, daß Kößling etwas zugestoßen sei, daß er ihr etwas verschwiegen habe, und sie mochte sich nicht entkleiden, bis Jason wiederkommen würde. Alle Augenblicke stand nun Jettchen vom Buch auf und sah in die Winternacht; sah auf die phantastischen weißen Bänder und Linien der Häuser drüben; sah auf die weißen Rücken der Dächer drüben; sah auf das dämmrige Band der Straße, in die zuckenden Lichtscheine unten, und blickte hinauf in den schwarzen Himmel, der doch wieder von einem unheimlichen Leuchten durchdrungen war. Und wenn Jettchen jetzt noch auf die Gestalten geachtet hätte, die unten im Schnee sich bewegten, so hätten sie die gleiche Gestalt, den gleichen Gang wie vorhin wohl noch oft sehen können. Denn immer wieder trieb es Kößling um das Haus, und hundertmal kämpfte er mit sich, ob er noch einmal unter irgendeinem Vorwand sich heraufwagen könne. Nur für einen[[Anzahl]] kurzen Augenblick, nur für ein Wort und einen[[Anzahl]] Gruß. – Und er schlich immer wieder um das Haus, vorsichtig nach oben spähend wie der Marder in der Winternacht um den Taubenschlag. Als Jason draußen die Galoschen auszog, war bei Tante Rikchen schon die Stube voll von Leuten. Und der Lärm von vielen Stimmen und die Wärme der gutgeheizten Zimmer und der Geruch von Braten drang zugleich mit der reichen Helligkeit auf den Ankömmling ein. Alle waren sie eigentlich schon da. Man hatte nur auf ihn noch gewartet, um zu Tisch zu gehen. Das ganze Zimmer war voll von Menschen; man konnte auf den ersten Blick gar nicht sehen, wer das etwa alles war. &&x Jason Gebert kam es ganz seltsam vor. Denn er war lange Monate nicht hier oben gewesen, seit dem Spätsommer, seit seiner Krankheit nicht mehr. Zu seinen Besprechungen, mit dem Bruder war er in der letzten Zeit stets in das Geschäft gegangen. – Ganz seltsam kam es Jason im ersten Augenblick vor, daß alles noch wie einst war; daß kein Möbelstück in der Zeit verschoben worden war und daß an den Fenstern immer noch die Biskuitbilder an ihren kleinen Ketten zitterten und schaukelten, über den Fensterkissen mit den Rosengirlanden unschuldweiß hüben und rosenrot drüben. Ganz seltsam kam es ferner Jason Gebert vor, daß wieder die schweren Damasttücher auf dem Tisch lagen und all das Silber wie einst dastand: die beiden Fruchtschalen aus blauem Glas, die von den silbernen Delphinen getragen wurden, und die vier hohen silbernen Leuchter ... wie ionische Säulen daneben. Und ebenso, als ob sie gar nicht inzwischen fortgegangen wären, saßen auch wieder auf den beiden hohen Stühlen einträchtig nebeneinander Minchen und Eli. Das schiefe, kleine Minchen mit dem violetten Kleid und dem Blondenhäubchen, gleich einem Veilchen, das im Verborgenen blüht, gleich einem fliederfarbenen Miniaturgebirge, und Eli mit seiner besten weißen Perücke und in seinem besten blauen Frack mit neu geputzten Goldknöpfen daneben; und in all dem Lärm hielt Eli wieder sein Nickerchen, treu behütet von der kleinen Person neben sich. Gewiß, Jettchen fehlte, die immer hier wie das Licht in einem alten holländischen Gemälde gewesen war, das Licht, um das sich ja all die anderen halbhellen Töne anordnen; aber keiner schien das Licht auch nur zu vermissen. Und wenn Jason selbst nicht gewesen wäre? Nun, was dann? Auf seinem Stuhl hätte dann vielleicht auch ein anderer gesessen, wie auf dem Jettchens; oder es hätte eben ein Stuhl weniger am Tisch gestanden. Aber kein Silberleuchter hätte deshalb weniger auf der Tafel geblitzt; keine {{Sa¬la¬tiere}} weniger ihre gemalten Blumensträuße zur Schau getragen; sein Bruder Salomon hätte ebenso förmlich und liebenswürdig den Wirt gespielt, und man hätte die gleichen Gespräche geführt, und der gleiche Duft von stiller, in sich zufriedener Wohlhabenheit hätte – fast sichtbar – wie eine Wolke über dem Raum und den Menschen sich gelagert. Er und seine beiden Schützlinge, Jettchen und Kößling – sie drei –, das fühlte Jason wie eine Beklemmung, als er in das alte, wohlbekannte Zimmer trat, waren eben nur die Vorübergehenden, das hier waren die Bleibenden. »Ach, Jason«, rief Tante Rikchen ihren Schwager an, der so ganz verwirrt von all dem Lärm in der Tür stehengeblieben war, »es freut mich, daß du doch gekommen bist. Nun können wir gleich anfangen. Warum hast du aber Jettchen nicht mitgebracht?« »Sie[[1]] kommt in den nächsten Tagen mal zu dir, liebe Schwägerin.« »Na siehste«, sagte Rikchen befriedigt und behäbig, »das ist doch endlich mal ein vernünftiges Wort von ihr.« »Herrgott, Jason, alter Junge«, unterbrach Ferdinand und klopfte Jason Gebert mit der flachen Hand auf den Rücken. »Jetzt mußt du mal zu mir kommen und dir die Wagen für den Prinzen Karl ansehen. Ein Tilbury und Kabriolett – so was findst du nich in deinem Paris.« »Ja, sie sind wirklich göttlich«, sagte Hannchen verlegen; denn die Begegnung mit Jason war ihr nicht lieb. Sie[[1]] trug nämlich ernstliche Bedenken, daß Jason etwas hinterbracht worden wäre von ihren Klatschereien, die sie in so zahlreichen Abwandlungen in die Welt hinausgesandt hatte. Hannchen stand zwischen Pinchen und Rosalie, und ihre Fülle verhielt sich zur Schmächtigkeit der anderen wie der {{Lao¬koon}} zu seinen beiden Söhnen. Jason war ziemlich erstaunt, Pinchen und Rosalie immer noch in Berlin anzutreffen, und ihre Kleider kamen ihm auch so eigentümlich bekannt vor. Jason war nämlich fest der glücklichen Überzeugung gewesen, Pinchen und Rosalie wären von Ferdinand und Hannchen schon längst wieder nach den gesegneten Gefilden Bentschens verstaut worden; ja, er äußerte sich auch dahin zu seinem Bruder Ferdinand, der ihn in eine Ecke gezogen hatte und ihn beim {{Gilet}}-Knopf hielt, während er ihn in seine Geschäftsgeheimnisse des Oberbaus, des Doppellacks, der Montierung und der Ringfedern einweihte. »Nu«, sagte Ferdinand und zuckte die Achseln, »weißte, sie sagen, sie wollen nich eher abreisen, ehe die Angelegenheit mit Julius vollkommen klar is. Die Ungewißheit, meinen[[Meinung]] sie, könnten sie zu Hause in Bentschen nich ertragen.« »Ach«, versetzte Jason trocken, »da können sie ja inzwischen Berlin noch ganz gut kennenlernen.« »Kennenlernen?« meinte Ferdinand. »Ich sag's dir, Jason, was du ihnen gibst, stecken sie ›{{chap}}‹ in die Tasche. Du siehst und hörst nie wieder was davon. Du kannst ihnen das Schönste und Beste bieten – phüt! –, im nächsten Augenblick is es weg, als ob du ins Meer gespuckt hast. Nichts macht auf sie Eindruck!« Jason sah die Mädchen durch das Knipsglas an. »Nu, Ferdinand«, sagte er, »Pinchen sieht doch eigentlich ganz nett aus.« Ferdinand schüttelte den Kopf. »Lieber Jason«, sagte er belehrend, »die müßtest du mal des Morgens ohne Geschirr sehen, dann würdest: du das am Abend nicht mehr sagen.« Naphtali kam vorbei. Er hatte seinen langen, braunen Rock an mit dem Kragen von Anno dazumal; und wenn man auch nicht mehr ganz genau feststellen konnte, was es alles auf Jettchens Hochzeit gegeben hatte, eine halbklare Vorstellung konnte man nach Naphtalis braunem Rock noch leidlich gut davon gewinnen. Jason dachte zuerst, Naphtali hätte sich schon ein Brötchen vom Tisch genommen, weil er so mimmelte; aber dann sagte er sich, daß der alte Naphtali wohl nicht die Fertigkeit besäße, zugleich zu essen und zu summen wie eine Winterfliege in der Ofenecke. »Nu, Herr Jason«, sagte Naphtali, unterbrach seine Fußwanderung und blieb stehen, »ich seh, Se werden auch schon grau.« »Was macht Julius heute?« fragte Ferdinand. »Kommt er?« »Nu, was wird Joel tun?« antwortete Naphtali. »Er arbeitet eben; immerr is er im Geschäft – vorgestern bis zwölf Uhr nachts. Wenn sein Vater so hinterher gewesen wäre, wie er es ist, hätt er anders dagestanden. Das sag ich Ihnen!« Salomon kam hinzu, er sah nicht gut aus. Die Sommerfarbe von Karlsbad her war schon wieder ganz abgeblaßt. »Na, Jason«, sagte er, »es ist gut, daß du da bist, da können wir ja nachher mal zusammen reden!« »Ach bitte, zu Tische!« rief Rikchen, so daß Eli ganz verdattert von seinem Stuhl auffuhr und fast die Perücke vom Kopfe verlor. »Wo sind eigentlich Wolfgang und Jenny?« fragte Jason Ferdinand, während er sich seinen Platz suchte. »Ach, weißt du, ich hab die Kinder lieber heute mal zu Hause gelassen; erstens wollen wir doch miteinander sprechen, und dann hustet Wolfgang ein bißchen. Er ist ja nun bald in dem Alter, und da kann das leicht mal vorkommen. Aber ich hab mir gesagt, bei so einem Wetter ist es für den Jungen doch besser, wenn er des Abends zu Haus bleibt. Max kommt aber noch – er macht sich jetzt ganz gut 'raus im Geschäft.« Man ging zu Tisch. Jason kam neben Rikchen zu sitzen, geradeüber von Ferdinand. Salomon war Hannchens Tischherr. Eli und Minchen jedoch waren unzertrennlich; denn Minchen meinte, sie müsse auf Eli achten. Aber damit sie doch nicht ganz zu kurz käme, hatte man ihr den Senior aller Jacobys, Onkel Naphtali, rechts noch als Courmacher zugesellt. Und hinter Pinchen und Rosalie tauchte plötzlich, aus irgendeinem geheimnisvollen Winkel, das alte Fräulein mit den Pudellöckchen auf. Max trat auch in dem Augenblick ein, als gerade die Mädchen begannen, die großen Fische herumzureichen, deren Stücke ganz eingebettet lagen in allerhand Zutaten von Wurzeln und Semmelklößen – und so fehlte keiner mehr. »Die Fische sind wirklich gut«, sagte Ferdinand und hielt seine Nase über den Teller. »Ich kann reden, solang ich will, zu Hause kriege ich sie nie so!« »Weißt du, Rikchen«, sagte Jason und kostete bedächtig, »ich werde von jetzt an wieder jede Woche bei dir essen.« »Bitte, wir werden uns immer freuen, wenn du kommst«, versetzte Salomon. »Nicht wahr, Rikchen?« »Gewiß, Jason, komm nur, bei Frank kriegst du nicht solche Fische.« »Was sagste doch zu dem Wetter?« unterbrach Hannchen. »Hier is ja sehr scheen warm«, mischte sich Rosalie ins Gespräch, »aber bei euch ze Hause hat merr heute nachmittag dermaßen gefroren, daß merr beinahe de Ringe von de Finger gefallen sind.« »Vielleicht is es in Bentschen wärmer«, entgegnete Ferdinand; aber er verkündete das Geheimnis so leise, als wolle er es nur dem Fischkopf vor sich auf dem Teller anvertrauen. Seine Frau jedoch war hellhörig, und sie warf ihm einen[[Anzahl]] bittenden Blick zu. »Ja«, begann sie, um ihren Mann abzulenken, denn bei Ferdinand konnte man nie wissen, ob er nicht im nächsten Augenblick seine Stimme erheben würde, und zugleich wollte Hannchen auch sich und die Ihrigen in das rechte Licht setzen. »Ja ... der Prinz Karl hat doch Ferdinand noch ganz genau gekannt.« »Na, meinste vielleicht, er hat ›Pehmüller‹ zu mir gesagt? Er hat doch noch vom Vater her gewußt, wer wir sind. Wenn damals nich de Sache mit dir gekommen wäre – mit der Hausvogtei –, hätt ich den Hof schon längst gekriegt. Nu, mir tut's nich leid; und es is auch so gegangen.« &&x Jason bekam einen[[Anzahl]] roten Kopf, und Salomon sah das, aber da er Reibungen vermeiden wollte, sagte er: »Hast[[Besitz]] du gehört, Krüger soll ein großes Reiterbildnis vom Zaren Nikolaus gemalt haben? Es soll sogar hierherkommen.« »Man behauptet, daß das Pferd ganz vorzüglich getroffen ist«, warf Jason dazwischen. »Laß das nich Louis Schneider hören«, meinte Ferdinand. »Ich hab ihn neulich sogar als Hofrat Heese gesehen – sehr gut, sehr gut«, sagte Salomon und lachte, noch im Nachgeschmack des gehabten Vergnügens, vor sich hin. »Ich mach mir nichts aus Schneider«, meinte Jason, »er spielt mir zu sehr ins Parterre.« »Höre mal«, rief Eli über den Tisch, so laut er konnte, denn er hatte heute seinen lauten Tag. »Du gibst immer noch gut, Rikchen. So 'ne Fische, wie die Fische, kann man heut gar nicht mehr kriegen.« »Nu«, sagte Rikchen, »wenn was übrigbleibt, Eli, schick ich's dir morgen früh mit dem Mädchen herum.« »Aber vergiß nich, Rike«, gab Eli zurück und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu. Bei dem Wort »Mädchen« zuckte Hannchen zusammen wie der Froschschenkel im galvanischen Strom. »Richtig, was ich noch erzählen wollte: Unsere Anna hat doch geheiratet. Vorigen Sonntag war Hochzeit. Er is nebenbei ein bildschöner Mensch. Er sieht aus wie ein Künstler. Weißte, Rikchen, er is doch seit drei Jahren Gehilfe drüben beim Friseur Baumbach; und er is immer des Morgens gekommen, um Ferdinand zu barbieren, und so haben se sich wohl kennen- und liebengelernt. Ich hab – nebenbei – ihnen zur Hochzeit zwei große Porzellanspucknäpfe mit gemalten Rosengirlanden geschenkt; aber se haben gesagt, daß sie ihnen so sehr gut gefallen hätten, daß sie sie doch lieber als Kuchenteller brauchen möchten.« Jason lachte. Eli aber hatte den Kopf schräg über den Tisch gehalten, um besser zu hören. »Ach so!« sagte er. »Der junge Mann von Baumbach! Ich hab schon geheert, de Kindtauf wird nich mehr lange auf sich warten lassen.« »Wirklich!« bestätigte Minchen. Hannchen bekam plötzlich ein sehr langes Gesicht. »Nun«, meinte sie zaghaft, »das is endlich bei solchen Leuten mal nich anders.« Aber Ferdinand, der schon die ganze Zeit sehr unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerückt war, fuhr los: »Ich begreif nich, Hannchen, warum du die Leute immer mit deinem Geschwätz langweilst!« Max, Pinchen und Rosalie hinten am Tischende kicherten und hielten sich die Servietten vor den Mund. Hannchen aber schien sich diese Mahnung zu Herzen zu nehmen, denn sie war den ganzen Abend über – durchaus gegen ihr Naturell – sehr schweigsam. Doch ehe noch die Pause zu lang und zu inhaltsreich wurde, begann Salomon: »Eine sehr nette Sache habe ich neulich gehört, weißt du, Rikchen, die von Heine. Wie war sie doch?« »Ach ja«, half Rikchen ein, »das war wirklich sehr reizend. Heine hat aus Paris an seinen Onkel nach Hamburg geschrieben ...« »Laß mich doch erzählen! Nie läßt du einen[[Anzahl]] ausreden! Also hör zu, Jason. Der Dichter Heinrich Heine hat aus Paris an seinen Onkel, den Bankier Salomon Heine, nach Hamburg geschrieben, ob jener was dagegen hätte, wenn er sich von jetzt an nach seiner Mutter ›Heine van Geldern‹ nennen würde. Da hat ihm der Onkel zurückgeschrieben, er hätte gar nichts dagegen, daß er sich Heine van Geldern nenne, da er doch sowieso die Gelder von Heine bekäme.« Alle lachten, nur Onkel Naphtali und Jason nicht. »Verzeihen Se, Herr Gebert«, sagte Naphtali, »um wen dreht es sich eigentlich bei de Sach?« Aber Jason schlug mit der Hand auf den Tisch und schrie mit rotem Kopf: »Dieser Schmutzian? Meinst du, nach ihm und seinen elenden Millionen würde ein Hahn krähen, wenn er nicht eben der Onkel von dem Dichter Heine wäre? Heinrich Heine braucht keinen Adel. – Aber wer hat denn den Namen Heine geadelt? Er oder jener?« »Nu«, meinte Ferdinand, »zwanzig Millionen schaffen, is auch nich schlecht, und die hat der in Hamburg gut und gerne.« »Was regst du dich auf, Jason«, begütigte Salomon, »die Sache braucht ja nicht wahr zu sein. Ich nehm sogar an, sie ist nicht wahr. Denn erstens schreibt so was Heine nicht, und zweitens antwortet es der Onkel nicht. Aber als Ganzes – finde ich – ist es gut erfunden.« Aber Jason würgte es im Halse, er hätte zu gern jetzt mehr gesagt, daß das die Anschauung in diesen Kreisen wäre, mit der man Leute zugrunde richte. Er hätte jetzt von Jettchen sprechen mögen und von Kößling und ihnen alles herausgeben, was ihm darüber auf der Seele brannte. Dann jedoch dachte er wieder, daß es aussah, als ob die Parole ausgegeben worden sei, darüber und über alles, was Jettchen anging, jetzt nicht zu reden, und daß er ja nachher immer noch sprechen könnte. Und Jason hielt an sich. – Er wäre auch in der Tat nicht recht dazu gekommen, davon zu sprechen, denn schon hatten sich Eli und Ferdinand bei den Haaren. Sie[[1]] hatten sich in ein Pferdegespräch verhakt und verbissen wie zwei Fische, die an einer Angel zerren, und da ging's gleich laut und heiß her. »Denkt euch«, rief Ferdinand, »das muß ich euch doch erzählen. Ich kaufe da für hundertzwanzig Taler einen[[Anzahl]] Fuchswallach; also ... vielleicht ein bißchen zu schwer in den Fesseln, aber sonst ein Prachttier. Und wie ich den nächsten Tag zu ihm in den Stall komme und ihn mir ansehen will – ich meine[[Meinung]] doch gleich, mich soll der Schlag treffen –, ist es doch ein Weber. Den ganzen lieben langen Tag steht er jetzt an der Futterkrippe und webt.« »Nu«, meinte Eli, »das hättst du mir gar nich erst sagen brauchen, so was kann natürlich nur dir passieren. Da werden se dir schon wieder 'nen netten Zossen aufgehangen haben!« »Wie kann ich denn das vorher ahnen? Das kann doch kein Mensch wissen!« polterte Ferdinand. »Wenn de eben e andermal wieder e Pferd kaufst, nimm jemand mit, der's versteht; zum Beispiel mich. Ich sag dir, mei Sohn, ich mach dir noch heutzutage e ausgedienten, spatigen Fliegenschimmel so zurecht, daß de glaubst, e Prinz könnt darauf reiten!« Aber Ferdinand versetzte, daß er wirklich genug von Pferden verstehe, mehr wie Onkel Eli, und daß er für dessen Rat danke. »Nu, wer eben nich hören will, muß fiehlen«, rief Eli ganz rot, während Minchen ihn am Rock zerrte, er solle still sein, und Salomon Ferdinand beschwichtigte. »Weißt du, Ferdinand, bei Fischen darf man nicht soviel reden. – Aber sag du mal, Jason: Was gibt es Neues in der Welt?« »Nun – der König von Hannover, hab ich gehört, geht zur Hochzeit von der Königin Viktoria nach England rüber. In Hannover hofft man allgemein, daß sie ihn da vielleicht totschlagen werden.« Aber Ferdinand hatte in der letzten Zeit sein königstreues Gemüt entdeckt und sagte: Jason solle sich ja hüten, solch Zeug nachzureden; er hätte wohl nicht von dem einen[[Anzahl]] Mal genug. Die Gefängnisse waren zwar jetzt sowieso überfüllt, aber einen[[Anzahl]] Platz für ihn würden sie vielleicht doch noch finden. Und vor allem, da sie jetzt täglich überall Leute verhafteten wegen der Verschwörung, müsse Jason mit solchen Äußerungen doppelt vorsichtig sein. Auch Salomon sagte, wozu Jason so etwas rede, er wäre doch jetzt alt genug, am Ende hätte er doch nichts davon. »Ja«, meinte Jason lächelnd, »da hast du recht, Salomon, vielleicht ist es auch klüger so; man sollte es ruhig gehen lassen, wie es geht – am Ende nämlich hat man als einzelner doch nichts davon.« »Verzeih mal e Augenblick, wie reimt sich das eigentlich, Jason, zu dem, was de frieher gereddt hast?« sagte Eli. »Wenn ich das noch sagen würde, ich bin doch nu bald da, wo de Könige ebensoviel sind wie de Bettler; und ich sag's nich – aber du, du bist doch noch e junger Mann gegen mich!« »Bei uns in Bentschen«, mischte sich Naphtali ins Gespräch, »is auch e'mal e Demagoge gewesen; aber wie er geheert hat, daß wir e Gendarmen haben holen wollen, is er schnell mit de Extrapost weiter nach Posen gefahren.« Die Mädchen nahmen die Teller fort und reichten den braunen Braten herum, der auf der größten Schüssel des Hauses Salomon Gebert kaum Platz fand und rechts und links noch in die Luft hinaussah. &&x Für Naphtali aber war eine Eierspeise bereitet worden, um seine frommen Gefühle nicht zu verletzen. Jason wollte Eli noch antworten, daß er das nur halb ironisch gemeint hätte; aber Eli hatte sich eine große Bratenscheibe vorgelegt – und war nicht mehr zu sprechen. Minchen wollte nichts nehmen, sie hätte noch keinen Appetit. »Warum nimmst de nich, Minchen?« sagte Eli mit vollen Backen, ohne vom Teller aufzuschauen. »Du wirst auch immer komischer. Eines schönen Tages wirste noch mit dem Kopf wackeln wie de alte Madame Schröckh als jugendliche Liebhaberin.« »Nu, Jason«, sagte Ferdinand, nachdem er sich mit der ersten Bratenscheibe auf seine Art abgefunden hatte, »erinnerst du dich noch an unser Gespräch hier von vorigem Frühjahr her über die Eisenbahn? Wer hat recht behalten – ich oder du? Möchtest du jetzt vielleicht Köln-Aachener haben oder Dresden-Leipziger?« »Ja«, unterstützte Eli, »ich hab damals gleich gesagt, de Sach mit de Eisenbahn is e aufgelegte Pleite!« »Weißt du, Ferdinand, ich möchte sogar recht viel davon haben«, sagte Jason gelassen. »Ich begreif dich nicht, so kann nur einer sprechen, der die Marktlage nicht kennt!« sagte Salomon. »Ich meine[[Meinung]]«, verteidigte sich Jason, »da braucht man von der Marktlage gar nichts zu kennen, um zu sehen, daß die Eisenbahn eine Zukunft hat, auch wenn die Papiere ein bißchen heruntergegangen sind.« »Ein bißchen!« rief Ferdinand dazwischen. »Na, ich möchte das haben, was in den letzten vier Wochen an de Börse verloren worden is. Weißte, Jason, da ziehe ich mich morgen früh, Schlag acht Uhr, vom Geschäft zurück!« »Ich sag auch mit dem schwarzen Steinthal«, mischte sich Eli ins Gespräch, »auf de Börse geht's immer wie in de Kinderstube zu; da ziehen de Großen de Kleinen aus.« »Aber die Wagen für den Prinzen Karl wirst du doch wohl noch fertigbauen«, unterbrach Hannchen und brachte so den alten Eli um seinen ganzen Beifall. Denn wegen seiner letzten geschäftlichen Erfolge und seiner hohen Kundschaft verzieh Hannchen ihrem Manne jetzt freudig und gern alles und gewährte ihm gnadenvoll Ablaß für so viel Sünden, wie selbst dem braven Ferdinand Gebert zu begehen kaum möglich war. Ferdinand jedoch war das ziemlich gleichgültig. »Weißte, Hannchen, fall bloß nich aus de Kutsche mit deinem Prinzen Karl«, versetzte er brüsk. »Ja«, sagte Salomon, »mit dem Königlichen Theater bei uns – das wird doch immer weniger. Das einzige in letzter Zeit war noch de Schröder-Devrient; die hat wirklich gesungen, daß der Kronleuchter gewackelt hat.« »Für die Königlichen Bühnen sollte Immermann hergeholt werden«, meinte Jason, »das ist der Mann, der sie reformieren könnte!« Aber es wird nie zwei Männern gelingen, über das Theater zu sprechen, wenn die beiden Frauen neben ihnen ihre Unterhaltung über die neuen Winterhüte beginnen; und sicherlich ertönte das Geschrei: »{{Hie Welf – hie Waib¬ling}}« kaum lauter als aus dem Feldlager Tante Hannchen der Schlachtruf »{{Hie Quit¬tel}}« und aus dem Feldlager Tante Rikchen das Sturmgeschrei »{{Hie Zier¬lein}}«. – Und sobald Eris ihre Locken schüttelt, fliehen die Musen. Max war die ganze Zeit sehr still gewesen; nur wenn im Frühjahr die Blicke, die dem servierenden Mädchen folgten, noch als die schüchterne Huldigung einer jungen Seele gedeutet werden mußten, die dem Bild »Frau« als einem fernen, schönen und unbekannten Etwas galten, so schien jetzt der Inhalt dieser Blicke schon bestimmter, wesensreicher und mehr dem Erfahrungsgebiet entnommen zu sein. »Nun, Max«, sagte Jason langsam und etwas spöttisch, »wie geht es dem jüngsten Deutschland?« Max verstand. »Schlecht, Onkel«, sagte er. Denn da Max in der letzten Zeit Reales und Blutwarmes an die Stelle von nur Geahntem oder intuitiv Empfundenem gesetzt hatte, so schien für ihn wirklich keine Ursache mehr zu bestehen, sich mit Worten um eine Sache zu bemühen, die er doch mit Händen greifen konnte. »Na«, meinte Jason, »weißt du, Max, wenn du mit der Dichtkunst nichts mehr zu tun haben willst, kannst du dir mal die Haare schneiden lassen; du siehst nämlich wirklich aus wie ein mißglückter Beethoven.« »Ich finde, Jason, es kleidet Max sogar sehr gut«, unterbrach Hannchen und hörte mitten in ihrem Hymnus auf die Madame Quittel auf. »Nein, Max«, sagte Ferdinand, »Jason hat ganz recht, so läuft man nicht rum. Ich wollt's dir schon lange sagen – wie sieht denn das aus im Geschäft!« Aber Max war gekränkt und strafte seine Eltern mit stummer Verachtung. »Prachtvoll!« rief Ferdinand, als jetzt die Mädchen die große Apfeltorte herumreichten, die noch ganz warm war und rauchte und duftete. »Man sieht wirklich, Salomon, du hast keine Eisenbahnpapiere!« Eli, der mit dem Alter doch schon genügsam geworden war, fand das vorzüglich; den besten Witz vom ganzen Abend. Aber noch vorzüglicher fand er doch die Speise, und er konnte sich gar nicht genug tun in seinen Lobsprüchen und sagte ein Mal über das andere zu der strahlenden Wirtin: »Weißte, Rikchen, de Fisch war schon gutt; aber mit de {{Appel¬turt}} hast de dich wirklich diesmal selbst übertroffen!« »Nun, Onkel, wenn du noch was übrigläßt, schick ich's dir morgen vormittag!« Damit war der alte Eli zufrieden. Aber Naphtali sagte: »Heere mal, mei Tochter, de {{Turt}} ist ja wirklich ganz scheen; so gutt jedoch, wie wir se zu Hause in Bentschen machen, is se nu mal doch nich!« Da rückte Salomon mit dem Stuhl, daß es nur so kreischte, und sprang auf. »Mahlzeit!« sagte er so schroff und kurz, als gäbe er ein Kommando. »Mahlzeit!« sagten die andern, schurrten, schoben die Stühle zurück, fuhren sich mit den Servietten über den Mund und drückten sich die Hände. Nur Eli wunderte sich. »Was heißt das?« sagte er. »Ich hätt noch ganz gerne e Stickchen genommen!« Ferdinand aber rief: »Na, es is auch höchste Zeit gewesen!« Denn er wollte zu seiner Partie Whist kommen. Und Jason, dem mit seinem lahmen Bein sowieso das lange Sitzen Beschwerde machte, war auch froh, daß man endlich aufgestanden war; und er war ebenso froh darüber, daß es nun bald zu einer Aussprache kommen müsse. Während er so ein paarmal hin und her hinkte und seine alten Knochen wieder ein bißchen ins Lot brachte, dachte er daran, was er nachher sagen würde. Die Mädchen mit den weißen Kleidern räumten ganz schnell ab; klirrten mit den Tellern und Schüsseln. Die Gabeln und Messer und Messerbänke verschwanden in die Messerkörbe; das Silber war im Augenblick auf dem Büfett; die Tischbesen glitten über das Tuch; die große Damastdecke lüftete sich; die braunen Mahagoniplatten des Tisches glitten schnell und lautlos, wie von selbst, ineinander; und der Tisch, der noch eben fast das ganze Zimmer gefüllt hatte, wurde wieder zu dem bescheidenen Wesen, das er alle Tage war. Die Stühle kamen an die Wand und an die Fensterplätze; irgendwie drang auch für ganz kurze Zeit ein frischer Luftzug hinein, der nach Schnee und Frost schmeckte – und wer jetzt in das Zimmer getreten wäre, hätte nie geglaubt, daß man hier noch vor ganz kurzem Fische verzehrt hatte, von geradezu vorweltlichen Abmessungen, und einen[[Anzahl]] Braten bewältigt hatte, für den selbst die größte Schüssel des Hauses Salomon Gebert sich als zu klein erwiesen hatte, und daß hier zudem noch eine Apfeltorte zerstückelt worden war, wie sie besser und lobenswerter nur in Bentschen angetroffen zu werden pflegt. »Nun«, sagte Rikchen, die vom Stuhl aus, ein weibliches Gegenstück zum General {{Tor¬stens¬son}}, diese Schlacht geleitet hatte, »na, vielleicht wollen die Herren zum Spiel lieber hineingehen ins gute Zimmer; da sind sie ganz ungestört!« Ferdinand ließ sich das nicht zweimal sagen. Ihm folgte Eli. »Ja, Herr Gebert, weil Se mich so freindlich auffordern, werd ich auch e bißchen mit reinkommen«, meinte Naphtali, und im Nachgeschmack des Genossenen pustete er vor sich hin. Pinchen und Rosalie saßen schon auf dem Sofa und hielten sich eng umschlungen. Denn wenn sie sich auch beide immer miteinander zankten, sobald sie allein waren, vor der Öffentlichkeit liebten sie es, zärtliche Gruppen zu bilden. Hannchen jedoch saß neben ihnen, hatte ein Kissen unter den Füßen und fächelte sich mit einem Spitzentuch. Sie[[1]] sagte, das Zimmer wäre überheizt, und das könnte ja kein Mensch aushalten. &&x Die alte Tante Minchen war auf einen[[Anzahl]] harten Rohrstuhl verbannt und hockte da ganz in sich zusammengezogen, mit der Haube auf ihrem kleinen, schiefen Kopf, und ließ die Litaneien des alten Fräuleins mit den Pudellöckchen mit freundlichem Lächeln über sich ergehen. Jason fand drin im Zimmer alles wie einst. Vielleicht war die mattgrüne Seide an den Wänden wieder etwas mehr verblichen; aber an den blanken weißen Lackmöbeln mit den goldenen Schwanenhälsen saß kein Stäubchen, und sie spiegelten ihre weißen Linien in dem blankgebohnten braunen Boden. Oben an den beiden Kronen aus Holzbronze waren alle zwölf Kerzen angezündet und füllten mit den roten Goldtönen ihrer Flammen den weiten Raum, vom Boden bis zur weißen Decke, von den Fensternischen und den hohen, geteilten Spiegeln bis zu den Konsolen an der Wand, auf denen die feinen, zerbrechlichen Teetäßchen standen. Nur dadurch, daß die beiden Uhren, die mit dem sentimentalen Türken und die mit dem pfeilschleifenden Amor, nicht wie einst geschäftig und munter tickerten, sondern ganz tot und still dastanden und daß die braune Platte des Tafelklaviers doch etwas stumpfer dalag denn ehedem, wurde Jason daran erinnert, daß hier Jettchens Hand fehlte. Aber in der Ecke stand wie immer der Spieltisch mit den Lichten in Silberleuchtern, und auch die silberne Kuchenschale mit der stolzen Pyramide von Mürbekuchen über ihren Weinranken – für Onkel Eli –, sie fehlte nicht. Und richtig, Onkel Eli hatte sich auch schon dabeigemacht, ihre Fundamente zu untergraben. Aber er war nicht so zufrieden wie sonst. »Weißte, Jason«, sagte er, »ich esse nur, damit se nich umkommen. Wie Jettchen noch hier war, haben de Mürbekuchen doch ganz anders geschmeckt.« Der alte Eli irrte sich. Gewiß waren die Mürbekuchen ehedem nicht besser gewesen, als sie es heute waren, und wenn sie es gewesen wären, so war auch Jettchen sicherlich daran unschuldig, denn sie hatte sie ehedem niemals zubereitet. Aber darin sprach der Onkel Eli doch die volle Wahrheit, sie, die Mürbekuchen, schmeckten ihm wirklich nicht so gut wie die, die ihm Jettchen hier immer angeboten hatte. »Na, Kinder«, rief Ferdinand, »woran liegt's eigentlich?« Und er teilte patsch, patsch die Karten aus, trotzdem sich noch keiner an den Tisch gesetzt hatte. »Wer spielt denn?« fragte Salomon. »Nu, wir alle«, meinte Ferdinand, » einer muß eben sitzen.« »Ich sehe ebenso gerne zu«, meinte Jason. »Ich mach sogar gern e'mal e Spielchen, ich weiß gar nicht mehr, wie e Karte aussieht!« sagte Eli und kam, mit beiden Backen kauend, zum Spieltisch herüber. »Nu«, meinte Naphtali und wiegte mit dem Kopf, »ich werr auch so frei sein.« »Gut«, sagte Salomon zu Jason, »wenn du mal sitzen willst, dann werde ich mit Eli zusammenspielen, und Ferdinand geht mit Herrn Jacoby zusammen.« Ferdinand bot am höchsten und behielt das Spiel; aber sein Aide machte ihm wenig Freude, und schon nach den ersten Stichen legte Ferdinand die Karten hin, stützte beide Arme auf den Tisch auf und sah den alten Onkel Naphtali ganz erstaunt an, als hätte er ein Meerungeheuer vor sich. »Wissen Sie[[1]], Herr Jacoby«, sagte er endlich, »in England, verstehen Se – nich auf dem Kontinent, aber in England –, enterbt ein Vater seinen Sohn, wenn er mit sechs Trümpfen in der Hand nicht {{Atout}} zieht. Oder wollen Se vielleicht erst noch 'ne Prise nehmen?« Und als der Alte nun erst recht ganz verdattert einen[[Anzahl]] kleinen Trumpf ausspielte, schrie Ferdinand: »Jetzt bringen Se noch 'ne Herzen-Sieben? Wohl damit das Spiel ganz rumgeht? Gleich nach dem ersten Stich hätten Sie[[1]] die ganze Flöte von oben runter ziehen müssen, daß es denen da drüben nur so mit Grundeis aufgegangen wäre. Meinen[[Meinung]] Se etwa, wir spielen hier um Pfeffernüsse?« Und damit sprang Ferdinand wütend auf und warf die Karten hin. »Nu«, sagte Salomon, »wir brauchen ja nicht Whist zu spielen, wir können uns ja auch mal unterhalten. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten, Herr Jacoby? – Ach so, Sie[[1]] rauchen ja heute nicht. Aber dir, Jason?« »Ja«, sagte Ferdinand, »wie wird das nun eigentlich doch mit Jettchen?« »Das frage ich euch«, meinte Jason. »Hast[[Besitz]] du gesehen?« fragte Ferdinand. »Selbst in Rellstabs ›Berlin‹ war versteckt darauf hingewiesen. Nächstens wird er noch einen[[Anzahl]] vierbändigen Roman darüber schreiben, wie über Johanna, das Pomeranzenmädchen.« »Auf e mageres Pferd setzen sich immer alle Fliegen«, fuhr Eli auf. »Ich weiß nich, was ihr eigentlich von Jettchen wollt. Nu scheen, se soll sich mit 'nem andern schon vergessen haben! Bei Jettchen sieht trotzdem jeder das atlasne Unterfutter, und bei Julius Jacoby kucken, sowie er den Mund aufmacht, de karierten Bettlaken raus.« »Herr Elias Gebert«, meinte Naphtali und wiegte den Kopf, »ich sag Ihnen, Joel sein Vater, mein Neffe Nero, war e Seele von Mensch; aber er war kein Geschäftsmann. Wenn er is mit seinem Bruder zusammen gegangen, und man hat ihn abgewiesen, hat er nie wieder da vorgesprochen. Und wenn sein Bruder gekommen is, ihn des Morgens abholen – wer is nich aufgewesen? –, Nero is nich aufgewesen! Nu, man kann haben e scheene Frau, und man kann haben e Geschäft! Man kann auch haben zusammen e scheene Frau und e Geschäft. Aber erst Geschäft und dann de Frau. – Joel, verstehen Se, Joel is ganz anders! Das is e Geschäftsmann!« Eli schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wie kommt das zu dem?« sagte er. »Wißt ihr«, sagte Jason, »es wäre wirklich ganz gut, wenn der Sache ein Ende gemacht würde; denn das Mädchen geht uns sonst kaputt dabei!« »Eh«, meinte Ferdinand und blies den Rauch durch die Nasenlöcher, »es sterben mehr Leute an verdorbenem Magen als an gebrochenem Herzen.« »Das hast du wohl wieder aus Pappes Lesefrüchten?« versetzte Jason halblaut, aber die Stimme bebte ihm dabei. »Ja«, sagte Salomon, »Herr Jacoby, ich hatte Sie[[1]] doch gebeten, mir Antwort auf meine[[Besitz]] Vorschläge zu bringen.« »Welche Vorschläge?« fragte Jason erstaunt. »Nun, ich hatte Herrn Julius Jacoby«, sagte Salomon sehr ruhig und sicher, und in dem Augenblick war er der Chef eines Handelshauses, der gewohnt war, mit großen Summen zu rechnen, vorzuschlagen, weitgehende Abschlüsse zu machen und hierbei doch kühl und sicher jedes Wort zu erwägen, »ich hatte Julius Jacoby vorgeschlagen, daß ein Drittel des Betrages in seinem Geschäft als Grundkapital bleiben solle und daß er es an mich, das heißt an Jettchen, mit zwei Prozent zu verzinsen hat, während er das übrige zurückerstattet und eben für dieses Entgegenkommen in der gerichtlichen Scheidung die Schuld auf sich nimmt. Das kann ihm, wie du wohl weißt, ja nicht schwerfallen. Denn, Jason, du verstehst mich, daß ich es nie und nimmer zugeben werde, daß unsere Nichte, die in unserem Hause hier gleichsam als mein Kind aufgewachsen ist, vor der Öffentlichkeit als die Schuldige dasteht.« Jason atmete auf. »Das gefällt mir von dir, Salomon«, sagte er, und er schämte sich fast, denn er fühlte, wie es ihm bei seinen Worten in den Augenwinkeln brannte. »Und was sagt Julius?« meinte Ferdinand. »Man kann sich ja denken«, versetzte Naphtali und wiegte den Kopf hin und her und blinzelte lächelnd und entschuldigend mit seinen kleinen schwarzen Jettknöpfen von Augen, »angenehm ist es ihm nicht. Er möchte nich. Ich hab's ihm vorgeschlagen, aber Joel sagt: Se mögen alle reden, was se wollen, Jettchen wird schon wieder zu ihm zurückkommen. Er meint, er könnt ja auch 'nen Rückkehrbefehl gegen sie ergehen lassen; das hätt ihm der Notar auf dem Gericht gesagt. Aber davon will er erst gar keinen Gebrauch machen – seine Frau wird schon so zu ihm kommen, meint er!« »Nu«, sagte Eli, »wißt ihr, er glaubt eben, wenn du Käs sein willst, dann stink!« »Na Gott«, meinte Ferdinand, »eigentlich kann man es ihm nich übelnehmen.« Salomon schwieg, aber Naphtali verstand das Schweigen. »Natürlich hat Joel gesagt, er wird sich die Sach' auch noch mal überlegen. Aber augenblicklich, meint er, hätt er mit dem Geschäft und mit de Papiere, die doch jetzt so schlecht stehen, so e dicken Kopp, daß er sich gar nich drum kimmern kennte.« »Mit den Papieren«, rief Salomon und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Silberleuchter beinahe umfielen. »Mit welchen Papieren? Ich wüßte nicht, daß die vierprozentigen Stettiner Stadtprioritäten etwa schlecht ständen.« »Nu«, sagte Naphtali, »verstehen Se, Joel meinte doch, er würde besser fahren, wenn er statt dessen andere nähme, die mehr bringen. Ich hab ihm auch gleich gesagt, er soll lieber de Finger von lassen.« &&x Jetzt war es auch an Ferdinand, aufzubegehren. »Nu geht dieser Lump doch wirklich an de Börse«, schrie er, »und verhandelt dein gutes Geld.« »Wissen Se, Herr Jacoby, ich mein's gut mit Ihnen, aber Ihr Neffe is e Rindsvieh!« sagte Eli, der sich von seinem Staunen erst gar nicht erholen konnte. »E anständiger Mensch geht nich an de Börse und macht s Geld von seine Frau alle, verstehen Se! Wir haben da als Jungens auf de Straße immer so e Spiel gespielt, an de Mauer mit Steinen und Kupferdreiern, und das hat immer wieder damit geendet, daß de großen Jungens de Dreier eingesteckt haben und de kleinen Jungens geweint haben. Genauso geht's an de Börse zu. Ich hab Jettchen gleich gewarnt. Laß dir nich mit dem ein; kein anderer als du bleibst nachher an de Pfanne kleben.« »Nja, ja«, sagte Jason sehr ruhig und blies den Rauch von sich. »Es ist doch eine feine philosophische Erkenntnis der deutschen Sprache, daß sich Betrag und Betrug nur durch einen[[Anzahl]] Buchstaben unterscheiden!« Der alte Naphtali wußte sich gar nicht zu retten, als er sich von so vielen Seiten angegriffen sah. »Nu, meine[[Besitz]] Herren«, sagte er endlich, »es is ja nich gerade erfreulich, was ich Ihnen da mitzuteilen habe; aber was is da zu machen? Geht Joel heute raus aus de Geschäfte, kann's ihm bei Benjamins Kopf und Kragen kosten. Wartet er's ruhig e paar Monate ab – und aushalten kann er's doch jetzt –, wird er ebensogut e Vermögen wieder dran verdient haben.« »Bei Benjamins«, rief Ferdinand, »mit Benjamins arbeitet Ihr Neffe! Hörst du, Salomon, das sind doch die Benjamins, die so die ganz kleinen Krawatten machen ... so klein, du spürst se erst gar nicht, wenn se dir um den Hals gelegt werden; aber mit einemmal – eh! – hängt dir auch die Zunge zum Halse raus!« »Ja, Salomon«, sagte Jason, »dann würde ich aber an deiner Stelle die Angelegenheit doch sofort – ohne irgendwelche Rücksicht – zum Spruch bringen.« »Gewiß«, versetzte Salomon, »das wäre eigentlich wohl das richtigste, aber ich werde es doch erst mit meiner Frau besprechen...« »Er hat's immer mit de Frauensleute!« schrie Eli. »... denn du kannst dir denken, Jason«, fuhr Salomon fort, ohne auf den Zwischenruf zu achten, »daß es mir nicht angenehm sein wird, mich mit unserem Neffen vor Gericht herumzuschlagen.« »Aber das ist doch gar nicht nötig; eine Scheidung kann ja auch bei einseitiger Abneigung vollzogen werden, wenn – ich glaube, so heißt es im Gesetz – ›zur Erreichung der Zwecke des Ehestandes gar keine Hoffnung mehr bleibt‹. Und ich meine[[Meinung]], das wäre wohl hier bei Jettchen der Fall. In der Geldsache kommt ihr dann vielleicht so auseinander.« Aber Salomon wollte davon nichts hören, und auch Ferdinand meinte, man solle seine schmutzige Wäsche lieber im Hause waschen. Rikchen war hereingekommen. »Nu, wie ist's hier?« sagte sie. »Soll ich irgend etwas bringen lassen? Warum spielt ihr denn nicht mehr?« »Wir sprechen eben über Jettchen«, meinte Eli, als die anderen schwiegen. »Mit deinem Neffen Julius hast de ja e scheenen Herrn in die Familie gebracht.« »Ich erzähle dir das ein andermal«, unterbrach Salomon, der seine volle Ruhe wiedergewonnen hatte. »Ja, Salomon«, sagte Rikchen, und an der sanften Freundlichkeit des Tons hörte Jason, daß irgend etwas drohte. »Hast[[Besitz]] du denn mit Jason gesprochen, wann Jettchen wieder herkommt?« »Noch nicht«, antwortete Salomon, und man merkte ihm den Unmut an, mit dem er nun auf dieses Gespräch einging. »Ja«, sagte Rikchen, »denn es geht wirklich nicht länger, daß Jettchen bei dir bleibt. Alle Welt regt sich drüber auf. Jeden Tag krieg ich's zu hören, daß sich's nicht schickt. Und nicht genug damit, Jason, genierst du dich nich mal so weit vor de Leute, daß du sogar ihren Liebhaber bei dir empfängst!« »Ja, da hat Rikchen eigentlich recht«, fiel Ferdinand ein. »Ich hab mich auch drüber gewundert. Ich hab's erst gar nicht glauben wollen, wie's mir Hannchen erzählt hat.« Jason Gebert war mit einem Ruck aufgesprungen und zerrte an seinem Halstuch. »So«, rief er, »ihr wißt ja ebensogut wie ich, wo Jettchen jetzt wäre, wenn ich nicht gewesen wäre. Ihr könnt sie wohl nicht früh genug dahin bringen. Aber solange ich irgendwelchen Einfluß auf Jettchen habe, werde ich ihn auch dahin geltend machen, daß sie bei mir bleibt, da könnt ihr versichert sein! Und wenn ich bis heute Doktor Kößling in meinem Hause empfangen habe, dann wußte ich auch, warum ich es tun konnte. Soll ich vielleicht Jettchen noch das einzige nehmen, was ihr ihr gelassen habt? Das bißchen Hoffnung auf die Zukunft!« »Man vermeidet auch den Schein vor den Leuten, lieber Jason«, sagte Salomon nicht unliebenswürdig, aber in jenem überhebenden Ton, mit dem ein älterer Bruder einem jüngeren Bruder eine Vermahnung gibt. »Ich find's auch unerhört!« rief Naphtali, der wieder Luft bekam, da er fühlte, daß man den Spieß umdrehte. »Wenn se wirklich, wie Jason sagt – und Jason spricht nich de Unwahrheit, da kenn ich ihn –, wenn se wirklich in Ehren zusammen sind, was geht's euch an?« polterte Eli. »Meinethalben soll se sich alle Tage mit ihm sehen!« »Ja«, sagte Rikchen, und das war ihr letzter Trumpf, »und es wäre vielleicht auch deshalb gut, wenn Jettchen wieder zu uns käme, damit auf ihre Ausgänge ein bißchen mehr geachtet werden kann, als es jetzt geschieht!« Gegen so viel Gemeinheit war Jason Gebert nicht gewaffnet, war er einfach wehrlos. Kein Wort brachte er vor. Er hätte vor Wut weinen mögen. Nein, sie kamen nicht zusammen, er und diese; warum hatte er nicht schon längst das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten! »Weißt du, Salomon«, sagte er, indem er nach der Tür ging, mit erzwungener Ruhe, und doch schlug er dabei mit der Stimme über, »ich will noch weiter. Es ist wohl auch besser, wir unterhalten uns in Zukunft über solche Dinge im Geschäft unter vier Augen.« »Gewiß, Jason«, versetzte Salomon kühl und höflich, »das halte ich auch für richtiger.« Tante Rikchen aber fühlte, daß sie ihre Mission erfüllt hatte, und rauschte wieder in das Eßzimmer zurück. Sie[[1]] kam gerade noch zur Zeit, um Rosaliens Wundermären mit anzuhören: was sie schon alles für glänzende Partien hätte machen können, wenn sie nur gewollt hätte. Das Mädchen geleitete Jason hinab, und nachdem es die schwere Haustür hinter ihm geschlossen hatte, stand Jason allein in der weißen, frostigen Winternacht. Es war wohl von neuem Schnee gefallen, denn die ganze Straße lag wieder in Silber da, zart und glatt, und bis in die Torwege, selbst bis hinter die Prellsteine zog sich dieses Silberweiß hinein, noch von keiner Fußspur und von keiner Wagenspur zerrissen. Jason zögerte mit dem Hinaustreten. Er empfand etwas wie Furcht davor, in die unberührte Fläche als erster seine Fußtapfen einzugraben; und als jetzt hinten in irgendeiner Nebenstraße ein Wächter die Stunde abrief, da kam ihm das wie ein Frevel vor an dieser weißen Stille ringsum, die doch so ganz weich und wesenlos war, so dumpf und abgeschlossen, daß Jason Gebert sein eigenes Blut rauschen und summen hörte. Straßauf, straßab im Dämmer der Schneenacht und des matten Scheins der Laternen erblickte Jason Gebert keine Seele. Nur eine einsame Katze schlich über den Damm, und eine Schneelast vom Gesims fiel zu Boden und schmiegte sich lautlos dem Weiß der Straße an. Und weiter drüben hing die breite Front des Postgebäudes wie ein dunkler, heller gebänderter Teppich herab aus einem dunkleren und doch in sich seltsam leuchtenden Nachthimmel ... hing da plötzlich als ein mächtiger gemusterter Vorhang, unterbrochen noch von den schwarzen Höhlen der Tore und Durchfahrten. Jason Gebert war mit sich unzufrieden. Wie ein Kind hatte er sich doch gehenlassen. Warum hatte er denn nicht ruhig seiner Schwägerin antworten können? Warum hatte er sich denn beim ersten Wort selbst verraten? Am Ton seiner Stimme hätte ja jeder sofort hören können, um was er eigentlich kämpfe. Kaum daß nun ein paar Monate seine Seele zur Ruhe gekommen war; kaum daß er nun ein paar Monate nicht mehr die Abende durch die Straßen geirrt war wie ein herrenloser Hund, die halben Nächte, mit all seiner Unrast und seinem Unfrieden; kaum daß er nun ein paar Wochen zu Hause nicht aufgepeitscht worden war, in den Stunden, wenn plötzlich die bange Einsamkeit um ihn Worte sprach und all seine Welten sich vor ihm verschlossen und er so ganz allein in seiner armseligen Nacktheit stand – da wollte man ihn wieder in sein altes Elend zurückstoßen. Nein, Jettchen konnte nicht sagen, daß er zuviel bei ihr war. Er sah sie oft kaum zwei Stunden am Tage; aber wenn er auch drüben in seiner Bibliothek saß, so fühlte er doch ihre Gegenwart. Ja, es war ihm oft, als stände sie leibhaftig hinter ihm. Wenn sie fortgegangen war, eilte er vor in ihr Zimmer, und er setzte sich zu seinen Porzellanen; und während er die betrachtete, fühlte er ihre Nähe, atmete noch dieselbe Luft mit ihr. Die Bücher und Zeitungen lagen dann, wie Jettchen sie verlassen, und auf den Auflagen der Fensterbank sah er den Eindruck ihrer bloßen Arme. In den Dämmerstunden, wenn er dann hineinging, mit Jettchen zu plaudern, und wenn im sich mehrenden Dunkel langsam die Gestalt vor ihm verschwamm, bis nur noch das Weiße ihrer Augen leuchtete – dann mochte er wähnen, daß sich ihr Wesen in der Atmosphäre löse und ihn ganz umfinge. Und das kamen die draußen ihm entreißen! Kamen, ihn wieder müde und elend zu machen wie zuvor. &&x Endlich wandte sich Jason zum Gehen. Ganz langsam hinkte er aus dem Torweg in den Schnee hinaus, als fürchte er immer noch, seine Spuren darin einzugraben. Von oben warf – das sah er – die Reihe der Fenster in die Dunkelheit eine breite Helligkeit hinaus, deren Schein doch plötzlich in der Nacht ertrank und nicht einmal mehr drüben das Haus traf. Und Jason Gebert ballte die Fäuste nach diesem hellen Schein, von dem er sich so ausgeschlossen fühlte; und die ganze Bitterkeit seines Herzens machte ihn fast schluchzen. Aber da kam jemand quer über die Straße mit einem flatternden {{Mackin¬tosh}}; drüben vom Postgebäude aus einem Tor hatte sich plötzlich die Gestalt gelöst. »Herr Gebert!« rief es. »Ach, Herr Doktor Kößling, hier warten Sie[[1]] auf mich? Das ist aber heute kein Wetter zum Promenieren, wie im April. Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich hier bin?« »Ich sprach Jettchen auf dem Flur. Ich kam später heute; ich konnte nicht eher. Aber ich muß noch mit Ihnen reden. Deswegen habe ich hier gewartet, drüben im Durchgang, die ganze Zeit über.« »Na, gehen wir noch irgendwohin – zu Drucker vielleicht? Er wird schon noch offen haben. Wenn nicht, klopfen wir den {{Mar¬kör}} heraus. Gegen ein gutes {{Dou¬ceur}} kommen wir noch überall hinein.« Aber Kößling antwortete darauf nicht und ging in ganz langen Schritten, den Mantel eng um die Hüften ziehend, neben Jason, der vorsichtig durch den Schnee hinkte und sich bei jedem Schritt auf sein langes Palmenrohr mit dem Silberknopf stützte. Fast bis an die Knöchel sank man in diese weiche, fluddrige Decke ein, und jedesmal, wenn man den Fuß hineindrückte, gab der lockere Schnee einen[[Anzahl]] knirschenden Laut. So still war es dabei, daß Jason selbst das zarte, silbrige Klingeln hörte, wenn die Berlocken an seiner {{Cha¬te¬laine}} zusammenschlugen. »Ja, Doktor, was ist denn?« sagte er und blieb an der Ecke der Königstraße stehen, beide Hände auf dem Stockknopf vereint. Kößling antwortete nicht. »Nun, was gibt's«, meinte Jason noch einmal, und er ließ dabei rechts und links die Blicke wandern, die weiße, tote Straße mit den gespenstischen, weißumränderten Häusern hinab und hinauf und die langen, spärlichen Reihen zitternder Lichtlein hüben und drüben entlang. Das große Gebäude gegenüber war ganz finster und traurig, nur ein kleiner Anbau stand da – hell, vom Schnee ganz überschüttet, vom Reif ganz überzogen – und sah im flackernden Schein der Gaslaternen einem geschnitzten Wunderwerk aus glitzerndem Alabaster gleich. »Ja«, sagte Kößling endlich, »ich habe heute früh böse Erfahrungen gemacht.« »Auf der Bibliothek?« fragte Jason erschrocken. »Da bin ich seit heute nicht mehr, Herr Gebert«, sagte Kößling und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Schade«, sagte Jason mit ganz schmalen Lippen, und er war wirklich bestürzt; denn alles, was er für Kößling ins Feld führen konnte, war eben jene Stellung oder richtiger jene Beschäftigung mit der Aussicht auf staatliche Anstellung, die Kößling jetzt seit wenigen Monaten hatte. »Und wie kam das?« fragte Jason nach einer Weile des Schweigens und wandte sich zum Gehen, wandte sich nach dem Schloßplatz hin. »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen, Herr Gebert.« »Ja, das müssen Sie[[1]] wissen. Eigentlich genügt mir ja auch die Tatsache.« »Oh«, schrie Kößling durch die Winternacht und blieb vor Jason Gebert stehen und packte ihn an den Schultern, »es ist eine Niedrigkeit; wenn es mich nur allein beträfe, ich würde nichts sagen. Denunziert hat man uns, in der gemeinsten Weise; mit den giftigsten, haltlosesten Verleumdungen ist man gegen uns vorgegangen!« Jetzt war es auch an Jason, darüber erregt zu werden. »Was ist los, Doktor?« »Also – man läßt mich rufen.« »Wer?« »Professor Wilken. Aber es war noch ein Rat vom Kultus da, ein junger, kleiner, blasser Mensch, irgendein angehender Auditor oder Richter von der Universität, glaube ich. Ich kannte ihn nicht. Man müsse mir eine Vermahnung erteilen, sagte er. Mein Lebenswandel gäbe zu öffentlichen Ärgernissen Anlaß; es wäre stadtbekannt, daß ich unlautere Beziehungen unterhielte zu einer verheirateten Frau, die von ihrem Mann getrennt lebe. Solange das nur Gerüchte waren, hätte noch kein ausreichender Grund vorgelegen, dagegen einzuschreiten; aber jetzt wäre eine Anzeige eingelaufen, und da könne man es nicht weiter unberücksichtigt lassen. Ein derartiges offenkundiges Verhältnis ließe sich mit der Würde[[würdig]] und dem Ansehen eines zukünftigen Königlichen Beamten und Bibliothekars nicht vereinen; aber man würde es trotzdem dieses Mal – auf die Fürsprache des Professors Wilken hin – mit einem Monitum bewenden lassen, wenn von mir das Versprechen gegeben würde, durch mein Verhalten dem Gerücht keine neue Nahrung zuzuführen. An jedes Wort erinnere ich mich!« »Und was sagten Sie[[1]] ihm?« »Nun – ich blieb eben nicht ruhig. Ich sagte ihm, daß mein Privatleben derart wäre, daß es keiner Einmischung bedürfe und daß ich deshalb jede Einmischung von der vorgesetzten Behörde strikte ablehnen müßte; wenn er es aber wagen würde, die Beleidigungen, die er hier in seiner amtlichen Eigenschaft gegen den Ruf einer Dame geäußert hätte, mir gegenüber vielleicht noch einmal als Privatmann zu wiederholen, so würde er von mir sofort die gebührende Antwort erhalten. – Sie[[1]] hätten das Gesicht sehen sollen! Wilken war ganz entsetzt aufgesprungen. ›Aber Herr Doktor‹, rief er, ›bitte, nehmen Sie[[1]] doch Vernunft an.‹ Eine ganze Weile dauerte es, bis der kleine, blasse Mensch sich faßte. ›Als Privatmann‹, sagte er, ›habe ich nicht die Ehre, Sie[[1]] zu kennen, und enthalte mich jeglichen Urteils. In meiner amtlichen Eigenschaft aber habe ich Ihnen noch weiter mitzuteilen, daß es mit der Gesinnung eines zukünftigen Königlichen Beamten für unvereinbar betrachtet werden muß, im Hause eines Menschen ein und aus zu gehen, der den Aufsichtsbehörden seit langen Jahren als politisch verdächtig bekannt ist und der – wie Sie[[1]] wohl nicht wissen – schon einmal in eine peinliche Untersuchung wegen Geheimbündelei verwickelt war.‹« »Diese Hunde ... Hunde!« schrie jetzt Jason durch die Nacht, in Gedanken an die alten, qualvollen Monate. Er hatte ein Gefühl dabei, als risse man ihm da innen eine Narbe auf. »Oh«, sagte Kößling, »ich höre noch jedes Wort. Ich könnte die ganze Szene malen. Das kahle Zimmer, ein paar Stühle an der Wand, ein paar alte Bilder – Männer darauf mit großen grauen Perücken –, ein kleines birkenes Tischchen dann mit einem ganz großen Tintenfaß, einem Stoß Papier und den Akten daneben. Unten im Erdgeschoß war es, und ganz hell war der Raum vom Schnee draußen.« Kößling stieß mit dem Fuß in die weiße Decke. »Da sitzt Wilken; hier der kleine, blasse Rat im flaschengrünen, langen Rock, und ich stehe mitten im Zimmer. Mir hat man keinen Platz angeboten. Oh, Herr Gebert, ich blieb ihnen wirklich die Antwort nicht schuldig. Ich werde mir meinen[[Besitz]] Umgang, sagte ich, nie vorschreiben lassen, und ich scheide mit diesem Augenblick aus dem Dienst, da ich nicht weiter einer Behörde unterstehen kann, die vorgibt, der freien Wissenschaft die Wege zu bahnen, und statt dessen Gesinnungsschnüffelei treibt. Als ich das gesagt hatte, sprang der kleine Rat auf und griff nach seinen Akten. ›Ich verlasse dieses Zimmer‹, quiekte er; aber Wilken – er meinte es vielleicht gut – sprach mir noch eine ganze Weile zu und suchte beizulegen. Ich wäre jetzt erregt und wöge deshalb die Worte nicht. In ruhigen Stunden müsse ich mir selbst sagen, daß man nur mein Bestes wolle. Wenn ihm nicht an meiner Mitarbeit läge und wenn er für die Wissenschaft keine Hoffnung in mich setze, so hätte er ja einfach in die Entlassung willigen können, die man von vornherein – ganz ohne Angabe des Grundes – beabsichtigt hätte; und ich solle jetzt ruhig wieder an meine[[Besitz]] Arbeit gehen, er würde mich dann noch einmal zu sich rufen lassen. Dann würde ich wohl anderen Sinnes geworden sein. Für mein Benehmen jetzt eben könne nur meine[[Besitz]] Jugend als Entschuldigung gelten, aber er würde schon alles wieder ins Lot bringen. Aber ich antwortete ihm, daß es zwecklos wäre und daß ich in einer Stunde auch nicht anders sprechen könnte, als ich es hier getan hätte. Man hätte hier von einer edlen Frau und einem Manne, dem ich unendlich viel in jeder Weise verdanke, gesprochen, als ob es sich um Gesindel handele, und man hätte meine[[Besitz]] Beziehungen zu dieser Frau, die nicht das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen brauchen, in einer Weise gedeutet, auf die es für mich und jeden Menschen von Ehre nur noch eine Antwort gäbe. Aber da ich ihm eben diese Antwort nicht geben wolle und dürfe, so möchte man mir wenigstens sagen, von welchem Buben diese Verleumdung herrühre, damit ich ihn züchtige. Das hat man natürlich nicht tun wollen; aber ich werde es schon herausbringen, und wenn ich die Tage und Nächte daransetzen sollte.« Jason zuckte die Achseln. »Warum, Herr Doktor«, sagte er, »sind Sie[[1]] denn der Meinung, daß Ihre Wunde weniger blutet, wenn Sie[[1]] den Hund prügeln, der Ihnen heimtückisch in die Waden gefallen ist?« &&x Darauf wußte Kößling nichts zu entgegnen und biß nur auf seine Unterlippe. »Ja«, sagte Jason und hielt im Gehen, »ziehen wir das Fazit: Sie[[1]] sind also nun nicht mehr an der Bibliothek.« »Ich habe sogleich dem Direktorium«, meinte Kößling, »mein Entlassungsgesuch eingereicht und um sofortigen Dispens bis zur Gewährung gebeten.« »Wissen Sie[[1]] auch, daß das unklug war? Man legt sich nicht an mit der ›russischen Regierung‹.« »Und Sie[[1]], Herr Gebert, was hätten Sie[[1]] denn an meiner Stelle getan?« »Ich? Wohl das gleiche. Aber wer sagt Ihnen denn, daß ich klug handle?« Sie[[1]] waren jetzt beide auf der Langen Brücke angekommen. Oben, ihnen zu Häupten, ritt der Kurfürst durch die Winternacht. Sein weißer Hermelin wehte hinter ihm her, und erstarrt in schreckhaften Stellungen wanden sich die eingehüllten Sklavenleiber unter den Hufschlägen seines Rosses. Die Uferwege lagen ganz hell; und schwarz, tiefschwarz preßte sich die unheimliche Flut zwischen ihnen hindurch. Eisnadeln und Platten trieb sie gegen die Brücke in einem ununterbrochenen Knirschen, Schleifen und Knistern, das durch die stille Schneenacht zu den beiden heraufdrang. Weiter unten spannen sich noch andere Brücken gleich weißen Webeketten von Ufer zu Ufer; und drüben tauchten vor ihnen auf dunklem Grund die mächtigen Umrisse des Schlosses auf, hoch hinauf, bis zu den lichten Figuren, die sich scharf gegen den dumpfen Nachthimmel abhoben. Aber unten auf dem weiten Platz erschienen die langen Budenreihen dagegen, über denen so ein rätselhafter, spärlicher Lichtschimmer lag ... erschienen in ihren Schneelasten dagegen wie die hohen weißen Wogen eines Sees, die nun ein Machtwort hatte erstarren lassen, ehe sie noch ihre Wut gegen das schwarze Mauerwerk richten konnten. »Ja«, sagte Jason nach einer ganzen Weile des Sinnens, während immer noch sein Blick auf dem Winterbild vor ihm ruhte. »Ja, Doktor, was nun? Was werden Sie[[1]] nun tun?« »Daran habe ich noch nicht denken können. Ich weiß nur, daß ich das fortwerfen mußte.« »Erinnern Sie[[1]] sich, Doktor, was Börne einmal sagt?« versetzte Jason und wollte sich zum Gehen wenden. »Wir haben und sie behalten recht, sagte er; so wird es Ihnen auch gehen. So geht es Leuten unseres Schlages immer. Wollen Sie[[1]] nun wieder nur schreiben? Gott, wenn Sie[[1]] erst mal wie Raupach hier für den Akt zwanzig Dukaten bekommen, können Sie[[1]] ja sicherlich ganz gut dabei existieren.« Kößling faßte das Brückengeländer, griff mit beiden Händen tief in den Schnee hinein. »Ich weiß nicht, Herr Gebert, ob ich je wieder etwas schreiben werde. Ich habe seit Monaten für mich kaum die Feder angerührt. Vielleicht habe ich es mir bisher nur eingeredet, ich hätte etwas zu sagen. Man glaubt ja so vieles von sich. Hören Sie[[1]], was ich jetzt spreche. Ich kann nicht mehr zu Haus sein; ich laufe fort, die Nächte lang. Ich sitze die ganzen Nachmittage, die ganzen Abende seit Wochen und Wochen beim Schachbrett. Ich wüßte nicht, was ich sonst tun würde. Sie[[1]] werden mich nicht verstehen; aber wenn in meinem Hirn sich die schwarzen und gelben Steine untereinander schieben, dann bin ich glücklich, dann habe ich keine anderen Gedanken, keine andere Empfindung mehr. Sie[[1]] marschieren da, bilden da Figuren, stellen sich da zu Reihen und Quadraten und lösen sich wieder in den seltsamsten, unmöglichen Opfern. Noch Stunden, nachdem ich vom Brett aufgestanden bin, bis in meine[[Besitz]] wirren Träume spinnt sich das fort. Die Kinder sollen über ihre Spielsachen das Weinen vergessen. Lieber Herr Jason Gebert, ich glaube, ich würde weinen, die ganzen Abende weinen vor Sehnsucht und Elend, wenn ich mich nicht im Schach betäuben könnte. Ich spiele da immer mit einem Manne von vierzig Jahren, einem Witwer, dem die Frau vor kurzem gestorben ist; wir sitzen uns beide ganz stumm gegenüber – keiner spricht eine Silbe – und schieben die Steine, das Roß, den Läufer, den Turm, die Dame. Partie folgt auf Partie – wir merken uns kaum, wer gewonnen hat; immer wirrer werden unsere Züge, immer unüberlegter, und doch wagen wir nicht, vom Brett aufzustehen, denn wir wissen beide: nur hier sind wir geborgen, und schon an der Tür lauert es vielleicht wieder auf uns. – Wir haben uns das nie gesagt, nur der Blick des anderen sagt es, wenn ich mich erheben will. Wirklich – manchmal in stillen Nächten, da möchte ich die Hände ringen und beten!« »Kößling, Kößling«, rief Jason, »erinnern Sie[[1]] sich, was ich Ihnen vor bald einem Jahr sagte, als wir beide an der gleichen Stelle standen. Damals in der Mondnacht? Ja? Das Leben ist ein Strom, sagte ich Ihnen, und in dem müssen wir schwimmen, so lange schwimmen, bis wir untergehen. Was haben Sie[[1]] inzwischen gemacht? Ein paar Schläge – und schon sind Sie[[1]] müde, und schon sind Sie[[1]] verzweifelt. Ich schwimme nun schon fast zwei Jahrzehnte länger als Sie[[1]] in dem gleichen Strom, und ich habe mehr Elend – geistiges, körperliches und seelisches – gekostet als Sie[[1]]! Und wenn meine[[Besitz]] Schläge auch schwächer werden, ich halte durch, bis mir das Wasser über dem Kopf zusammenschlägt. Ich werde mich nie betäuben. Und auch im letzten Augenblick werde ich mich nicht an den brüchigen Strohhalm des Gebetes klammern!« »Herr Gebert, was wissen Sie[[1]] denn von mir und meinem Leben? Ich habe gehungert, und stolz gehungert, wenn die anderen neben mir satt waren; aber solch ein Leben, ausgeschlossen sein von allem, das macht bitter. Sie[[1]] vermochten doch Ihre Freude an der Schönheit zu finden. Sie[[1]] hatten Ihre Porzellane, Ihre Bücher, Ihre Stiche. – Ich bin immer nur wie ein Bettler um die Türen gelaufen. – Sie[[1]] meinen[[Meinung]], daß das nichts wäre und daß mir ja vielleicht dafür die Bäume des Waldes, die Blumen, die Wolken und die Worte der Dichter ebenso gehört hätten? Weiß ich denn, wie ein Frühling aussieht? Bin ich nicht immer durch diese Welt gehetzt und gejagt, in ewiger Sorge um das bißchen Leben? Ich kann mich nicht der Zeit erinnern, daß ich mal sorglos im Gras gelegen hätte – immer mußte ich weiter! Als Junge, ja, da habe ich einmal eine Harzreise gemacht, vom Geld, das ich mir vom Stundengeben abgespart hatte; und es regnete, regnete, regnete – früh und spät; doch ich sah wenigstens einmal, daß es grüne Bäume gibt, und bemerkte, daß der Wald auch im Regen duftet. Aber am letzten Tag, Herr Gebert, wie ich meinen[[Besitz]] letzten Taler angriff, da wußte ich schon wieder, daß ich weiter gejagt würde – von Morgen zu Morgen; daß ich von jetzt an nicht eine Stunde mehr am Wege ruhen könnte; und es gab im Augenblick keine grünen Bäume mehr für mich, und kein Wald duftete mehr für mich. Und so ist das nun stets gewesen, bald durch zwanzig Jahre – solange ich denken kann! Von der Stunde an, wo ich von der Volksschule ins Gymnasium kam, bis heute nacht. Gewiß, Dichterworte und Dichterträume hat es auch für mich gegeben; aber das Leben mit der Knute hat mich stets von neuem aus ihnen hinausgepeitscht. Und von dem, was unser Dasein vergolden soll, von dem, was unsere tiefsten, goldenen Stunden sein sollen, was habe ich denn davon bisher kennengelernt und heimgetragen? Herr Gebert, ich sage Ihnen, nur ein paar ganz armselige Erinnerungen, die so kümmerlich und roh sind, daß mich jedesmal schaudert, wenn sie nur in mir auftauchen.« Die beiden waren indessen, ohne daß sie wußten, wohin sie ihre langsamen Schritte durch den Schnee lenkten, an der Spree entlanggezogen, den Uferweg, die Burgstraße hinabgewandelt, an verschneiten Zillen vorüber, die so ganz still und tot im Halblicht lagen. Von jenseits über das gurgelnde Wasser sah immer noch der phantastische Schloßbau mit der wechselnden Höhe seiner dunklen Geschosse und den krausen Linien seiner Dächer. »Ich verstehe Sie[[1]], Doktor«, begann Jason langsam und leise; als es aber zu Ende ging, da sprach er hastig und laut. »Ich verstehe Sie[[1]], Doktor, und ich verstehe Sie[[1]] doch wieder nicht. Sie[[1]] mögen vielleicht recht haben mit dem, was Sie[[1]] sagen. Ich habe mir da, für das, was ich eingebüßt habe, solch ein paar kleine, mühselige Freuden am Leben erkämpft, und Hunger gelitten habe ich eigentlich nie; auch nicht der goldenen Stunden entbehrt, von denen Sie[[1]] sprachen. Aber wissen Sie[[1]], Kößling, ich habe doch Hunger, mein Leben lang stets bittern Hunger gelitten nach dem einen[[Anzahl]], was Sie[[1]] gefunden haben und was Ihnen, ohne daß Sie[[1]] einen[[Anzahl]] Finger darum geregt haben, ohne Verdienst und ohne Mühe zugefallen ist. Oh, was sind Sie[[1]] doch undankbar! Und wenn man mir sagen würde, ich sollte von hier bis Potsdam mit bloßen Füßen durch den Schnee laufen, um mit Ihnen tauschen zu können: hier, auf der Stelle, im Augenblick zöge ich meine[[Besitz]] Stiefel aus; und ich bin doch heute schon ein alter Bursche, der wirklich entsagen hätte lernen können. Sie[[1]] neiden mir, Doktor, meine[[Besitz]] goldenen Stunden! Nun, ich will Ihnen auch nicht gram sein. Sie[[1]] haben mich die immer wieder siegende Macht des Lebens gelehrt; aber was es heißt, ganz und für ewig in den Gedanken und Sinnen einer Frau leben, die so schön ist wie klug, so anbetungswürdig wie rein – das habe ich nie erfahren. Und das habe ich gesucht und gesucht, straßauf und straßab, mit wunden, lahmen Füßen, bis ich so steif und so grau wurde, wie ich es heute bin.« »Vielleicht haben Sie[[1]] recht, Herr Gebert, all das, was ich Ihnen da gesagt habe, wäre undankbar und schlecht von mir, wenn ich wüßte, sicher wüßte, daß Ihre Worte eben Wahrheit waren. Gewiß, ich will's mich ja auch immer wieder glauben machen, aber gerade da ich von Tag zu Tag mehr fühle, daß sie nicht wahr sind, da ich erkenne, wie die Geliebte meinen[[Besitz]] Händen und meiner Seele immer von neuem entschwindet und ich immer wieder ihr nach ins Leere greife, da ich fühle, wie wir uns voneinander entfernen, auch wenn wir uns zueinander flüchten – gerade deshalb bin ich ja jetzt immer so grenzenlos verzweifelt. Was habe ich denn für einen[[Anzahl]] Teil an Jettchens Leben? All ihre Kämpfe hat sie stumm gekämpft, und die ganze Luft ihres Lebens, in die ich eindringe, sie wird mir nicht mehr als ein fremder Hauch. Was wissen wir beide denn bis heute voneinander? Sagen Sie[[1]] mir das!« &&x »Und was sie Ihretwegen getan hat? – Wer so handeln kann, Doktor?« »Oh, das habe ich mir ja hundertmal schon vorgehalten. Aber endlich: Galt es nicht ebensosehr ihr wie mir? Galt es nicht vielleicht Ihnen? Galt es nicht der ganzen Welt, in der sie einzig leben kann?« »Herrgott im Himmel!« rief jetzt Jason, und er sprach da ganz gegen besseres Wissen, denn Kößlings letzte Worte hatten ihn doch seltsam verwirrt und betroffen. »Herrgott im Himmel! Was sind doch Verliebte für komische Leute! Ich habe noch nie in meinem Leben Verliebte kennengelernt, die sich nicht gegenseitig durch nutzloses Grübeln das Leben schwer machten, statt daß sie dem Schicksal die Hände küssen und dem da oben danken, wie gut sie es haben. – Ich glaube nun dem jungen Herrn heute etwas Angenehmes sagen zu können, und er tut, als ob alles für ihn verloren wäre. Ich bin heute abend bei meinem Bruder gewesen, hören Sie[[1]], und wir haben natürlich über Jettchen gesprochen, und es scheint mir, als ob man beginnt, sich mit der Sache abzufinden. An eine Einigung ist gewiß noch nicht zu denken, aber schon, daß man bei uns den Willen hat, die Sache um jeden Preis zu Ende zu führen, und daß kein Mensch mehr versucht, Jettchen im anderen Sinne zu beeinflussen, schon das ist eigentlich für heute Sieg genug. Aber kommen Sie[[1]], Doktor, mir ist kalt, ich erzähle es Ihnen dann.« Und sie bogen vom Wasser ab, bogen in die Neue Friedrichstraße, die ganz schmal sich zwischen den dunklen Häuserreihen vor ihnen auftat, mit einem dünnen, ungetrübten Band von Weiß. Ganz glatt lag es im Licht der wenigen Laternen, die an den Ecken ihre eisernen Arme ausstreckten. »Herr Gebert«, begann Kößling, »Sie[[1]] müssen mir verzeihen, was ich eben sagte; Sie[[1]] müssen mir versprechen, nicht mehr daran zu denken. Die Szenen auf der Bibliothek, alle diese schwere Einsamkeit, die letzten Wochen, das hatte mich übermannt. Gewiß, ich war ungerecht, ich sage es mir ja selbst, wenn ich mir all das in Ruhe überlege.« »Oh«, unterbrach ihn Jason, »seien Sie[[1]] versichert, ich werde es Ihnen nicht nachtragen. In solch einer stillen Nacht, da redet man ja manches hin, was bei Licht nicht bestehen kann. Aber nun will ich Ihnen erzählen. Hören Sie[[1]]!« Und Jason sprach. Er erzählte, daß er ganz überrascht gewesen sei, wie gut die Sache für sie beide stände. Sein Bruder hätte, ohne daß er davon eine Ahnung gehabt hätte, schon Vorschläge gemacht, die er für sehr generös halte und in denen er das erstemal seit Jahren die wahre Natur Salomons wieder gesehen hätte. Natürlich wäre man noch nicht darauf eingegangen; aber er erblicke doch darin einen[[Anzahl]] Anfang, und schon das müsse sie beide freuen und ermutigen. Jason kam ganz in Feuer und ließ die Dinge weit rosiger erscheinen, als sie doch ausschauten. Ja, er sagte, daß er jetzt gar nicht mehr an einem glücklichen Ausgange zweifeln könnte. Welchen Abschluß aber diese Unterredung gehabt, davon erzählte er Kößling nichts. Warum sollte er auch Doktor Kößling das anvertrauen? Und Jason war gerade daran, sich selbst in diese aussichtsreiche Auffassung hineinzutrügen und ihr sogar musikalischen Ausdruck zu verleihen, indem er – durch eine merkwürdige Gedankenverbindung verleitet – die Ouvertüre aus »Der Templer und die Jüdin« zu pfeifen begann, als er neben sich ein Haustor knarren hörte, einen[[Anzahl]] Schlüssel schließen hörte, und da sah er, wie sich ein Tor öffnete und im Spalt der bloße Kopf des braven Vetters Julius auftauchte, um gleich wieder zu verschwinden. Nicht länger dauerte das, als der Fischotter im Bach den Kopf heraussteckt, um Luft zu schöpfen, und wupp wieder untertaucht. Aber für Jason Gebert genügte es. Dann aber tuschelte und raunte es im dunklen Hausgang, und eine junge Person mit heller, flatternder Chenille und hohem Federhut und Haaren so rot, daß man einen[[Anzahl]] Dachstuhl daran anstecken konnte, trat heraus, schnippte links und rechts mit dem Kopf und tappte vor den beiden her, mit den spitzen Stiefeletten durch den neuen Schnee. Herrgott, sagte sich Jason, wo hast du denn die schon gesehen? Und plötzlich war es Jason Gebert, als spüre er in der kalten Dezembernacht den Hauch eines warmen Frühlingsabends, und er sah eine Rosenbergsche Droschke an sich vorbeischwanken, schwer bepackt und vollgestopft mit allerhand johlendem und quiekendem Weibs- und Mannsvolk. Und oben auf dem Bock saß neben dem Kutscher der neue Vetter Julius und schwenkte eine leere Weinflasche, die er auf einen[[Anzahl]] Stock gesteckt hatte, und neben ihm, halb auf ihm, saß in armseliger, heller Kattunfahne, um die Hüften gehalten von des neuen Vetters männlichem Arm, eine große rote Person. Richtig, das war sie. Damals trug sie noch nicht solchen Chenillemantel und noch nicht solchen teuren Italiener; aber das war sie. »Onkel Naphtali hat ganz recht, lieber Doktor«, begann Jason schmunzelnd nach einer ganzen Weile, während die rote Person hinten im Dämmern um eine Ecke verschwand. »Unser verehrter Freund Julius Jacoby scheint wirklich meist bis in die späte Nacht eifrig im Geschäft tätig zu sein!« »Wie kommen Sie[[1]] darauf, Herr Gebert?« fragte Kößling erstaunt, denn er hatte, wie das so seine Art war, nichts gehört und nichts gesehen. »Oh«, sagte Jason, »das fiel mir eben so ein.« Und dann summte er weiter vor sich hin. Jetzt war er bei der »Schweizerfamilie«: » Setz dich, liebe Emmeline, setze dich recht nah zu mir!« Eigentlich war der Vetter Julius gar nicht so übel. Immerhin ... er hatte doch menschliche Seiten. Langsam tappten die beiden an den Häusern entlang durch den frischen Schnee. Wie das so oft geht, war die schwere Stimmung Kößlings plötzlich umgeschlagen, und der Wind von Lebenslust schwellte ihm die Segel und trieb sein Schiff. Das würde doch nun alles gut werden, und er würde sich ja immer durchschlagen. Endlich war seine Stellung bei der Bibliothek ihm ja doch nur eine Zuflucht gewesen und, genau betrachtet, ein Irrtum und eine Ablenkung von seinem eigentlichen, innersten Beruf. Jetzt würde er schon etwas zuwege bringen. »Na, Herr Doktor«, sagte Jason, und es war, als erriete er Kößlings Gedanken, »was wollen Sie[[1]] nun beginnen?« »Arbeiten, Herr Gebert!« »Ich werde Ihnen etwas sagen, geben Sie[[1]] doch Pfennigmagazine heraus.« Kößling lachte. »Das ist vielleicht ein guter Gedanke, Herr Gebert, denn mit schlechtem und jämmerlichem Geschmack ist immer viel Geld zu verdienen; aber ich will es doch lieber nicht tun. Nein, ich habe andere Dinge vor. Ich freue mich, daß ich von Büchern nichts mehr höre und sehe. Ich will etwas ganz Unabhängiges schaffen, etwas aus dem Heute, aus dem Berlin von jetzt, oder will vielleicht eine Handwerkergeschichte aus meiner Heimat schreiben. Das kenne ich, das habe ich miterlebt.« »Ja«, sagte Jason, »Sie[[1]] haben gewiß recht. Manchmal will es mir scheinen, daß wir uns alle aus dem Leben herausstudiert haben und uns nun wieder hineinleben müssen. Ihre letzten Arbeiten gefielen mir deshalb nicht, sie hatten einen[[Anzahl]] so {{Jean-Pau¬li¬sie¬ren¬den}} Stil – der ist nicht Ihr Eigentum, der liegt Ihrem Wesen nicht, das müßten Sie[[1]] doch lieber ›uns anderen‹ lassen.« Kößling lachte ganz laut durch die Nacht. »Aber«, sagte Jason Gebert und blieb stehen, »was nun, Doktor? Trinken wir noch eine Flasche Chambertin? Schleiermachers Leibwein, Doktor! Denn es ist verteufelt kalt, und ich möchte endlich wieder einmal unter Dach und Fach kommen.« Aber Kößling bat Jason Gebert, er möchte ihm verzeihen, wenn er es nicht täte. All das, was er heute erlebt, hätte ihn mitgenommen, und dann wäre er zugleich jetzt so beschäftigt mit seinen Plänen, es strömte so auf ihn zu, und er möchte nicht, daß seine Gedanken im Dunst der Weinstube gleich wieder verflögen. »Denken Sie[[1]] doch an Hoffmann«, sagte Jason. »Nein, Herr Gebert, ich glaube nicht, daß Hoffmann in die Weinstube gegangen ist, wenn er mit seinen Gespenstern allein sein wollte; ich meine[[Meinung]]: erst wenn er nach Hause schwankte und auf den leeren, weiten Gendarmenmarkt trat; sowie er sich an den Schreibtisch setzte, da erst wurden seine Gestalten und Geister lebendig, zerrten ihn am Rock und zogen ihn am Haar, rissen ihn hin und her und spielten endlich Fangball mit ihm. Und nicht um sie zu bannen, sondern um ihnen zu entfliehen, ist er dann wieder die halben Nächte hindurch, fast bis zum Morgengrauen, in die Weinhäuser gegangen. Eigentlich war er nur nüchtern, wenn er trank.« Sie[[1]] waren indes schon wieder in die breite, licht- und schneehelle Königstraße eingebogen, hatten sich durch die hohen, zerfahrenen Schneeflächen des Damms getappt und standen schon wieder – den Schnee von den Schuhen klopfend – an der Ecke der Königstraße, unter einer zuckenden Gasflamme. »Also adieu, Doktor, ich will nicht daran schuld sein, daß Bacchus bei Ihnen die Musen und Charitinnen verjagt. Wenn Sie[[1]] irgend etwas wünschen, irgendeinen Rat haben wollen oder vielleicht etwas anderes brauchen, so wissen Sie[[1]] ja, wo Sie[[1]] jederzeit anklopfen dürfen.« Aber als Jason das sprach, da sah er drüben schnabbernd und breit eine Gesellschaft von Menschen auftauchen, Ferdinand und Max und Eli, Minchen und Hannchen – seine Leute. Und da es ihm nicht lieb war, etwa von ihnen gesehen zu werden, so zog er schnell seinen Hut, machte kehrt und hinkte nach Hause, während Kößling noch einen[[Anzahl]] Augenblick stehenblieb und ihm nachblickte. &&x Als Jason dann nach oben kam, sah er noch in Jettchens Stube Licht, und er klopfte, um zu hören, ob sie schon schliefe. Jettchen hatte bis jetzt auf Jason gewartet; aber nun, als sie ihn kommen hörte, hatte sie doch nicht den Mut gefunden, ihm entgegenzugehen, denn es sollte nicht aussehen, als ob sie seinetwegen so lange munter geblieben wäre. Und dann fürchtete sie sich auch davor, üble Nachrichten zu hören. Desto lieber also war es ihr nun, daß Jason selbst klopfte und fragte, ob er sie noch sprechen könnte. Jason war guter Dinge, das sah Jettchen sogleich. Er erzählte, daß er jetzt das erstemal den Eindruck gewonnen hätte, daß ihre Sache nicht schlecht stände; ja, man hätte sich sogar schon fast völlig mit dem Gedanken einer Scheidung vertraut gemacht. Onkel Salomon hätte in großmütigster Weise Vorschläge getan, die natürlich nicht angenommen worden wären, aber – immerhin – das wäre doch ein vernünftiges Wort von ihm gewesen und endlich, endlich ein Anfang. Tante Rikchen hätte zwar gewünscht, daß Jettchen sogleich in ihr Haus zurückkehre; aber er hätte dem mit aller Macht widersprochen. Das könne sie ja später noch immer tun, wenn die gerichtliche Scheidung erst im Gange wäre. Bei Tante Rikchens schöner Art, stets wieder auf das zurückzukommen, was sie wolle, und mit allen Mitteln zu versuchen, ihren Kopf durchzusetzen, würde sie ja Jettchen das Leben jetzt zur Hölle machen. Da wäre es schon besser, sie bliebe noch einige Zeit bei ihm. Jettchen war ganz erregt über die Nachricht. Alles Traurige, der dumpfe Druck der Bekümmernis, unter dem sie nun Wochen und Wochen dahingelebt, hatten sich plötzlich von ihr gehoben, und es durchströmte sie wie eine warme Welle von Lebenslust und Lebensmut. Und ehe Jettchen noch recht wußte, wie das geschah, und ehe Jason noch recht wußte, was das bedeute, hatte Jettchen auch schon ihre beiden bloßen Arme – denn sie trug gerade einen[[Anzahl]] weinfarbenen Morgenrock mit offenen Ärmeln – um Onkel Jasons Schultern gelegt und Onkel Jason auf den Mund geküßt und noch einmal rechts und links auf die Backen geküßt und dann ganz lange wieder auf den Mund aus einem plötzlichen Gefühle der Dankbarkeit. Und dann senkte Jettchen den Kopf und schluchzte auf; aber das war nicht vor Unglück, sondern vor Freude, daß es nun gut würde. Jason machte sich schwer los. Alles Blut war ihm zu Kopf geschossen. Solange sich auch Jason erinnerte, hatte ihn Jettchen nie geküßt, und er hatte Scheu empfunden, selbst ihre Hand zu berühren. Er wollte etwas sagen, wollte das mit einem Wort ins Lächerliche ziehen, um dem Zwang des Augenblicks dadurch zu entgehen; aber er stand ganz stumm da und brachte keinen Laut hervor. »Doktor Kößling«, Jettchen nannte ihn Jason gegenüber nie beim Vornamen, »war am Abend hier, er hätte dich gern noch gesprochen, Onkel. Ich weiß nicht, was er dir sagen wollte, aber er hatte irgend etwas, das sah ich ihm an.« »Ja, ja«, meinte Jason, froh, auf einen[[Anzahl]] anderen Gesprächsstoff übergehen zu können, »richtig – ich vergaß. Ich traf ihn noch. Es war nichts von Bedeutung. Aber eins, Jettchen – du mußt versuchen, ihm das Schachspielen abzugewöhnen.« »Wie soll ich das, Onkel?« meinte Jettchen und seufzte. »Das geht mich gar nichts an, das ist deine Sache. Eine Frau kann aus dem Mann alles machen; der Mann aus der Frau nichts. Gute Nacht!« Damit ging Jason und ließ Jettchen allein. Langsam, ganz langsam ging Jason den Flur entlang, nach seinem Zimmer. Er war erregt; freudig und traurig zugleich. Er hatte über das kurze Liebesgeschenk ein Glücksempfinden, das ihn in seiner sinnlichen Gewalt ganz trunken machte, und zugleich krampfte ihm die Angst, daß sein Traum je Wirklichkeit werden könnte, das Herz zusammen. Und lange, lange lag Jason noch, nachdem das Licht gelöscht war, mit offenen Augen träumend im Bett und starrte in das Zimmer, das von der Schneenacht draußen seltsam und milde durchleuchtet erschien, so daß man unschwer die Umrisse und Formen der Möbel, die dunkleren Flecke der Bilder an der Wand erkennen konnte. – Jetzt schlief Jettchen gewiß schon. Und lange, lange lag Jettchen noch, nachdem das Licht gelöscht war, mit offenen Augen träumend im Bett und starrte in das Zimmer, das von der Schneenacht draußen seltsam und milde durchleuchtet erschien, so daß man unschwer die Umrisse und Formen der Möbel, die dunkleren Flecke der Bilder an der Wand erkennen konnte. – Jetzt schlief Onkel Jason gewiß schon. Und der Schnee wich nicht, ließ sich nicht verjagen, er blieb lange Tage und Wochen. Er zog sich in hohen Wällen am Bürgersteig dahin, und kaum daß man den Fußweg an den Häusern frei gemacht hatte, so besann sich der Himmel nicht lange und streute auch schon von neuem Schneekörner und Flocken darüber aus. Einmal warf er Schneefedern herab, groß und breit wie Schwanendaunen; ein anderes Mal feine, rieselnde Körnlein, ganz dicht wie rinnender Sand. Und wenn auch immer wieder die Leute in Fausthandschuhen mit ihren Schiebern und Besen und Hacken und Schippen kamen, den Schnee fortzustoßen, und seine Last zu den vorigen, zu den grauen Bergen warfen, der Himmel ließ sich das nicht verdrießen; sobald man sich des Morgens die Augen rieb, war wieder alles beim alten. Die Fahrstraßen, die Dämme waren dadurch mit der Zeit ganz schmal geworden, und wenn zwei Fuhrwerke aneinander vorübermußten, ging das nie mehr ohne Lärm, Streit und Schimpfworte ab; bis endlich einer von den Fuhrleuten sich doch entschloß, mitten durch die Schneehügel zu fahren; dann aber mußten die Gäule wild emporspringen und mit aller Kraft an den Strängen ziehen, um die Wagen herauszureißen. Und wenn der Schnee schon nicht verging, so wollte der Rauhfrost darin auch nicht nachstehen. Tag für Tag war ganz seltsames Wetter, stets kalter Nebel und der Himmel dabei so tief, daß die Kirchtürme ringsum und die breite Schloßkuppe sich fast jederzeit im Wolkendunst verloren. Selbst am hellen Mittag arbeitete da der Silberschmied Rauhfrost weiter an seinen grazilen und zerbrechlichen Kunstwerken, und in den Nachtstunden war er ebenso noch am Werk. Er gönnte sich keine Ruhe, als wisse er, daß seine Zeit doch nicht allzulange währen könnte. Und um seine Arbeit zu bewundern, ging Jason sogar hinaus in den Tiergarten; er schritt dort zwischen Wänden, die ganz dicht aus dem weißen Maschenwerk von hunderttausend Zweigen gewebt waren, dahin – auf ganz schmalen, niedergetretenen Pfaden, mitten durch ein weiches, blendendhelles Weiß, das die Büsche verschüttet hielt und in dem jedes Leben ertrunken und versunken war. Gerade daß der Nebel nicht weit sehen ließ, sagte er, das wäre so schön gewesen. Wie durch die Säle einer marmorweißen Alhambra wäre man dahingeschritten, und am Wege die Tannenbäumchen, deren Zweige von den Schneelasten ganz niedergedrückt waren, sie hätten ausgesehen wie verzauberte maurische Prinzessinnen, von Kopf bis Fuß eingehüllt in Spitzenschleier. Daß Kößling nicht mehr an der Bibliothek arbeitete, hatte Jettchen nicht verborgen bleiben können. Irgendwie war's aufgekommen, schon am nächsten Tage, da ja selbst die dicksten Wände ein Geheimnis nicht festzuhalten wissen. Und in wenigen Stunden war es Stadtgespräch geworden. Daß man sich erzählte, man hätte Kößling dieses Skandals wegen schimpflich fortgejagt, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Nur die Wohlgesinnten berichteten noch, daß man ihm zart gewinkt hätte, seinen Abschied zu nehmen. Es war ganz wertlos, dem zu widersprechen; denn es glaubte doch niemand, und es erübrigte sich ja eigentlich auch. Denn ob mit eigenem Willen und eigenem Entschluß oder durch höhere Macht und auf fremden Befehl, ob handelnd oder leidend – die Schlußsumme blieb für Doktor Kößling nun einmal bestehen, blieb ganz die gleiche: Durch alle seine sicheren Aussichten für die Zukunft war ein dicker Strich gemacht worden, und ob das nun mit Recht oder mit Unrecht geschehen war, das änderte nichts an der Tatsache. Darüber jetzt noch zu grübeln und zu reden hieß leeres Stroh dreschen. Jettchen weinte sehr, als sie es erfuhr. Nicht ihretwegen weinte sie, sondern Kößlings wegen. Sie[[1]] hatte das Gefühl einer schweren Verantwortung, als ob sie es gewesen, die Kößling aus Brot und Lohn gebracht hätte; nicht die Schimpflichkeit der Verdächtigung schmerzte sie, denn die letzten Monate hatten sie daran gewöhnt, sie hinzunehmen, ohne zu zucken, und hatten ihr Herz stolz den Reden der Leute gegenüber gemacht; aber die ganze Niedrigkeit, die in der Anzeige lag, machte sie doch jedesmal von neuen aufschluchzen, wenn sie nur wieder daran dachte. Von wem diese Anzeige ausgegangen, das hatte Kößling nicht erfahren können, und Jettchen hatte für ihre Vermutungen auch keine rechte Unterlage. Endlich war es auch so schmutzig und widerwärtig, daß weder sie noch Jason noch Kößling sich Mühe gaben, nun den Angeber festzustellen. Wenn es wirklich von der Seite kam, wie sie vermuteten, nun, so waren das eben Waffen, deren sie sich nicht bedienen wollten und auch nicht zu bedienen vermochten; wie ja der unanständige Gegner von vornherein eben den Vorteil seiner Unanständigkeit genießt! &&x Jason dachte wohl flüchtig daran, ob er nicht aus seinen nächtlichen Wahrnehmungen vielleicht dem Vetter Julius einen[[Anzahl]] Strick drehen sollte, aber der Gedanke wurde nicht alt bei ihm, und Jason nahm nie Gelegenheit, auch nur davon zu sprechen. Jettchen suchte sich gewißlich ebenso mit in die Täuschung hineinzureden, daß es für Kößling das beste gewesen sei, seine Stelle aufzugeben, und daß er dadurch gleichsam Raum für seine eigene Entwicklung gewonnen habe; aber sie hätte nicht den klaren Blick der Geberts für Menschen und Verhältnisse haben müssen, wenn sie nicht alsbald – auch bei aller Zuneigung zu Kößling – empfunden hätte, daß mit dem Verlust der Stellung Kößling wieder an Halt und Festigkeit verloren hatte und daß das Träumerische und Ziellose plötzlich wieder in ihm die Oberhand bekommen hatte – das Träumerische und Ziellose, das im Grunde seines Wesens lag und das ihn auch schon früh aus der festen Bahn heraus in die ungewisse Daseinssphäre eines Literaten gestoßen hatte. Aber jedenfalls trug die Entlassung Kößlings und die Anzeige gegen ihn mit dazu bei, daß Jettchen den geplanten Besuch bei Tante Rikchen und Onkel Salomon immer wieder und wieder hinausschob. Denn wenn bisher die Zuneigung zu ihrer Tante Rikchen kaum eine Trübung erfahren hatte und Jettchen es bisher gleichsam nur als ein Mißverständnis empfunden hatte, das zwischen ihnen herrschte – da man sie eben doch nur in bester Absicht in eine Lage gedrängt hatte, der sie sich um jeden Preis wieder entwinden mußte –, so konnte sie jetzt plötzlich über die Empfindung von Feindschaft und Kampf nicht mehr hinwegkommen. Soviel sie sich auch selbst zusprach, daß doch sicherlich Onkel Salomon wenigstens daran unschuldig sei, Jettchen brachte es jetzt doch nicht über das Herz, die beiden und ihr altes Heim aufzusuchen und wiederzusehen. Zudem schien es noch, als ob Jason doch allzu günstig geurteilt hätte; und die erste freudige Aufwallung Jettchens – weil sie nun glaubte, in allerkürzester Zeit von dem lästigen Joch befreit zu sein – machte wieder der Entmutigung von vordem Platz, wenn auch ihre Schatten sich nicht mehr ganz so tief über ihr Leben zu senken vermochten. Noch sah zwar Jettchen keinen Ausgang aus dem Labyrinth, in dem sie sich verfangen hatte, aber sie hatte doch die Hoffnung, daß sie nun bald einmal am Ende einer neuen Biegung die Helligkeit der Pforte aufblinken sehen müsse; und schon diese leise und schwankende Hoffnung machte es, daß Jettchen wieder mehr Anteil am Leben nahm und mehr auf sich und ihre Person achtete. Sie[[1]] begann Freude zu haben an ihren neuen Kleidern, die so lange schon – seit der Hochzeit, seit der ersten Anprobe – fast unberührt in dem Schrank gehangen hatten; und Jettchen konnte halbe Stunden damit zubringen, wenn sie zu den Schuten und Kapotten die kleidsamsten Frisuren vor der Spiegeltoilette ausprobte oder die Morgenhauben um eine Schleife bereicherte oder verkürzte. Es war das keine Eitelkeit und Putzsucht bei Jettchen, sondern es stand ihr wohl an, und es gehörte zu ihrem Wesen, sich mit Sorgfalt schönzumachen und so durch ihren Anblick den anderen Freude zu bereiten. Für wen tat sie es denn? Für Onkel Jason, der es gern sah, und für Kößling, dem es manchmal aufblitzte, daß Jettchen heute irgendwie anders aussähe als gestern oder vorgestern, der aber vergebens sich Rechenschaft darüber abzulegen versuchte, worin dieses Anders, dieses Schöner oder Liebenswürdiger nun eigentlich bestände. Sonst sah Jettchen doch kaum jemanden. Und es kam Weihnachten – weiße Weihnachten. Am Vormittag, als Jason irgendeinen Gang hatte, zog Jettchen heimlich zum Weihnachtsmarkt durch den weißen, frostigen Nebel, der ihr ordentlich den Atem vor dem Mund frieren machte. Schon von der Schloßbrücke an hörte man ein Brausen und Sausen und Lärm und Geschwirr; und die Kinder mit den Schäfchen hängten sich ihr an das Kleid, bis sie ihren Zoll entrichtet hatte; und die Waldteufeljungen mit Baschliks über den Ohren und Wolltüchern um den Hals brummten neben ihr her und erschreckten sie, indem sie die Teufel aus dem Kasten springen ließen und ihre langen, vielgliedrigen Scheren, auf denen Holzsoldaten exerzierten, ihr plötzlich entgegenstreckten. In den Buden standen Männer und Frauen, mit Gesichtern rot wie Hahnenkämme, eingewickelt und vermummt in Mäntel und Tücher, trampelten mit den Füßen, bliesen sich in die roten Hände oder streckten sie über ihre Feuerkieken aus; und dazu zählten sie ohne Aufhören ihre Waren her, riefen die Vorübergehenden an stehenzubleiben, schimpften auf den schlechten Geschäftsgang, fragten Kunden nach ihren Wünschen und zankten sich mit Nachbarn, die drei Buden von ihnen entfernt Pfefferkuchen feilboten. Und zwischen den Budenreihen stapfte und schob sich im niedergetretenen Schnee eine bunte, vielköpfige Menge dahin: Frauen mit Kindern, die rechts und links an den Zipfeln der Kantentücher zogen und zerrten wie die Englein am Mantel der Maria; Väter, von blondzöpfigen Töchtern flankiert; Studenten und schäkernde Liebespaare. Da es kalt war, hatte aber keiner recht Lust, die Börse zu ziehen; und wenn der Franzose mit dem Turban sein Fleckwasser noch so zungenfertig anpries, die Menge staute sich wohl einen[[Anzahl]] Augenblick vor seiner Rednertribüne, aber sowie er glaubte, die Leute von der Unfehlbarkeit seines Wassers überzeugt zu haben, und seine Fläschchen in die Menge werfen wollte, da schob sie lachend und lärmend weiter; und der arme, zappelnde Turbanträger haspelte von neuem seine Kette französischer Flickworte heraus mit ungeschwächter Lungenkraft durch den grauen Nebel und die Winterkälte. Bei einem Parfümeriekrämer aus Altona kaufte Jettchen eine Flasche {{Eau de Lavande}} und bei einem Lebkuchenbäcker Thorner, Liegnitzer und Nürnberger Pfefferkuchen und Königsberger Marzipan. Und endlich wählte sie noch beim Pyramidenhändler eine schöne Pyramide, wohl drei Fuß hoch. Sie[[1]] war ganz aus grünem Ölpapier aufgebaut, und ihre Zweige trugen zudem noch runde Perlen aus rotem Lack, und sie prunkte mit einer Unzahl kleiner, gelber Wachskerzen. Die kaufte Jettchen, und sie gab dem Laufjungen noch ihre Päckchen dazu, er solle alles heimtragen. Aber sie selbst eilte voran wieder nach Haus zu Jason, so schnell sie konnte; denn sie wünschte nicht, daß sie jemand mit ihren Einkäufen sähe. Im Hause Onkel Salomons hatte man Weihnachten nie gefeiert. Nicht etwa aus Engherzigkeit, sondern im Sinne alter Überlieferung, die doch sonst in keiner Weise mehr gehalten wurde. Wenn Jettchen eine Kleinigkeit, eine Börse oder einen[[Anzahl]] Serviettenring, für Onkel Jason zum Weihnachtsfest gehäkelt oder gestickt hatte, so hatte sie das ganz heimlich getan, und Onkel Salomon durfte das nicht sehen. Aber jetzt wollte Jettchen ihrem Leben doch das bißchen Festesglanz nicht nehmen, und sie wußte auch, daß Onkel Jason trotz seiner Witzeleien über den christlichen Glauben in einer leisen Gefühlsseligkeit es liebte, daß Weihnachten nicht so ganz klanglos und unbemerkt in seinem Hause vorübergingen. Endlich war Jettchen der Meinung, daß sie damit auch für Kößling, der doch seit einem Jahrzehnt oder schon länger ganz einsam in der Welt stand ... auch für den eine heimliche Freude bereite. Am späten Nachmittag kam Doktor Kößling, als im Zimmer die ersten Kerzen entzündet wurden und sich draußen schon der Abend blau über die Schneedecke legte. Man ging nach hinten, ging in Onkel Jasons Bibliothekszimmer – geradeso wie sonst. Und nur wenn Jettchen an das Fenster trat und über die Galerie fort in diese engen Höfe hinabsah, die schmal und langgestreckt, sich bauchend und sich schließend, von weißen Bäumen und armseligen, verschneiten Gartenflecken unterbrochen, sich dahinzogen – nur dann erinnerte sie ein Licht, das ganz fern im Blau in einem der Hinterhäuser aufblitzte, und der erste blecherne Ton einer Kindertrompete daran, daß es doch heute Heiliger Abend war. Onkel Jason und Doktor Kößling hätte sie es nicht angesehen. &&x Kößling hatte der Verlust seiner Stellung doch stärker aus dem Gleichgewicht gebracht, als er es sich eingestehen wollte, und er konnte sich in das alte Leben nicht so recht wieder hineinfinden. Einen[[Anzahl]] Teil seiner Verbindungen hatte er auch während seiner Stellung abgebrochen, und nun, als er da wieder anklopfte, waren schon längst andere an seinen Platz gerückt. Denn das Leben geht immer weiter, und in jede Bresche springen zehn für einen[[Anzahl]]. Kößlings Mittel begannen sich zu erschöpfen. Bei allem Einschränken wurde es täglich weniger; und er, der sonst sorglos, frisch und stolz gewesen war, fürchtete sich mit einemmal vor Not und vor Hunger. Tag für Tag hatte er nun wieder zu arbeiten versucht, fast zwei Wochen lang. Aber seine Kraft war wie gelähmt. Die Taschenuhr tickte dann neben ihm auf dem Tisch, und solch ein Vormittag wollte und wollte ihm gar kein Ende nehmen. Bis Kößling endlich doch aufstand. Aber das Blatt war nur mit ein paar Zeilen beschrieben; und wenn er die las und wieder las, dann mißfielen sie ihm so, daß er sie in seiner Wut vernichtete. Es kam so weit, daß er sich freute, wenn er nur recht spät erwachte. Dann war doch wenigstens der einsame, graue und kalte Tag nicht gar so lang mehr. Sowie der Nachmittag aber kam mit seiner frühen Winterdämmerung, hielt ihn nichts mehr. Und wenn Kößling sich auch fest vorgenommen hatte, heute nicht zu gehen – er mußte zum Schachtisch. Wenn er dann endlich vom Brett aufstand, war er immer noch wie in einem Rausch und durchflog in halbwirren Gedanken ungeahnte Reihen von Möglichkeiten. Von der Bedrängnis seiner Seele fand er in keiner Philosophie Erlösung, und die klaren Bauten Kants und Spinozas oder Goethes, zu denen er sich flüchten wollte, schienen ihm lichtlos und unwahr. Seine Seele suchte etwas, worin sie sich ganz und willenlos verlieren konnte, suchte ein Wasser, das sie trüge wie das Öl den Kork. Und wie sich sein Geist ganz und gar in den unendlichen, spielerischen Rhythmen des Schachs verfangen hatte, so verfing sich allgemach, ganz unmerklich, sein Gemüt wieder in den weichen Lockungen der Glaubensvorstellungen, in den tiefen Brünstigkeiten des Gebets, denen er seit Jahrzehnten, seit seinen letzten Gymnasiastenjahren, sich entronnen glaubte. Es war ihm wie allen ergangen. Zu Hause, in früher Jugend war ihm Glaube und Frömmigkeit kaum mehr wie eine Prügelsache gewesen: ein Muß, eng, finster und beschränkt. Dann aber war der Rektor der Johannisschule, der alte Isemann, ihm Lehrer gewesen; und der Pfarrer Renanus der Paulskirche hatte in ihm schon den künftigen Geistlichen gesehen. Der junge Mensch hatte sich mit der Innigkeit und Inbrunst seiner Jugend den neuen Eindrücken hingegeben, hatte Nächte im Gebet gerungen, ganz erfüllt von seiner Sendung, die sündige Menschheit zum Leben in Christo zurückzuführen. Aber dann waren Zweifel in seine Seele gekommen; er hatte erkannt, daß jenseits der Glaubenswelt andere Welten lagen, stark und frei – und gleichsam über Nacht war er allen Glaubens ledig geworden. Eines Tages stand er auf, und was gestern noch mächtig in ihm gewesen war, es war heute ganz macht- und wesenlos für ihn geworden. Gewissensbisse gab es; Auftritte mit Rektor und Pfarrer; man steckte sich hinter die Eltern, deren Eitelkeit es schmeichelte, einen[[Anzahl]] zukünftigen Geistlichen und Gottesmann als Sohn zu haben, und die eigentlich nur um dieser Aussicht willen in den Besuch des Gymnasiums eingewilligt hatten; aber all das machte, daß Kößling innerlich und äußerlich sich immer mehr von seinem Kinderglauben abwandte. Seine späteren Studien waren auch nicht danach angetan, ihn wieder zurückzuführen. Plötzlich – nach jahrzehntelangem Schweigen – meldeten sich in seinem Innern von neuem die längst vergessenen Bedenken, und ein tiefes Bedürfnis nach einem willenlosen Sichverlieren an eine höhere Macht, nach dem Aufgehen in dem Glanz und in der Güte eines menschlich-himmlischen Wesens kam über ihn. Nicht bei Tag und bei Licht, sondern in stillen, schlaflosen Nächten, im halbhellen Zimmer. Fragen, die sonst seinem Wesen ganz fernlagen, wie jetzt der Streit in Magdeburg über die Gottheit Christi, begannen ihn wieder zu erregen und zu beschäftigen. Und wenn Kößling mit Jason Gebert am Nachmittag oder Abend zusammentraf, kam er wieder und wieder darauf zurück. So entging Jason Gebert diese Wandlung Kößlings nicht. Aber Jason Gebert mochte nicht mit Doktor Kößling darüber sprechen, weil er fühlte, daß jedes seiner Worte nur die Kluft vergrößern würde, und er hatte sich deswegen einen[[Anzahl]] anderen Sprecher gewählt: »Das Leben Jesu« von David Friedrich Strauß. Als es erschien, war Jason Gebert das Buch eine Offenbarung gewesen. Dann jedoch hatte es durch vier, fünf Jahre in irgendeinem versteckten Winkel seines Bücherzimmers einen[[Anzahl]] Platz gehabt, ohne daß er jemals die Nötigung empfunden hatte, wieder hineinzublicken. Denn diese Fragen des Glaubens waren so völlig aus seinem Leben geschieden, daß ihm das Für und Wider über sie gleich fernlag. Nun aber hatte Jason Gebert das Buch von neuem hervorgesucht, um es gegen Kößling als Sturmbock zu benutzen. Denn wenn es ihm schon um Kößlings geistige Freiheit leid war, so sah er mehr noch eine Gefahr darin, die auch Jettchen beträfe, eben die Gefahr jeden Glaubens: die der Überhebung und der Unduldsamkeit. Und er, der bisher das Bekenntnis eines Menschen immer nur betrachtet hatte als eine Äußerlichkeit, die man aus einem gewissen Zwang heraus mit Anstand zu tragen hat und die gleichsam den Nachbar nicht berührt – er, Jason Gebert, empfand plötzlich, daß es doch tiefgehende Verschiedenheit des Wesens und der Empfindung bedinge, die man vielleicht verhüllen, aber schwerlich überbrücken konnte. Und ohne daß er es sich eingestehen wollte, machte er sich deshalb Sorge um seine beiden Schützlinge. Es entfremdete ihm Doktor Kößling, für dessen Wollen, Wünschen und Empfindungen, wenn es auch dem seinen entgegenlief, er bisher immer ein Mitfühlen aufgebracht hatte. Dieser neuen Wandlung in Kößlings Wesen aber stand er ganz anteillos und kalt gegenüber. Und heute, am Heiligen Abend, hatte ihm Kößling das Buch zurückgebracht, fast wortlos. Er hatte es nicht zu Ende gelesen. Er sagte, es hätte ihm weh getan. Jason aber hatte, trotzdem er ein anderes erwartet, das Buch ruhig an seinen Platz gestellt. Doch nicht so ruhig, daß Jettchen, die am Fenster stand, nicht bemerkt hätte, daß Onkel Jason es nicht ohne eine tiefe Verstimmung tat und wie schwer es ihm wurde, ein unbefangenes Gespräch aufzunehmen. Jettchen hatte sich so auf den Abend heute gefreut; sie fühlte, daß in ihr und in ihrem Blute das Leben sang, und sie wäre selbst so gern diesen Lockungen gefolgt und hätte selbst so gern die anderen freudig und zukunftsfroh gemacht, und statt dessen mußte sie sehen, wie auf ihnen nur die Schwere des Daseins lastete und wie sie sich zergrübelten und in Sorgen und Sehnsüchten sich verzehrten. Der eine weichmütig und doch voll gärendem Trotz; der andere mit der überlegenen und geistvoll-ironischen Geste des Entsagens. Draußen ließ Jettchen von Fräulein Hörtel die kleinen Wachskerzen der Pyramide anzünden, ließ Kuchen hinstellen und Tee[[2]] bereiten, und hier spöttelte Jason über Professor Tholuck, der nun doch ins Theater gegangen sei, um Seydelmann als Mephisto zu sehen und sich dadurch jedem wahrhaft Frommen im Lande zu einem Greuel und Ärgernis gemacht hätte, und fragte dann noch so im Gespräch, wie weit denn eigentlich Hengstenberg jetzt mit seinem Buch über Bileams Esel wäre, ob Doktor Kößling das nicht vielleicht wüßte; er schiene ihm – natürlich Hengstenberg – ja nahezustehen. Und Kößling lachte dazu, aber gezwungen und unfroh. Da klopfte Fräulein Hörtel ganz leise an – so war es verabredet. Jettchen aber wandte sich vom Fenster ab und bat, man möchte doch zu einer Tasse Tee[[1]] mit vorkommen. »Du bist doch heut so feierlich, Jettchen«, sagte Jason und lachte. »Was hast du denn?« Doch als er auf den Flur hinaustrat, der schon ganz hell und goldig war von all dem Licht, das durch die Türscheiben floß, da wurde er gerührt und konnte gar nicht schnell genug nach vorn kommen. Und Kößling bekam einen[[Anzahl]] roten Kopf, wäre am liebsten Jettchen nachgelaufen, um sie zu küssen. Was war er doch schlecht, und was war sie doch lieb und zart und gut! &&x Schon draußen auf dem Flur hatte es so ganz leicht nach Wachskerzen und Ölpapier gerochen, und als Jason die Tür aufstieß, sah er die Pyramide, wohl mit zwanzig Kerzen, ganz in einen[[Anzahl]] gelbroten Schein gehüllt, und ihre Wachstropfen weinten herab und durchbrochene Meißner Schüsseln, die bis an den Rand mit Süßem gefüllt waren und deren Mitte je ein kleiner, kunstvoller Berg von Nüssen und Hasenköpfen bildete. »Ach«, sagte Jason und zog die Schüsseln aus dem Tropfbereich der Pyramide, »das soll ich alles bekommen? Das ist aber beinahe zuviel für eine Person.« »Nein«, rief Jettchen, »es steht ja dran. Das ist für Doktor Kößling, das für dich und das für mich. Und du, Onkel, weil du dich so gern schönmachst – hier ist noch eine Flasche {{Eau de Lavande}} für dich. Und hier, Onkel, weil du dir doch immer alles, was du vorhast, aufschreibst, hast du ein kleines Merkbüchlein. Ich glaube nicht, daß du es kennst; es ist etwas ganz Neues. Man kann die Schrift immer wieder fortwischen und wieder darüberschreiben. Und du, Fritz, weil ich gesehen habe, daß du es brauchen kannst – hier habe ich für dich eine Geldbörse gehäkelt.« Und damit schwenkte Jettchen eine grüne Börse, die in Rot Kößlings Namenszug trug und von zwei goldenen Ringen umspannt wurde, hin und her. »Ich habe sie recht groß gearbeitet und recht eng gehäkelt, damit viel hinein- und nicht so leicht etwas herausgeht.« »Ja«, sagte Jason, »und wie ich sehe, sind auch gleich zwei Ringe daran. Das ist sehr praktisch.« »Ach, ist das gut von dir«, rief Kößling, der ganz verwirrt war, denn es waren seine ersten Weihnachten seit langen Jahren. »Und ich schlechter Mensch komme mit leeren Händen. Aber ich wußte ja gar nicht, daß es hier solche Weihnachten gäbe.« Jettchen lachte verlegen und sagte: »Es ist mir genug, daß du hier bei mir bist, du brauchst mir nichts zu schenken.« Aber ganz im geheimen verstimmte es sie jedoch, daß er ihr so gar nichts gebracht hatte, nicht einmal eine Blume oder eine Papeterie oder eine Bonbonniere. Denn Jettchen war es von je gewohnt, daß man ihr etwas schenkte, und es freute sie nicht einzig die Art und der Wert der Gabe, sondern sie liebte noch mehr die stille Huldigung, die in dem Geschenk an sich lag, liebte das Gedenken in ihm. Und so verstimmte es sie, daß Kößling ihr nie etwas brachte und gar nicht fühlte, wie leicht er ihr durch ein paar Groschen[[1]] eine Freude machen konnte, mit einer Blume, einer Näscherei, einem Stickmuster oder einem neuen Almanach. Es verstimmte sie, daß Kößlings Wesen jede Galanterie fernlag, und daß ihm jene ewig neuen Werbungen fremd waren, die Geschenke, Andenken und Aufmerksamkeiten für Frauen bedeuten. »Für Sie[[1]], Herr Doktor, habe ich auch etwas«, sagte Jason, und damit zog er ein ganz dünnes Bändchen aus der Rocktasche. »Hier, sehen Sie[[1]]: Fünfundneunzig Sätze gegen das Schachspiel. Der zum Schachspiel verführten Menschheit, insbesondere Herrn Doktor Friedrich Kößling – das habe ich noch zugeschrieben: Herrn Doktor Friedrich Kößling insbesondere, gewidmet von einem Leipziger Theologen. Es ist ein lehrreiches Buch. Darf ich Ihnen daraus vorlesen? – Satz dreiundzwanzig: ›Nicht allein eine schwere, sondern auch eine brotlose Kunst ist das Schachspielen. Sie[[1]] ernährt ebensowenig ihren Mann wie die Dichtkunst. Das Schachspiel bringt kein Brot, und wer kein Brot hat, kann auch keine Frau nehmen.‹« »Da ist es mit mir also doppelt schlecht bestellt«, sagte Kößling und lachte mühselig, »da ich zwei brotlose Künste auf einmal betreibe.« »Nein«, entgegnete Jason, »bei der Dichtkunst hat der Mann sich geirrt. Was versteht auch ein Theologe von der Dichtkunst! Aber mit dem Schach hat er recht.« Dem stimmte Kößling bei. »Vielleicht nicht ganz. Aber unrecht hat er jedenfalls nicht.« »Und nun, Jettchen, kommst du heran«, rief Jason und hinkte mitten in das Zimmer. »Jetzt stell dich mal gerade vor mich hin und mach fest die Augen zu. Es wird dir nicht leid tun.« Und als Jettchen das tat, da knüpfte ihr Jason so schnell und geschickt, als wäre er eine Kammerzofe, ein Stirnband über das Haar, ein schmales, schwarzes Samtband, in dessen Mitte an einer kleinen Öse eine einzige schwere, goldgefaßte Perle hing. »So, Jettchen, wenn du jetzt noch dazu das weiße Seidenkleid mit den silbernen ›{{à la grecque}}‹-Borden anziehst, so mußt du darin aussehen wie eine Königin aus dem Morgenland.« Jettchen lief schnell an den Spiegel sich beschauen. Sie[[1]] wurde ganz rot vor Glück, und sie eilte zu Onkel Jason und schüttelte ihm die Hand, zog die Hand an die Lippen, streichelte sie und war ganz außer sich vor Freude. Kößling stand abseits mit einem bittern Gefühl im Herzen. »Ja«, sagte er dann, als ihm Jettchen die Perle zum Bewundern hinhielt und ihre Stirn ganz nahe an seine Augen brachte. »Ja, Jettchen, so etwas dir zu schenken läge nicht in meiner Macht.« »Oh«, versetzte Jason mit leichtem Unmut in der Stimme, »jeder tut es eben so gut, wie er's kann.« Kößling wurde rot. »Ach, bitte«, rief Jettchen, »der Tee[[2]] wird ganz kalt. Wollen wir uns nicht setzen?« Und man setzte sich um den Tisch und plauderte. Und Jettchen wollte guter Dinge sein, und Jason Gebert wollte guter Dinge sein, aber es war kalt im Zimmer. Nicht etwa, daß man schlecht geheizt hätte – der Raum war nur seltsam frostig, und doppelt war das bemerkbar, weil eben jeder versuchte, es zu vergessen. Jettchen hatte sich so sehr auf den Nachmittag gefreut, und wenn sie auch über die Worte und Erzählungen Jasons lachte, laut lachte – sie konnte die Schatten sich nicht fortlachen. Kößling aber schalt sich insgeheim einen[[Anzahl]] Narren und Esel und ergriff jede Gelegenheit, um Jason zuzutrinken und Jettchen zuzuwinken. Aber er bekam die Falten nicht von der Stirn fort. Jason erzählte von Turnvater Jahn. Er hätte ihn von Ansehen gut gekannt. Die Friseure hätten seinetwegen verhungern können. Der lange Doktor Wiebe hätte ihn jetzt in Halle besucht, aus alter Anhänglichkeit, denn er hätte einst unter Jahn in der Hasenheide kühn und stark den teutschen Ger geschwungen und alles Welschtum schmählich verachtet. Aber der Doktor Wiebe hätte eine kleine Enttäuschung erlebt, denn der alte Jahn wäre ihm entgegengekommen mit einer Nase, rot wie eine Feuerbohne. »O Jüngling«, hätte er gerufen und ihm die Hand gedrückt, daß jener meinte, er würde sie nie wieder zu irgendeiner menschlichen Verrichtung benutzen können, »o Jüngling, stoße dich nicht an meiner verfluchten Nase. Sie[[1]] ist das einzige Glied meines Körpers, das ich dem Dienste meines Vaterlandes entzogen habe. Diese Nase ist für die teutsche Freiheit verloren. Denn höre, du Wackrer – ich schnupfe. Sonst aber bin ich immer noch der alte.« Jettchen lächelte und winkte Jason ganz heimlich. »Wenn es dir nur nicht wie Vater Jahn geht«, sagte sie lächelnd. Und Jason verstand. Kößling sprach von Hoffmann, der ja doch gegen Jahn als Kammergerichtsrat zu verhandeln gehabt hätte. »Das ist nicht so klar«, sagte Jason. »Soweit ich es weiß, soll er es abgelehnt haben.« Und damit kam das Gespräch auf die Politik und auf das Königshaus. Jason hatte den Kronprinzen im Theater gesehen. Er war bleich, grau und gedunsen gewesen und sehr unruhig. Mitten im Spiel wäre er aufgesprungen, hätte sich wieder gesetzt, wäre wieder aufgesprungen, und in den Pausen hätte er überlaut gelacht und überlaut gesprochen. Er wundere sich nur, daß man jetzt die »Schwärmerei aus Mode« von Blum hier aufführen dürfe, denn das müßte dem Kronprinzen mit seinen pietistischen Neigungen doch gegen den Strich gehen, da es eine Verspottung des Muckertums wäre. Ob Kößling schon davon gehört hätte. Die Hauptperson hieße Herr von Reckum. Das sollte er nur umkehren, dann wisse er genug. In ganz Berlin spreche und lache man schon darüber. Aber trotz aller Mühe, die sich Jason Gebert gab, kam kein rechtes Gespräch zustande. Und plötzlich – die Kerzen von der Pyramide waren noch nicht alle heruntergebrannt, und ein paar besonders ausdauernde an der Spitze zuckten und knisterten noch – erhob sich Kößling, um zu gehen. Jettchen bat ihn, er möchte doch zum Abendessen hier bei ihnen bleiben. Aber Kößling wollte die Aufforderung aus falscher und schlecht angebrachter Bescheidenheit nicht annehmen, trotzdem er ihr eigentlich gar zu gern gefolgt wäre. Warum in aller Welt er denn jetzt gerade gehen wollte, fragte Jason Gebert erstaunt. Man hätte ihn gebeten, sagte Kößling, heute einmal in den »Tunnel an der Spree« zu kommen. Es war das eine Ausrede. Sie[[1]] fiel ihm gerade so ein. Aber es war unklug, es zu sagen. »Ach ja«, meinte Jason in einem leichten Ton von Ironie, »richtig, ich weiß. Da feiern sie heute Louis Schneider. Ich glaube, es ist das Fest der hundertsten {{Ta¬ba¬tiere}}, die er vom Kaiser Nikolaus geschenkt bekommen hat. Da würde ich an Ihrer Stelle, lieber Herr Doktor, auch nicht fehlen.« Nun war es Kößling ganz und gar unmöglich geworden zu bleiben, wenn er sich nicht bloßstellen wollte. Er schämte sich innerlich seiner Ungeschicklichkeit. Zugleich kam aber auch sein alter, mürrischer Trotz durch; und obgleich ihn Jettchen noch einmal bat – Kößling gab nicht nach und ging. Der Abschied in der Tür fiel kürzer und spärlicher aus als sonst, so daß Jettchen sich ganz traurig zurückschlich zu Onkel Jason. &&x Aber seltsam, als Jettchen wieder in das Zimmer trat, in den warmen Lichtkreis mit dem letzten Flackern der Wachskerzen, mit seinem Duft von Tee[[2]], Pfefferkuchen und Behaglichkeit, mit seinem grünen Seidenglanz ringsum und seiner blitzblanken Sauberkeit auf den Servanten, Schränken, Porzellanen und Bronzebeschlägen, mit der blauen Schneenacht vor den hohen Fenstern, die das Zimmer gleichsam doppelt heimisch machte – da fühlte sie sich auch schon wieder von ihrer ganzen Atmosphäre von Traulichkeit, von plaudernder Behaglichkeit umfangen. Und kaum daß sie Platz genommen, fiel alles Trübe von ihr ab, und sie war wieder sie selbst. Onkel Jason hatte aber auch seinen guten Tag heute. Er plauderte von tausend Dingen. Von Onkel Eli und alten Verwandten, die Jettchen gar nicht mehr gekannt hatte, besonders von Vetter Nestor sprach er, der ein sehr barocker und skurriler Herr gewesen sei und die lustige Eigenheit besessen habe, im Schlafe zu pfeifen. Er, Jason, habe mal als junger Mensch mit ihm zusammen eine Reise gemacht, und wie sie da in Prenzlau im »Bären« übernachtet hätten, da habe der Vetter Nestor die ganze liebe lange Nacht aus dem Schlaf gepfiffen. Alle Opern der Reihe nach, von »{{Jessonda}}« und »{{Tancred}}« bis zur »Weißen Dame«. Kaum daß eine Arie fertig war, kam die andere. Gerade wie bei der Spieluhr, so daß er, Jason Gebert, sich beim Schein des Öllämpchens im Bett, das ihm ohnedies viel zu kurz war, hin und her gewälzt habe und kein Auge habe schließen können. Plötzlich aber sei ihm ein befreiender Gedanke gekommen. »St! Vetter Nestor!« habe er gerufen, so laut als er konnte – und der sei ganz entsetzt hochgefahren, denn er habe geglaubt, es seien Räuber und Mörder im Zimmer. »Was ist denn? Was gibt's denn?« habe er geschrien und sich die Nachtmütze beinahe vom Kopf gerissen. »Ach, Vetter Nestor«, habe er, Jason Gebert, ganz ruhig gesagt, »ich wollte Sie[[1]] nur bitten, Sie[[1]] sollen auch mal etwas aus ›Norma‹ pfeifen.« Aber ehe der Vetter Nestor noch seine Bitte richtig verstand und ehe er noch die rechte Melodie gefunden, da habe er, Jason Gebert, auch schon auf der anderen Seite gelegen und geschnarcht, daß die Dachsparren sich bogen. Am andern Morgen aber habe der Vetter Nestor ihm in der Gaststube gesagt, mit ihm reise er niemals in seinem Leben mehr zusammen. Er hätte ja die ganze Nacht kein Auge zutun können. Man aß zu Abend, und dann schloß Jason Gebert mit feierlichen Gesten und langsamer Würde[[würdig]] seine Servanten auf, nahm Porzellane heraus, stellte Puppen, Gruppen, Geschirre hinaus in das goldene Licht, auf die spiegelblanke braune Mahagoniplatte des Tisches, die das Weiß und die Buntheit in Strahlen zurückwarf. Er ließ die Figuren bewundern, erklärte Jettchen die Art der Bemalung und die Schärfe des Brandes, die Güte und Schönheit der Masse, und er kehrte die einzelnen Stücke fürsichtig um und wies Jettchen die Porzellanmarke und ihre Bedeutung. Hier die Krone und da das Zepter. Hier die Schwerter und das R, das N und das F und die frühen und späten Meißner Signaturen. Vor kurzem hatte Jason bei einem Trödler ein paar bayrische Jagdgruppen gekauft. Ein Eber und ein Hirsch waren es, von Hunden umstellt, kämpfend und schon halb gedeckt, verbellt und schon halb niedergerissen. Und dann, fast als Zugabe, hatte er noch einen[[Anzahl]] Windhund bekommen mit Beinen so dünn und zierlich, daß das Licht durchschimmerte. In diese drei Porzellane war Jason Gebert nun ganz verliebt, und er stellte sie mit fast zärtlicher Besorgnis auf die glänzende braune Tischplatte und lobte und pries Jettchen die Schönheiten. Kiß könnte so etwas sicher nicht. So voll Leben und Bewegung wäre das. Und eigentlich wäre es doch nur ein schlichtes Porzellan, ein anspruchsloses, kleines Kunstwerk, das sich einmal vor sechzig oder siebzig Jahren fürnehme Herren auf die Tafel gestellt hätten. Eins nach dem andern baute Jason Gebert unter der Pyramide auf. Wohl länger als eine Stunde nahm er das fort und stellte jenes hinaus – denn sein Reichtum an Porzellanen war groß. Da kamen Reifrockdamen und glotzäugige Möpse; langschnäblige Phantasievögel und flüchtende Nymphen; Amoretten mit Vogelbauern und Savoyardenknaben mit Murmeltieren und Querflöten; Büsten als Petschafte und Tischglocken kamen und kunstvolle Schachfiguren. Und dann Frauen in ländlicher Tracht, das Kind an der Brust, auf dem Rücken von großen, langhaarigen Ziegenböcken. Ein ganzer Karneval von Miniaturwesen drang hinter den blanken Glasscheiben hervor, wanderte über den braunen Tisch und nahm wieder hinter den blanken Glasscheiben Aufstellung. Und Jettchen schaute, die bloßen Arme aufgestützt, von drüben anteilvoll und erfreut zu. Denn das sah sie jetzt: Wenn man eben solch Stück in der Hand halten und es hin und her drehen konnte, daß die Lichter und Falten blitzten, wenn man es von vorn und von rechts, von links und von der Seite betrachten konnte, wenn man ihm ganz nahe war und die Bewegung der Formen und die kühle, edle Masse gleichsam in den Fingern spürte – dann, erst dann gab es eben alle seine geheimen Schönheiten her, die es sonst fast sorglich und ängstlich in sich selbst verschlossen hielt, solange es noch neben und zwischen den andern im Glasschrank stand. »Sieht sich Doktor Kößling manchmal die Porzellane an?« fragte Jason endlich, ganz wie zufällig. Jettchen sagte, daß es vielleicht möglich sei, daß sie es aber noch nicht bemerkt habe. »So, ich meinte, er interessierte sich hier einmal für ein Figürchen von Kändler.« Und damit stellte Jason Gebert mit spitzen Fingern die letzten Stücke in den Schrank zurück und schloß bedächtig wieder ab. »Gute Nacht, Jettchen«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Bleibst du nicht noch, Onkel?« fragte Jettchen, denn sie fühlte, daß ihre Gedanken an den zerrissenen Abend wieder über sie Macht gewinnen würden, sobald sie allein, sich selbst überlassen blieb – und das wollte sie hinausschieben. »Ach nein«, sagte Jason, »es ist spät, und ich möchte noch etwas lesen.« »Es ist doch erst halb zehn«, meinte Jettchen und blickte nach der Uhr, die zwischen den weißen Alabastersäulen geschäftig tickerte. »Nein, es ist später. Deine Uhr hier geht nach. Aber das schadet nichts; eine Uhr, die nachgeht, macht immer einen[[Anzahl]] soliden gutbürgerlichen Eindruck.« Damit aber schritt Jason Gebert grüßend aus dem Zimmer. Er wußte schon, weshalb er ging. Er wäre vielleicht ganz gern noch ein wenig geblieben, aber er fürchtete, seinen plötzlichen Unmut zu zeigen; denn die Gedanken, die in ihm aufgeschossen waren, hatten ihm mit einem Schlage die Ruhe und die Freudigkeit genommen. Wenn er sich auch hundertmal gesagt hatte, daß es eben nur vorübergehende Trübungen zwischen Jettchen und Kößling seien – endlich kam er doch nicht darüber hinfort, ob nicht etwa zwischen ihnen unüberbrückbare Verschiedenheiten beständen. Und so ging er, nachdem er die Lampe entzündet hatte, eine ganze lange Weile noch hinten in seiner Bibliothek vor den braunen Bücherreihen auf und ab. So lange ging er auf und ab, bis es an der Tür klopfte und er stehenblieb. Ach, das war gewiß Fräulein Hörtel, die kam, mit ihm abzurechnen oder sich für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken. Aber da öffnete sich ganz langsam, geisterhaft langsam, der Türflügel, und im Rahmen der Tür erschien Jettchen. Groß und aufrecht, den Kopf im Nacken, in lächelnder Feierlichkeit. Sie[[1]] hatte das schwere Haar anders frisiert denn vordem, glatt in der Mitte gescheitelt und die Zöpfe rechts und links zu großen Rosetten zusammengelegt. An dem schwarzen Samtband, mitten auf der Stirn, lag ihr wie eine silberne Träne die Perle; und zu dieser Perle hatte Jettchen das weiße Seidenkleid angelegt, dessen Taille kreuz und quer mit Silberbändern gebunden war und um dessen weiten Glockenrock sich ein handbreiter silberner Mäander zog. Um die Handgelenke trug sie silberne Armspangen. So stand Jettchen eine ganze Weile, regungslos, lächelnd und erfreut. Und Jason neigte sich vor ihr, huldigend und förmlich. »Ich komme nur noch einmal, um mich bei dir zu bedanken, Onkel Jason«, sagte sie endlich. »Und damit du auch deiner Glocke Klang hörst, habe ich dazu nach deinen Angaben die Toilette gewählt.« Jason schritt auf Jettchen zu, um ihr devot die Hand zu küssen. Aber sie beugte – immer noch lächelnd und immer noch ganz in dem hoheitsvollen Stil ihrer Maskerade – den Kopf vor und reichte ihm die Lippen, die Jason zaghaft berührte. Dann aber wandte sich Jettchen so stolz und so unnahbar, wie sie gekommen, und schritt auf ihren kleinen, hohen Stiefeletten ebenso steif und ehrfurchtgebietend, wie sie gekommen, wieder den Flur hinab, den Kopf hoch und die schwarzen Rosetten der Flechten tief im Genick. Und die Zeiger rückten weiter. &&x Am nächsten Tag klangen die weißen Straßen wider vom Lärm der Kindertrompeten, und kleine Mädchen in neuen braunen Wintermänteln und blauen Käppchen trippelten stolz durch den Schnee, ohne sich nach irgend jemand umzusehen, ganz verliebt in ihre Puppen, die sie vorsichtig auf dem Arm hielten und zärtlicher anblickten, als eine Mutter auf ihr Kind schaut. Und in der Mitte auf dem Damm katzbalgten sich die Jungen um die Schlitten; und der Sohn vom Holzhacker, dem der Vater seinen Gleitschlitten zusammengeschlagen hatte aus den verschiedenartigsten Brettern, die er bei seiner letzten Tätigkeit fürsorglich hatte mitgehen heißen, hielt sein Vehikel, das er am groben Strick nachschleifen ließ, für ebensoschön wie den Stuhlschlitten von Söhlke, der fünf Taler gekostet hatte und den die Kinder vom Hofrat langsam vor sich hinschoben, eingepackt und eingehüllt wie die Waschbären. Und etwelche Herren sah man sogar die Königstraße hinabeilen, die breiten Holländer Schlittschuhe am Riemen schlenkernd, die flatternden Spenzer offen, als ob sie der Winterkälte ihre Verachtung damit kundtun wollten. Man sah sie den Zelten zueilen, allwo sie beabsichtigten, auf dem Eis der Spree ihre Künste spielen zu lassen vor den bewundernden Blicken der Damen, die oben auf der Veranda stehen und sich an dem Anblick erlaben durften. Und auf die frischen und lärmvollen Weihnachtstage folgten, immer noch im Frost, so ein paar unbestimmte und seltsame Tage, die nicht Fisch und nicht Fleisch waren, nicht Wochentag, nicht Sonntag, nicht Arbeitstag, nicht Feiertag – die paar Tage, die da so eingeklemmt liegen zwischen Weihnachten und Neujahr und von denen keiner recht weiß, was er anfangen soll. Die Budenreihen am Schloßplatz sanken zusammen, und die Händler, die von außerhalb gekommen waren, zogen mit müden Gäulen fort in ihren Planwagen, aus denen die langen Stangen hervorsahen, hin auf andere Märkte; und es ging ihnen eben wie allem Schönen, das dahinschwindet, im Augenblick waren sie schon vergessen; und der Platz lag wieder ganz weit und leer, behütet von dem schwarzen, bebänderten und verschneiten Schloßbau. Die paar Buden mit Neujahrswünschen in der Breiten Straße – das waren nur so letzte Trabanten. Die zählten ja kaum. In diesen Tagen kam in den Nachmittagsstunden Doktor Kößling und brachte Jettchen ein Taschenbüchlein, einen[[Anzahl]] Zyanenalmanach auf das Jahr 1840, der Liebe und Freundschaft gewidmet von Samuel Schlesinger. Ein sehr zierliches Bändchen war es, mit gepreßtem Deckel, in rosa zartem Glanzpapier. Und innen war es mit gar sauberen Stahlstichen geschmückt und verschönt. Dort weinte die trostlose Kennedy, während Maria Stuart, stolz wie eine Königin – und das war ja auch ihr ureigentliches Metier –, zum Block ging und an anderer Stelle Kosinsky sagte, »wie sein Name ist«. Likate aber, die anmutige Herrscherin der Madagassen, bekrönte ihre schwarze Nacktheit mit einem Federbusch. Jettchen freute sich sehr. Aber diese Freude verwischte nicht ganz ihre Verstimmung vom Weihnachtsabend. Auch Jason, der hinzukam – denn es war seine Dämmerstunde –, fand das Büchlein hübsch und blätterte gar lange darin. »Ja«, sagte er, »ich nenne so etwas wirklich anmutig und liebenswürdig. Dem Vetter Julius, liebes Jettchen, sollen, wie mir Ferdinand erzählte, ja auch die Vergißmeinnicht-Almanache so gut gefallen haben, daß er sich jetzt noch die ›Kartoffeln in der Schale‹ gekauft hat.« »Wann hast du denn Onkel Ferdinand gesprochen?« fragte Jettchen erstaunt. »Heute vormittag, bei Salomon im Kontor«, sagte Jason zögernd. »Es war nicht gerade erfreulich, unser Gespräch.« Jettchen erschrak. Was es denn um Himmels willen schon wieder gäbe! »Ach Gott, Wolfgang ist doch so leidend. Salomon hat gestern mit Stosch darüber gesprochen.« »Der arme Junge!« rief Jettchen und hatte die Tränen in den Augen. »Ist es denn ernst mit ihm?« »Wie man es nehmen will«, versetzte Jason. Und auch bei diesen Worten verließ ihn sein Lächeln nicht, das immer etwas Durchgeistigtes, aber auch immer etwas Müdes und Schmerzvolles hatte. »Stosch hält es sogar für ganz aussichtslos. Er gibt ja dem kleinen Kerl leider überhaupt nur noch Tage und Wochen. Nach seiner Meinung ist es die Auszehrung. Ferdinand – er hat es ihm ja nicht so offen wie Salomon gesagt – doktert jetzt auf eigene Faust an dem Jungen herum. Er hat ihm einen[[Anzahl]] Liebertschen Tee[[1]] gegeben, er verspricht sich etwas davon; aber ich fürchte, der wird ihm auch nichts mehr nützen.« Jettchen hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte still in sich hinein. Sie[[1]] hatte den kleinen Wolfgang, den scheuen und verprügelten Jungen, der vor andern so gar nicht aus sich herausging, draußen in Charlottenburg im letzten Sommer liebgewonnen und hatte gesehen, welch eine feine und verträumte Innigkeit in ihm ruhte, eine Klugheit, die nicht auf Bücher gerichtet war, und eine Reife, die sich nicht in Wissen, sondern im Verstehen kundgab. An diese kleine, arme und verflogene Seele würde nun der Tod seine Hand legen; und ob sie die Hände ringe und jammere – das Leben würde alsbald ohne den kleinen Wolfgang Gebert weiterziehen, als ob seine schmalen Kinderfüße nie auf seinen Wegen ihre Spuren eingedrückt hätten. Jason schien Jettchens Tränen zu verstehen. »Ach Gott, der kleine Kerl, wer weiß, was in ihm war! Die Schule ist ja gar kein Maßstab. Max war immer Erster, und ich glaube, Wolfgang, der stets auf den letzten Plätzen sich herumdrückt, ist der Begabtere von beiden. Schade – er kann eben nicht mehr die Probe aufs Exempel machen.« Kößling war an das Fenster getreten und blickte stumm über die beschneiten Dächer in die graublaue Abendluft. Gewiß tat ihm der kleine Junge leid, eben wie uns jedes junge Leben, das zerbrochen wird, weh tut; aber endlich er hatte den Jungen einmal gesehen in seinem Leben und kaum auf ihn geachtet. Und seine Fremdheit zu diesen beiden hier trat ihm wieder doppelt schwer vor die Augen. »Glaubst du, daß ich einmal zu ihm kann, Onkel?« meinte Jettchen. »O gewiß, ich habe Ferdinand schon gesagt, daß du nach dem Jungen sehen wirst. Aber weißt du, ich denke, Wolfgang hat doch bald mal seinen Geburtstag; geh dann hin, denn Hannchen hat natürlich keine Ahnung, wie es mit ihrem Sohn steht. Und selbst wenn sie es weiß, sie macht sich eben nichts wissen. Sie[[1]] treibt es wie der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt und meint, nun wird's so vorübergehen. Aber der da oben versteht nun einmal keinen Spaß.« Kößling kam wieder vom hellen Fenster in das Halbdunkel der Stube hinein und nahm zögernd auf einem Stuhl Platz. Er hatte Sehnsucht nach Musik und wagte doch nicht, sich an das Instrument zu setzen. »Ja, auch in anderer Beziehung«, fuhr Jason fort, »war unser Zusammensein heute nicht gerade erfreulich. Salomon war gar nicht er selbst mehr, so hat er sich in diesen Tagen aufgeregt. Es ist ja auch keine Kleinigkeit für ihn. Du weißt ja selbst, wie er ist, Jettchen, und wie er auf sich hält in geschäftlichen Dingen. Und da muß ihm so etwas passieren! Ich bin eigentlich der einzige, der die Sache nicht so schlimm ansieht. Dieser Posener Fuchs, sage ich mir, wird schon wieder den Kopf aus der Schlinge bekommen.« Jettchen war noch ganz mit dem traurigen Schicksal des kleinen Wolfgang beschäftigt, und erst bei den letzten Worten horchte sie erschrocken auf. »Weißt du«, sagte Jason auf Jettchens stumme Frage, »unser braver und verehrter Vetter Julius Jacoby hat sich da nämlich durch die Benjamins hier, verstehst du, durch die – Jason machte die Bewegung des Erdrosselns –, »also durch die Benjamins hat er sich in ganz umfängliche Börsengeschäfte hineinhetzen lassen, zu denen man doch mehr Kapital braucht, als ihm zur Verfügung steht, und wohl die Dinge auch etwas besser kennen muß, als er sie kennt. Und nun ist mit einemmal Polen offen. Mit seinem Leder bleibt er diese Saison auch halb und halb sitzen, also: Wenn man ihm nicht zu Hilfe kommt, so ist im Handumdrehen dein ganzes schönes Geld zum Teufel. Und das darf eben Salomon nicht zulassen; denn auf wen fällt es zurück? Nicht wahr – auf ihn! Er hat Julius Jacoby das Geschäft hier eingerichtet; und er ist doch sogar in seinem Vertrauen so weit gegangen, ihm seine Nichte zur Frau zu geben, und deshalb wird auch nicht ein gewisser Herr Julius Jacoby aus Bentschen in Berlin Bankrott machen, sondern nur der Neffe von dem reichen Salomon Gebert. Das weiß Salomon ganz genau, und aus diesem Grunde muß eben Salomon dran glauben, ob er will oder nicht. – Weißt du, Mitleid braucht man deswegen immer noch nicht mit ihm und Rikchen zu haben. Das schlimmste kann sein, daß Salomon bei Mendelssohn fünfzigtausend Taler weniger liegen hat, und deswegen wird Rikchen auch noch nicht eine einzige Apfeltorte weniger backen. Salomon ist natürlich furchtbar aufgebracht und schreit Rikchen schon an, wenn sie nur den Namen Julius ausspricht. Ich habe ja deine liebe Tante heute auch im Kontor gesprochen, sie war ganz klein und wie um den Finger zu wickeln, so weich. Aber endlich, was wird all das Salomon nützen? Er muß in den sauren Apfel beißen. Jetzt hat er natürlich ganz den Kopf verloren und meint, daß alles zum Teufel wäre. Aber ich bin der festen Überzeugung, sie kommen zum Schluß doch mit heiler Haut aus der Sache wieder heraus; und wie ich Salomon kenne, findet er auch schon morgen seinen Kopf wieder.« &&x So sprach Jason Gebert, trotzdem Jettchen, immer noch im Innersten erregt durch die Krankheit des kleinen Wolfgang, kaum auf seine Worte zu achten vermochte. Jason fühlte das. »Du scheinst die Sache nicht zu begreifen, liebes Jettchen«, fuhr er schärfer fort. »Es ist nämlich dein Vermögen, das da auf dem Spiel steht. Wovon willst du denn später leben, wenn das Geld nicht gerettet wird? Oder wenigstens so lange leben, bis dein Onkel Salomon und deine Tante Rikchen die Augen geschlossen haben. Hast[[Besitz]] du dich das mal gefragt?« Jettchen schüttelte nur. Sie[[1]] hatte ja bisher nie Vermögen besessen und nie darüber nachgedacht, woher es kam. »Jedes Böse aber hat auch sein Gutes«, begann Jason wieder nach einer nachdenklichen Pause. »Salomon sieht doch jetzt ein, was er getan hat. Er verhandelt überhaupt nicht mehr mit Julius Jacoby, das tut Ferdinand für ihn. Und er ist der Rechte, weißt du, der sich ein X[[Steno]] für ein U machen läßt. Aber das muß sich Salomon doch jetzt sagen: Was Sie[[1]] auch sonst für Fehler haben mögen, lieber Doktor Kößling – an die Börse wären Sie[[1]] nicht gegangen, und mit gepaschtem Leder wären Sie[[1]] auch nicht sitzengeblieben. Und endlich bin ich sicher, daß Ihnen Jettchen nicht schon gleich am Hochzeitstag auf und davon gegangen wäre. Sie[[1]] können das gar nicht so begreifen. Aber, Kößling, je tiefer die Köln-Aachener fallen, desto höher steigen Ihre Aktien.« Kößling, der so fremd dabeigesessen hatte, war es gar nicht lieb, daß er plötzlich in die Debatte gezogen wurde. Aber was blieb ihm übrig, als zu lachen und zu versichern, daß er nicht einmal gepaschtes russisches Rindleder von ehrlich gekauftem deutschem Schafleder unterscheiden könnte und daß er nicht einmal wisse, wo die Börse sich befinde – also hierin ganz und gar rein und kinderunschuldig sei. Als er so sprach, leuchteten ihm durch das Halbdunkel des Zimmers Jettchens Augen zu. Aber da erhob sich Jason. Ob Doktor Kößling jetzt mit ihm käme? Er werde noch einmal in der gleichen Angelegenheit zu seinem Bruder ins Geschäft gehen, und es würde ihn freuen, wenn Kößling ihn ein Stück begleiten wollte. Kößling verstand die Mahnung und sagte, daß er es gern täte, trotzdem es ihn mit allen Nerven und Sinnen zu Jettchen zog und trotzdem er fühlte, wie ungern ihn Jettchen fortließ. Jettchen wagte ebenfalls nicht dagegenzusprechen. Jason empfand wohl, daß es hart von ihm war, aber er fürchtete, es anders nicht verantworten zu können. Und damit die Wunde weniger schmerze, sagte er zu Kößling im Hinausgehen, daß er ihnen übermorgen zu Silvester nicht wieder so entwischen dürfe wie am Weihnachtsabend.. Er solle ja nicht verabsäumen, sich auf ein Glas Punsch einzufinden, das sie alle zusammen auf eine bessere Zukunft dem neuen Jahre, dem Jahre des Heils 1840, entgegentrinken wollten. Den ganzen Weihnachtsabend hätten sie beide hier allein verplaudern müssen, und das wäre nur seine Schuld gewesen. Sonst war es Überlieferung gewesen, daß an jedem Silvester alle Geberts sich bei Salomon und Rikchen trafen und damit ihre innere Zusammengehörigkeit für ein Jahr gleichsam von neuem beschworen, verbrieften und versiegelten. Jason pflegte sogar stets zu diesem freudigen Anlaß alle Geberts in einem gereimten Loblied zu besingen, und man hatte immer füreinander Neckereien und Überraschungen im Hinterhalt. Aber zu diesem Jahresschluß 1839 ging auch alles verquer. Salomon und Rikchen mochten nach der Aufregung der letzten Wochen keine Gäste mehr bei sich sehen. Ferdinand und Hannchen wollten nicht von Wolfgang fortgehen, der seit sechs Tagen fest lag; und der alte Eli konnte nicht mehr recht mit seinen Füßen weiter. Er humpelte im Zimmer herum, nörgelte, schnauzte Minchen an und sagte, er hätte das Reißen. Jettchen wäre auch ferngeblieben – und so war dieses Jahr schon erst gar nicht von Silvester die Rede gewesen. Denn um ein Stück zu geben, brauchte man doch zuallererst Schauspieler. Nur Pinchen und Rosalie, die immer noch bei Ferdinand und Hannchen die Stühle warmhielten, waren mit dem Gang der Dinge wenig zufrieden und schwer beleidigt und gekränkt. Sie[[1]] hatten sich so sehr auf den Abend gefreut, und sie wünschten doch wenigstens etwas von dem Silvestertrubel auf der Friedrichstraße zu sehen. Wenn Ferdinand es nicht wollte, konnte doch Joel es ihnen zeigen; denn bei ihnen zu Hause gäbe es so etwas nicht. Ferdinand aber stieg die Galle hoch, und er meinte, daß wohl ihr »Herr Bruder« nach dem Gespräch, das er heute mit ihm geführt hätte, keinen Grund habe, Silvester in besonders fröhlicher Stimmung zu begehen und ihn inmitten des Trubels der Friedrichstraße zu verbringen. Für ihn aber verbiete sich das von selbst, da sie um Wolfgang doch leider in Angst und Sorgen seien. Und als nun das schöne Jahr 1839 sich zum Abschied rüstete, um seinen blütenzarten Frühling, seinen reichen Sommer, seinen braunen Herbst und seinen weißen Winter der Vergessenheit zu überliefern, und schon in der Tür stand und sich nur noch einmal umwandte, als müsse es sich auf irgend etwas besinnen, was es vergessen hätte, da war es ganz erstaunt, daß es nicht – wie so viele seiner Vorgänger – alle Geberts zusammen sah und daß der eine hier und der andere dort war. Salomon und Rikchen trieben Ausstandspolitik und hatten sich früher als sonst zur Ruhe begeben, um auf getrennter Lagerstatt im friedsamen Schlummer in das neue Jahr hinüberzusäuseln. Eli und Minchen hatten so viele Jahre gemeinsam kommen und gehen sehen, daß es ihnen auf eines mehr oder weniger nicht recht ankam – und während Minchen sich nach dem Tee[[2]] in ihre Kemenate zurückgezogen hatte, saß Eli nun in seinem dämmrigen Zimmer mit den goldenen Stühlen stocksteif in seinem Sessel, mitten am Tisch, ein Licht rechts vom Buch, ein Licht links vom Buch, und las einen[[Anzahl]] Räuberroman von Leibrock, in dem es grausig und schaurig zuging. Da lag in finsterer Mitternacht an der Kirchhofsmauer Rinaldo im Hinterhalt und ruhte – vielseitig, wie er nun einmal war –, zugleich umgeben von Häschern, beim fahlen Schein der Blitze in den liebesseligen Armen der wunderschönen Gräfin Aurora Dulcinides {{Dul¬ci¬ni¬des}} ... ruhte aus von den Strapazen des letzten Doppelraubmordes – verbunden mit Hostiendiebstahl und Nonnenschändung –, dem immerhin edle Motive nicht abzustreiten waren. Daß der alte Onkel Eli so stocksteif saß, war nun nicht etwa eitel Stolz von ihm, sondern die Weitsichtigkeit des Alters; und daß er von allem Lesestoff dieser Welt sich gerade an den Abenteuern Rinaldos erletzte, lag daran, daß ihm die Schäferspiele seiner Jugend geschmacklos geworden waren und daß sein Gaumen nach scharfer Kost verlangte, so wie ja Friedrich der Große in seinem Alter die Suppen nur dann genießen konnte, wenn er sie mit Spaniol gewürzt hatte. Hannchen aber saß, ein Kissen unter den Füßen und eins im Rücken, in dem tiefen Lehnstuhl vor dem birkenen Bett Wolfgangs, der heiß, unruhig und schwer schlief. Denn weil die Lungen mit ihrem Lebenswerk nicht recht mehr weiter konnten, so flog und zitterte nun das kleine Herz, dem allzu schwere Arbeit zugemutet war, und schuf dem armen Kind eine innere Unruhe, daß es immer wieder auffuhr und eine neue Lage suchte, kaum daß es seine Lider geschlossen und seinen Kopf auf die Seite gesenkt hatte. In Tante Hannchens kleinem Hirn wollte in den langen Nachtstunden, die sie nun hier saß, manchmal der Gedanke aufdämmern, daß es mit Wolfgangs Krankheit doch vielleicht etwas mehr zu bedeuten hatte als das bißchen Bräune und Röteln, das sie an ihren Kindern und mit ihren Kindern schon durchgemacht hatte. Die Vorstellung aber war ihr unlieb und flößte ihr Grauen ein, und Tante Hannchen gab sich alle Mühe, sie zurückzudämmen und sie nicht klar und greifbar werden zu lassen. Jedoch ebensowenig wie man dem Wetterleuchten befehlen kann aufzuhören, das in der Sommernacht Stunden und Stunden am Himmelsrand bleibt und immerfort seine Blitzesscheine über das stille Land schickt – das Land, das doch scheinbar ganz friedlich unter der Sternendecke schlummert –, sowenig wie man dem Wetterleuchten befehlen kann, nicht zu murren, zu zucken und zu blitzen – so wenig können wir im Lande unserer Gedanken befehlen, daß die fernen Gewitter nicht ihre huschenden Lichter herüberwerfen und uns immer wieder erschrecken und zusammenschaudern lassen. Und so perlten, ohne daß sie es wollte, der braven Tante Hannchen dicke Tränen über das Gesicht, kamen aus den kleinen, zwinkernden Jacobyschen Jettaugen und zogen lange Spuren über die breiten, feisten Backen. Hannchen fürchtete sich, mit dem kranken Jungen allein zu bleiben; wenn – Gott behüte – was passieren könnte! Aber Ferdinand Gebert kam nicht. Der saß nun schon Stunden und Stunden breit und wohlgefällig mit Max im Kontor und wälzte die Kladden und die Hauptbücher, zog die Restsummen, ordnete lange Zahlenreihen, schrieb sie hier- und dorthin, addierte und subtrahierte und brachte aus den verschwiegenen Blättern seines Geheimbuches auf das Debet von Spesen und Geschäftsunkosten manchen Friedrichsdor hinüber, von dessen Verwendung zugunsten seines Unternehmens niemand bisher etwas hatte ahnen können. &&x So wäre also in diesem Jahre des Heils 1839 nirgends bei Gebert etwas von Silvester zu spüren gewesen, und die kalte, neblige Schneenacht wäre ebenso hingegangen wie ihre letzten Vorgängerinnen, wenn nicht oben in der Klosterstraße bei Jason Gebert der bittersüße Pomeranzenduft des Kardinals, den Jason mit vieler Feierlichkeit zusammengebraut hatte, die Räume durchzogen hätte. In feinen grauen Wolken stieg er aus dem Rund einer alten Steingutterrine empor und zog um die blanken Mahagonisäulen der Porzellanschränke und strich den süßen Grisetten Gavarnis, die da in braunem Birkenrahmen von der Wand pendelten, um die Näschen, daß sie ganz heimlich und verstohlen danach schnupperten und mit lüsternen Blicken hinübersahen. Und man wußte wirklich nicht, galt das nur dem warmen Süßtrank oder etwa auch jenem Berg von braunen Handgranaten, die da im Lichtkreis der Lampe ihre Zuckerglasuren blitzen ließen und von denen jede eine angenehme Überraschung in sich trug, ob sie nun Himbeermus enthielte oder Apfelgelee, Pflaumen oder Hagebutten. Kößling war erst spät am Abend zu Jason Gebert und Jettchen gekommen; vielleicht vom Schanktisch hergekommen, mürrisch, so wie der Mensch, der mit sich selbst in Hader liegt, eben mürrisch ist. Dann aber hatte er sich, ohne daß man ihn aufforderte, an das Instrument gesetzt und hatte all seine inneren Unstimmigkeiten über dem Spiel vergessen. Es beruhigte seine Sinne und ließ seine Wünsche und Nöte mählich einschlummern, daß sie nur noch manchmal aufschluchzten, wie ein Kind, das sich in den Schlaf geweint hat, noch einmal im Traum aufschluchzt. Und Jettchen hatte sich herbeigelassen zu singen; das erstemal seit langer Zeit, einfache Liedchen von Weber, die halb gesprochen wurden und in denen der Gesang nur wie die Begleitung zu den Worten klang; Lieder, in denen die Kunst wenig bedeutete und die Schlichtheit der Empfindung alles war. Jason Gebert hatte ganz nahe und still dabeigesessen und Jettchen betrachtet, wie der wechselnde Widerschein dieser Lieder von Sehnen und Bangen, Harren und Entsagen über ihre Züge huschte und ihre Schönheit vergeistigte und verklärte. Er konnte sich nicht von diesem Anblick losreißen, sich nicht genugtun in diesen stummen Huldigungen, und er bat Jettchen immer wieder zu singen, nur um ihr Auge mit dem halbgesenkten Lid noch einmal betrachten zu dürfen, nur um das weiche Heben und Senken der weißen Hände über den schwirrenden Tasten zu sehen. – Aber Doktor Kößling, der in jedem Nerv Musik spürte und dessen Tonvorstellungen weit schärfer und klingender waren, als sie der einfache und schmucklose Vortrag Jettchens geben konnte, hörte nur wie aus Höflichkeit zu und vermochte nicht, Lob und Bitten so warm und aufrichtig zu stimmen, wieviel Mühe er sich auch gab, es zu tun. Für ihn gewann Jettchen nicht, wenn sie am Spinett sang; ihn beunruhigte jeder Ton, der nicht ausgehalten wurde, jeder Ton, der zittrig und unsicher einsetzte. Er empfand nicht, daß Jettchen es nur seinetwegen tat, um ihm nahezukommen; er hörte nur das zage Spiel, das keine Schwierigkeiten zu lösen wußte, und die Unbehilflichkeit der ungeschulten Stimme. Und das gleiche, was Kößling noch vor einem halben Jahr oben bei Onkel Salomon an Jettchen entzückt hatte und sie ihm nahegebracht hatte – das rückte sie ihm jetzt in die Ferne, machte sie ihm für Augenblicke fast fremd und gleichgültig. Jettchen fühlte das und hörte mit dem Singen auf. Und Kößling vermochte kein Wort zu sagen, er atmete fast auf, als sie es tat. Aber dann hatte Jason Gebert schnell die Gläser gefüllt. Denn, sagte er, man müsse früh anfangen, wenn man auch nur eine nennenswerte Verminderung des Inhaltes der alten Steingutterrine herbeiführen wollte. Und das starke, heiße Getränk hatte bald alle guter Dinge und redselig gemacht. Man hatte sich zugetrunken, und Jason hatte es sich nicht nehmen lassen, aufzustehen, mit beiden Händen sich auf die Mahagoniplatte zu stützen und nachdenkliche Worte zu sprechen für seine zwei seltsamen Gäste; Worte, denen Jettchen und Kößling dankbar und verwirrt lauschten, denn es war das erstemal, daß man ihre Namen gleichsam bei einer öffentlichen Gelegenheit miteinander verflocht und daß Jason Gebert etwas anerkannte, was er sonst nur schweigend zu übersehen schien. Jason Gebert erzählte, er habe heute auf der Königstraße zwei Damen gesehen und sei eine Weile hinter ihnen hergegangen. Sie[[1]] hätten schöne Pelzmäntel angehabt, und man hätte sie auf den ersten Blick für wohlhabende Bürgerfrauen halten können; vielleicht für eine Mutter mit ihrer jung verheirateten Tochter. Und alle sonst hätten sie wohl auch dafür genommen. Aber er hätte sie gleich erkannt. Es sei niemand sonst als das Jahr 1839 und das Jahr 1840 gewesen. Die Mutter habe nun der Tochter Vermahnungen gegeben und ihr gesagt, was sie zu tun hätte. Er habe jedes Wort genau gehört, aber es wäre indiskret, wenn er etwas verriete. Nur das eine wolle er sagen – und es ginge ja auch sie am meisten an –, die alte Dame habe der jungen ganz besonders eingeschärft, daß sie ja nicht vergesse, an Frau Henriette Jacoby und Doktor Friedrich Kößling das gutzumachen, was sie ihnen beiden Übles getan habe. Und die Junge sei ihr ins Wort gefallen: Das brauche sie ihr gar nicht zu sagen; es sei übrig, auch nur ein Wort darüber zu verlieren; sie habe schon ehedem sich über die Hartherzigkeit ihrer Mutter gar nicht genug wundern können – und, ehrlich gesagt, sie habe sie weder begreifen noch billigen können. Da aber sei die alte Dame ganz böse geworden und habe den Kopf unwillig geschüttelt, daß nur ihre Pudellocken so flogen. »Du junges Ding, du Grünschnabel, du Guckindiewelt«, habe sie gerufen, »werde erst einmal so alt, wie ich es bin, dann wirst du auch verstehen, warum ich so und nicht anders an den beiden gehandelt habe; nur um sie hart zu schmieden und abzuschleifen, um sie auszuproben und stark zu machen, um für sie durch die Kämpfe eines kurzen Jahres das Glück langer Jahrzehnte zu erringen, das sie, wenn es ihnen von selbst in den Schoß gefallen wäre, vielleicht bald mit eigenen Händen zerbrochen hätten.« Da habe die Junge wieder gerufen, daß sie ja das Gewesene nichts angehe, ihre Sache wäre die Zukunft, und die werde sie schon gut für ihre Schützlinge gestalten. Aber kaum hätte sie das ausgesprochen, da seien schon beide weg gewesen, fort, wie von der Erde verschlungen, als ob sie ins Pflaster gesunken wären. Und darauf – daß die junge Dame im Pelz, das neue Jahr 1840, ihr Versprechen halte –, darauf leere er jetzt sein Glas. Jettchen und Kößling waren ganz gerührt, und Jettchen sah Jason Gebert dankerfüllt und zärtlich in die Augen, als sie ihre Gläser erhoben. Kößling fühlte diesen Blick und neidete ihn Jason Gebert, denn er erkannte in ihm eine gewisse Wärme und Vertraulichkeit, die den verträumten Blicken, mit denen Jettchen ihn zu betrachten pflegte, eben fehlte. Nicht als ob in ihnen nie ein Wunsch oder ein Begehren gezuckt, nicht daß in ihnen nie eine weiche Hinneigung sich ausgegeben hätte, aber eben jene zärtliche Vertraulichkeit, jenes wortlose Bekenntnis der Zusammengehörigkeit – es fehlte. Und die lähmende Wirkung des starken, heißen Punsches war es, daß Doktor Kößling lange Zeit an diesem Gedanken haftenblieb und daß er ihm immer wieder zuflog, kaum daß er meinte, ihn weggejagt zu haben. Das umdüsterte seine Stirn und machte sein Wesen dumpf und linkisch, seine Worte zäh und langsam, seltsam nachdenklich. Denn auf dem Boden von allem, was Kößling sprach, flammte eben für ihn immer der eine Satz: Ich bedeute ihr nichts. Und die anderen wurden von der gleichen nachdenklichen Stimmung ergriffen. Und so saßen die drei die letzten beiden melancholischen Stunden des Jahres 1839 zusammen, hie und da, hüben und drüben um den runden, blanken braunen Mahagonitisch. Der Berg von Handgranaten da auf der weißen Schüssel wollte gar nicht niedriger werden, und das goldene, dampfende Gebräu füllte immer noch das Rund der Bowle fast bis oben hin. Und doch schien es jedem, als ob er schon unmäßig viel getrunken hätte, und jeder hörte das Blut in den Schläfen sausen und singen. Selbst als Jason mit einer großen Neuigkeit herausrückte, die er erst heute von seinem Bruder Ferdinand erfahren hatte, wurde doch keiner der Stimmung Herr, jenes Gefühles von halber Angst und halber Zwecklosigkeit, jener Nachdenklichkeit, als ob man jetzt und gerade jetzt den Sinn dieses unklaren und verwirrenden Lebens packen könnte. Ja, den Vetter Julius habe man nun ganz in die Enge getrieben, er habe nichts mehr verheimlichen können, das wäre ja noch weit schlechter gewesen, als zu erwarten; aber man habe ihm jetzt alles, auch alles aus den Händen genommen, und er habe schriftlich auf jede eigene Führung der Börsengeschäfte und jede weitere Vergrößerung seines Lagers verzichten müssen. Man habe heute vormittag in Salomons Kontor vier Stunden mit ihm unterhandelt, bis man ihn soweit gebracht hätte; und er habe sich von Ferdinand Reden einstecken müssen, die man sich sonst sicher nicht bieten lasse. Salomon hätte ihn aber im andern Fall auch ohne jede Gnade in Konkurs gehen lassen. Und daß ihm dann die Benjamins das letzte Hemd ausgezogen hätten, darauf könne man sich verlassen. Jettchen tat eigentlich im geheimen dieser Vetter Julius leid, dem sie ja doch nichts Böses wünschte, und sie sah auch nicht ein, warum diese Nachricht für sie gerade so besonders freudig sein sollte. Aber Jason erklärte ihr, warum es für sie gut sei, daß man jetzt den Vetter Julius wie einen[[Anzahl]] gefangenen Vogel in der Hand halte. Wie bald, und er müsse pfeifen, wie sie es wollten. &&x Kößling, der als echter Literat von allen geschäftlichen Dingen nur ganz vage und dämmrige Vorstellungen hatte, fühlte sich nur unangenehm berührt, daß er von Jason von neuem an das Vorhandensein dieses Vetters erinnert wurde, den er freudig und gern auf dieser Welt vermißt hätte. Und Jason Gebert empfand das und kam plötzlich darauf zu sprechen, daß er noch fort müsse, nach den Linden, zu Kranzler. Jettchen, die fürchtete, es könnte Onkel Jason in dem Trubel und der Ausgelassenheit der Neujahrsnacht etwas zustoßen, bat ihn, er möchte doch zu Hause bleiben; und im stillen hoffte sie auch, daß man dann länger zusammen sein könnte. Aber Jason sagte, daß er einfach gehen müsse. Weshalb, wisse er zwar eigentlich nicht recht, aber er tue es nun jedes liebe Jahr, und er fürchte, etwas zu versäumen, wenn er es dieses Mal nicht täte. Es wäre eben damit endlich auch nicht anders wie mit dem meisten hier im Leben, ob man es nun stolz Wissenschaft oder bescheidene Liebe nenne – man tue es nur deshalb, weil man fürchtete, etwas zu versäumen, wenn man es unterließe. Und als Jason noch so sprach, da hörte man draußen Glockenschläge und Kinderstimmen und Rufen von fern und nah, und Jettchen und Kößling liefen zu den dicht beschlagenen Fenstern, sie aufzureißen. Jason füllte sich sein Glas bis zum Rand und hinkte langsam hinüber, es vorsichtig in der Hand balancierend. Jettchen und Kößling hatten sich ganz wider ihre Art umfaßt und die Köpfe dicht aneinandergedrückt. Wortlos sahen sie zum Himmel, der schwarz und hoch war, sahen aus dem Halbdunkel Bäume und Häuser wie weiße Gespenster auftauchen, sahen die silberne Schneedecke über dem Boden und die harten Geleise unten auf den Wegen und Fahrstraßen, auf denen die scharfgeschnittenen Umrisse schwarzer Gestalten sich bewegten, von vielen Menschen, die auf die Straße geeilt waren und ihre punschselige Begeisterung für das kommende Jahr in die Nacht hinausbrüllten, die immer wieder und wieder ihren Ruf wiederholten, während oben die Glocken klangen und ein Hund, durch all den Lärm wild gemacht, bellte und bellte, bis ihm die Stimme überschlug. Und die beiden hatten doch die seltsame Empfindung, als ob irgend etwas an ihnen vorüberstriche, irgend etwas ihnen entgegenwehte, durch die Ruhe der schneereichen Winternacht – eine Ruhe, die eben so stark und fühlbar war, daß all das Lärmen da unten, all das Klingen da oben sie doch nicht völlig zu trüben und zu übertönen vermochte. Jason, der auch an das Fenster getreten war, mochte wohl etwas Ähnliches fühlen. »Ja«, sagte er und berührte Jettchen an der Schulter, »ja, Jettchen, eigentlich ist das doch nur ein Tag wie alle Tage, und doch gibt er uns fast greifbar zwei Dinge, die wir oft im Lärm des Seins nicht mehr spüren: die Empfindungen von Zeit und Ewigkeit. Diese Sterne da oben im Nebel über uns, die weiße Decke ringsum, alles tief und weit, nichts, was uns ein Zeichen gibt, feierlich, unerbittlich und unentrinnbar – das ist die Ewigkeit. Und diese tobenden Menschen da, die sich nicht genug tun können im Prosit-Neujahr-Brüllen, dieser Hund da unten, der bellt, diese Kinder, die in ihre Weihnachtstrompeten blasen, die zärtlichen Blicke deines Nachbarn – das ist die Zeit, das Lebende und Taumelnde und Vergängliche. Und, Kößling, Doktor Kößling, wenn es Ihnen auch jetzt scheinen mag, als ob das oben mehr bedeute als das hier unten – es ist nicht wahr! Nur hier sind wir zu Hause; nur hier ist unser Glück und unser Elend, das endlich auch noch Glück ist, weil es Leben sein darf.« Damit nahm Jason feierlich einen[[Anzahl]] langen Zug aus seinem Glase und goß ebenso feierlich den Rest des Getränks in weitem Bogen zum Fenster hinaus, als brächte er dem neuen Jahr 1840 ein Trankopfer dar. Man hörte, wie es aufschlug, und vernahm von unten eine tiefe Stimme, die heraufrief, was denn der Unfug bedeute – das wäre ja noch schöner! Jettchen und Kößling fuhren kichernd vom Fenster zurück, und Jason schenkte seinen Gästen wieder ein und bat sie, Pfannkuchen zu essen. Man stieß an und wünschte einander viel Glück. Und Doktor Kößling stand mit dem grünen Bowlenglas in der Hand und hielt eine kleine, wohlgesetzte Ansprache, in der er die Tugenden des »besten Onkels« pries. Aber der beste Onkel war nun ganz und gar nicht dafür, daß man ihn pries, und er nahm aus dem Schrank seinen neuen braunen Zylinder, den er sich hatte aus Paris verschreiben lassen, bügelte ihn und streichelte ihn noch einmal fein säuberlich mit einer Samtbürste, warf seinen pelzbesetzten Umhang kühn über die eine Schulter, als wäre es ein spanischer Mantel, überzeugte sich, daß er sehr unternehmend aussah, und meinte, es wäre jetzt höchste Zeit, daß er ginge. Spät komme er nicht zurück. Und Kößling nahm zärtlichen Abschied vor den Augen Jason Geberts, denn er fühlte nach Jasons Rede, daß er jetzt sicherlich dazu berechtigt sei. Als Jettchen in das leere Zimmer zurückkam, das noch ganz erfüllt war vom herbsüßen Duft der Bowle, den nicht einmal die neblige, kalte Nachtluft, die von draußen hereinflutete, verdrängt hatte, da mischten sich in den Lärm von unten immer noch die dumpfen und hellen Glockenklänge von allen Kirchen ringsum – der Nikolai-, der Marienkirche und der Garnisonkirche. Und das Spielwerk der Parochialkirche sandte auch für das neue Jahr ihre schon so oft unbeherzigte Mahnung »Üb immer Treu und Redlichkeit« durch die schneehellen Straßen mit ihren harten Wegen und Geleisen. Jettchen vergaß das Fenster zu schließen, setzte sich an den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände und träumte in all dem Lärm und Klingen vor sich hin. Und sie baute an einer reichen und glücklicheren Zukunft, so wie sie es jedes Jahr zur gleichen Stunde getan hatte; nur daß heute ihre Träume bestimmter und blutvoller denn je waren. Und endlich, als draußen die letzten Glockenklänge erstarben und die Prosit-Neujahr-Rufe nur noch seltener und leiser erklangen und sich nur noch dumpf antworteten wie die nächtlichen Rufe der Soldaten von den entfernten Wachtposten draußen auf den Wallgräben, da fröstelte es Jettchen, und sie schloß die Fenster. Eigentlich hätte sie gern noch einmal mit Onkel Jason gesprochen. Aber wann mochte der zurückkehren? &&x Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem jungen Jahr 1840. Jettchen war noch nicht lange zu Bett gegangen, da schlich auch schon Onkel Jason zurück, sehr leise und sehr kleinlaut. Er sah gar nicht mehr so unternehmend aus wie vorher, als er jetzt die Treppe heraufhumpelte, und er hatte ein weißes Batisttaschentuch um den Kopf gebunden mit vier Zipfelchen, nach jeder Himmelsrichtung eines. Sein schöner brauner Zylinder nämlich, den er noch so zärtlich geglättet hatte, bevor er wegging ... zuletzt hatte er ihn noch gesehen, wie er aufseufzte unter den Rädern einer schwer beladenen Henochschen Droschke, die ihm quer über die Krempe fuhr – gerade da, wo die Linden und die Friedrichstraße sich kreuzen. Aber heiliger Himmel, wie hatte man ihn schon vorher mißhandelt! Plötzlich war er Jason vom Kopfe geflogen. Er wußte nicht, wie das geschah. Er war ihm nachgestürmt. Aber einer hatte ihn ganz geschwind dem andern zugereicht, als wär's ein Feuereimer, und jeder hatte ihm noch einen[[Anzahl]] Puff und einen[[Anzahl]] Knuff und einen[[Anzahl]] Hieb versetzt; der hatte ihm einen[[Anzahl]] Fußtritt gegeben und der ihn noch in die Luft gewirbelt. Er war auf den Damm mitten in den Schnee gefallen, und ehe ihn noch die johlende Menge wieder aufraffen konnte, hatte ihn ein Pferd mit einem Huftritt plattgetreten wie eine Plinsenpfanne, und dann – nicht genug – waren die Räder mitten darübergegangen, als wollten sie seinen Durchmesser feststellen. Und Jason war mit einem letzten Blick auf die Leiche seines neuen Pariser Hutes zu Kranzler in den Laden geflüchtet, damit er zum Schaden nicht noch den Spott hätte. Er war wohl soweit Philosoph, um sich nicht zu ärgern; aber doch nicht genug, um auf eigene Kosten mitzulachen. Auch war Jason Gebert, sosehr er beim Volk Ausgelassenheit liebte, nicht roh genug, um es lustig zu finden, wenn ein Bulle ein Kunstwerk in Fetzen stieß – und ein Kunstwerk war in seinen Augen dieser Pariser Zylinder gewesen. Als Jason Gebert mit dem Taschentuch um den Kopf denn es war bitterer Frost, und ein scharfer, ätzender Nebel ließ es noch kälter erscheinen – an den Häusern entlang nach Hause humpelte, da tauchte plötzlich im dichtesten Gewühl, gerade unter einer Gasflamme, das rote Gesicht des Vetters Julius vor ihm auf – den Mund weit offen und die kleinen schwarzen Jacobyschen Jettaugen fast zugekniffen –, und seiner Kehle entströmte ein herzlicher Gesang. Aber nicht die rote Person war seine Begleiterin, nein, an jedem Arm hing ihm gleich eine kleine Frauensperson, die er fast mitschleifte und mitzog. Und als Jason jedoch näher hinsah, erkannte er unter den braunen Schuten Pinchens und Rosaliens erstaunte gelbe Gesichter, auf denen deutlich zu lesen war, daß Pinchen und Rosalie nicht recht wußten, was sie zu alldem sagen sollten, und sich deshalb ganz angstvoll an ihren starken Bruder Julius klammerten. &&x Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem jungen Jahr 1840. Ferdinand Gebert hatte, als die Glocken zwölf Uhr verkündeten und im lauten Schall einsetzten, gerade seine letzte, wenn auch nicht allerletzte Summe für das verflossene Jahr gezogen, hatte Abschreibungen über Abschreibungen gemacht, hatte bei seinen Debitoren von vornherein mit mehr Ausfällen gerechnet, als zu erwarten waren – und trotz aller Vorsicht war der Jahresverdienst um ein erkleckliches über den des Vorjahres gegangen, und Aufträge hatte er noch in Hülle und Fülle bis tief in den Mai hinein. Und als Ferdinand Gebert sich all dieses so recht deutlich vergegenwärtigte, sehnte seine Seele sich nach einem guten Glase warmen Punsches. Der Junge – na ja, der würde doch auch schon wieder mal gesund werden! Und Ferdinand Gebert fühlte das innige Bedürfnis, dieses bescheidene Gläschen Punsch doch nicht allein, in beschaulicher Selbstbetrachtung zu schlürfen, sondern all seine Lieben daran teilnehmen zu lassen; selbst seine Gäste sollten dabei nicht fehlen. Irgendwie müsse man doch merken, daß ein neues Jahr begonnen hätte. Und wie begonnen hätte ... unter welchen glücklichen Aussichten begonnen hätte! Ferdinand winkte also Hannchen, sie möchte aus dem Zimmer Wolfgangs kommen – und das konnte sie auch wohl tun, denn der arme kleine Kerl war nach Mitternacht ruhiger geworden und schlief ganz fest, nur mit etwas kurzen, quälenden Atemzügen. Und Ferdinand Gebert setzte darauf seine Gemahlin Hannchen mit behaglichem Händereiben von seinem Vorhaben und seinen Wünschen in Kenntnis und sagte auch, daß er noch Pinchen und Rosalie holen wolle. Aber Hannchen meinte, sie schliefen schon und es wäre ihr lieber, wenn sie heute ganz unter sich wären. Ferdinand Gebert aber war von je gewohnt, das Gegenteil von dem zu tun, was seine Frau wünschte; und er sah nicht ein, warum er im jungen Jahr 1840 plötzlich mit dieser lieben Gewohnheit brechen sollte – und er hielt es sogar für einen[[Anzahl]] besonders feinen Scherz, wenn er selbst hinginge, Pinchen und Rosalie aus den Betten zu holen. So also begab er sich an die Tür ihres Schlafgemaches und klopfte mit energischer Faust. Er hielt den Atem an, um den Erfolg seiner Bemühungen abzuwarten. Jetzt würden die gleich drinnen aufkreischen, sagte er sich. Aber es rappelte sich gar nichts. Es blieb totenstill – unheimlich, beängstigend still. Dieser jungfräuliche Schlaf belustigte Ferdinand, und er klinkte ganz leise die Tür auf, um seine Gäste höchstselbst mit zartem Gepuffe und Geknuffe zu erwecken. Stichdunkel war es. Aber Ferdinand Gebert wußte in seinem eigenen Hause Bescheid. Er fand das eine Bett, er tappte am Kopfende und fühlte nur die kühle Decke; am Fußende ... nur Decke ... nur Federn. Kein Bein, kein Fleisch, nichts Menschliches. Er tastete leise noch einmal mit beiden Händen – so dünn konnte doch gar kein Mensch sein, nicht einmal Rosalie. Aber vielleicht lagen sie beide drüben. Nein, auch da alles kühl, alles glatt und platt. Kein Arm, kein Haar – nichts. Ferdinand Gebert wurde es ganz unheimlich zumut. Und er schlug mit seinem Feuerzeug Licht. Da lag das ganze Zimmer – hier ein Bett und da ein Bett – unberührt, still, schön, ohne eine Falte. Im Augenblick hatte Ferdinand Gebert, der von sich auf andere schloß, eine ganze Geschichte zusammengereimt. Daß er das sich nicht schon lange gesagt hatte! Aber geargwohnt ... ja, geargwohnt hatte er es schon. Und voll innerlicher Entrüstung ging Ferdinand Gebert mit wuchtigen Männerschritten zurück zu seiner Gattin, die gerade eine Zitrone in die Bowle preßte und mit ihren dicken, rosigen Fingern mit aller Macht an der gelben Schale herumdrückte, und er setzte sie schonend von dem Schrecklichen in Kenntnis. »Pinchen und Rosalie sind nicht da«, sagte er bestimmt, gemessen und würdig, »so etwas dulde ich in meinem Hause nicht.« »Ach, die armen Mädchen«, versetzte Hannchen, und ihr breites Kindergesicht war ganz beschattet vom tiefen Bedauern mit ihnen, »was haben sie denn hier! Kann man es ihnen denn übelnehmen, wenn sie mit ihrem Bruder zusammen den Silvestertrubel sich ansehen wollen?« »So«, versetzte Ferdinand und zog das So dermaßen lang, als wolle er es gleich bis zum nächsten Neujahr ausdehnen, »sooo!« Ach du liebe Zeit! Hätte Hannchen gesagt, daß Pinchen und Rosalie allnächtlich auf verbotenen Lasterwegen wandelten – der Schaden wäre für Ferdinand vielleicht gutzumachen gewesen; aber diese Aufklärung, diese mit Julius – da gab es nichts mehr zu nieten, zu flicken und zusammenzubringen. Das eine »So« hatte entschieden. Hannchen wagte nicht einmal mehr, für ihre Schützlinge ein letztes Wort einzulegen. Und es kam alles, wie es kommen mußte in diesem jungen Jahr 1840. Als Jettchen an einem der nächsten Morgen erwachte, hörte sie erst ein ganz mattes Glucksen und Gurgeln und ein Singen und Klingen und ein immerwährendes leises Knattern von den fallenden Tropfen, die auf die Fensterbretter schlugen; und in der Dachtraufe rauschte es, als hätte man einen[[Anzahl]] Mühlbach darin eingesperrt. Der Nebel aber hing dabei wie ein graues, wollenes Tuch vor den Fenstern; und als er sich mählich hob, da sah Jettchen, daß drüben auf den Dächern der Schnee fast geschwunden war und daß er nur noch ärmlich, dünn und grau auf den Schindeln sich breitete, daß an allen Gesimsen Tropfenreihen als Besätze hingen und daß die Götterfiguren auf ihren Podesten sich aus ihren Pelzmänteln gestrampelt hatten und ihre heidnischen Glieder von neuem frei reckten. Auf der Straße waren die grauen Schneeberge über Nacht eingesunken, und in den Fahrrinnen stand das helle Wasser, das der Wind kräuselte. Der hartgetretene Schnee des Bürgersteigs jedoch war von tausend Tropfenmustern gezeichnet und gehöhlt. Ganz schwarz waren wieder die Bäume, blank und wie abgewaschen; und die allerletzten Hauben der Zaunpfähle drüben am Lagerhaus waren so recht verdrückt und schief gerutscht wie die Hauben bei alten Großmüttern, die ein wenig im Sorgenstuhl eingenickt sind. Dann aber kam der Regen hinzu, aus einem grauschwarzen Himmel. Erst langsam, mit schweren, einzelnen Tropfen, bis der Westwind einsetzte und das Wasser von allen Seiten herabpeitschte. Der Rauch wurde glatt von den Schornsteinen fortgerissen, und die Menschen, die sich unter die Schirme gegen die himmlischen Brausefluten stemmten, steuerten langsam und schwer dahin, mit fliegenden Mänteln und gebauschten Röcken wie Segelschiffe, die im Nordweststurm rollen. Herrgott noch mal, der Regen machte ordentliche Arbeit! Er wusch die Wände der Häuser und die Dächer und die Gärten und die Bäume und die Pflastersteine und sparte nicht Wasser dabei. Es schäumte ordentlich von den Wänden herab, und auf allen Pfützen schwammen große Blasen im Kreis umher. Die Schneeberge wurden ganz armselig und ganz kleinmütig unter diesen Wasserstürzen, und nur die Gartenmauer schräg drüben trieb bei der kalten Nässe für wenige Stunden einen[[Anzahl]] reifigen Silberbelag auf ihre rauhe Steinfläche, der aber auch schwand unter der immer nachsickernden Wassermenge. &&x Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem neuen Jahr 1840. Gegen Mittag, als gerade der Regen eine kleine, trügerische Pause machte – ach, er sammelte nur neue Kraft für seine Nachmittagstätigkeit! –, wankte ein großer, altmodischer Reisewagen, der schon lange unbenutzt in Onkel Ferdinands Remise gestanden hatte, mit einem Bau von Kisten und Schließkörben auf dem Verdeck und drei großen Reisetaschen unter dem Spritzleder langsam durch die Königstraße dahin. Seine breiten Räder durchfurchten das Wasser der gekräuselten Pfützen, daß es in Fächern nur so rechts und links um sie her spritzte, und bei jedem Hufschlag der beiden, braven Braunen platschte der graue Matsch des durchweichten Schnees nach allen Seiten auseinander. Oben auf dieser fahrenden Wasserkunst thronte der Kutscher Johann stocksteif in seinem grauen {{Mackin¬tosh}}. Und nebenher ging Ferdinand Gebert. Das heißt auf dem Bürgersteig, in respektvoller Entfernung, außerhalb der Spritzweite. Er rief Johann noch gute Lehren zu und empfahl ihm »diese Fuhre« ganz besonders. Er solle sie gut und schnell nach Bentschen bringen und sie ja nicht etwa umwerfen. Und in dieser fahrenden Wasserkunst, hinter den bespritzten Scheiben, saßen nun Pinchen und Rosalie, eng aneinandergedrückt, wie das zärtlichen Schwestern zukommt. In braune Reisemäntel waren sie gehüllt, und jede hatte ein Koberchen auf dem Schoß. Sie[[1]] hatten auf dringendes Anraten Tante Hannchens plötzlich eine unstillbare Sehnsucht nach Bentschen bekommen, und Ferdinand hatte erklärt, daß es ihm leid täte, daß sie schon abreisen wollten. Er wolle ihnen aber trotzdem nichts in den Weg legen, und er wolle ihnen sogar einen[[Anzahl]] eigenen Wagen zur Verfügung stellen. Aber da sie doch nicht allein allen Fährlichkeiten und Anfechtungen einer weiten und beschwerlichen Winterreise sich aussetzen konnten, so war ihnen als männlicher Schutz und Schirm der alte Onkel Naphtali zugesellt worden, der auch in der letzten Zeit seine Bentschener Bequemlichkeiten arg vermißt hatte. In Erwartung dieser saß Onkel Naphtali nun in der fahrenden Wasserkunst den beiden gegenüber, in einen[[Anzahl]] uralten Schafpelz gewickelt – uralt wie er selbst –, die Beine in einem Fußsack und den Kopf in einer Pelzkappe. Und dabei summte er vor sich hin wie eine Winterfliege in der Ofenecke. Er war eigentlich nicht unzufrieden. »Nu«, sagte er sich, »jedes Ding hat eben seine Zeit. Ma kann in de Großstadt leben; und ma kann in de Kleinstadt leben. Hier hat kein Mensch gewußt, wer ich bin. Zu Hause in Bentschen kennt mich wieder jedes Kind auf de Straße. Nur wie de Sach' mit Joel wird, das hätt' ich wirklich gern noch hier abgewartet.« Pinchen und Rosalie wieder waren keineswegs so zufrieden wie ihr Nachbar, und sie trennten sich keineswegs so leicht und ruhigen Herzens von Berlin. Nicht etwa, daß es ihnen die Reize des großstädtischen Lebens angetan hätten; nein, was die Schönheit und Annehmlichkeit des Lebens anbetraf, da zogen sie Bentschen schon bei weitem vor – aber sie hatten doch leise gehofft, daß sich hier für sie oder wenigstens für eine von ihnen (jede dachte dabei an sich selbst) etwas finden würde, eine passende Partie, so daß es sich ganz und gar erübrigt hätte, wieder nach Hause zu fahren. Aber diese Hoffnung war nun wie der Schnee draußen rein zu Wasser geworden. Keine passende, nicht einmal eine unpassende Partie war in der Ferne aufgetaucht, nichts hatte sich gezeigt, und dabei hatte ihnen doch Tante Hannchen vorher geschrieben, daß sie sich bestimmt danach umtun würde. »Na ja, auf de Verwandten is eben nie Verlaß.« Und Onkel Ferdinand ging selbst bis zum Königstädter Theater, bis zum Alexanderplatz mit, klopfte noch einmal den Pferden an den Hals und klopfte noch einmal an die Scheiben und winkte hinein. Und Pinchen und Rosalie nickten hinaus, Freundlichkeit und Süße auf den Gesichtern, aber innerlich voller Galle. Onkel Naphtali ließ sich durch Ferdinand Gebert nicht stören und wandte kaum den Kopf nach ihm. Ihn interessierte dieser Mann überhaupt nicht. Endlich hätte er ja auch seine Postfahrt bezahlen können, wenn er nur gewollt hätte. Die beiden Braunen, die bis dahin im Schritt gegangen waren, fielen nun in Trab, und der alte Reisewagen rumpelte und stuckerte über den Alexanderplatz hin, daß die Kasten und Körbe auf dem Verdeck nur so durcheinandertanzten. Ferdinand stand und sah ihm noch eine Weile nach, wie er die Landsberger Straße hinunterschwankte, sah ihm nach, bis er klein und kleiner und undeutlich wurde und endlich seinen Blicken ganz entschwand. Dann wandte Ferdinand Gebert sich erleichtert um, und es fiel ihm ein, daß er noch einen[[Anzahl]] Geschäftsweg machen könnte einen[[Anzahl]] von jenen, die er erst zum Schlusse des Jahres auf sein Geschäftsunkostenkonto zu verbuchen pflegte. Und wie dieser Reisewagen gemach Ferdinand Geberts Blicken entschwindet, so entschwinden uns hier nun auch die beiden – Pinchen und Rosalie – und als dritter der brave alte Onkel Naphtali, und wir werden nichts weiter von ihnen hier mehr hören und lesen. Sie[[1]] kehren nach Bentschen zurück, woher sie gekommen sind, tauchen wieder unter für uns in das Heer der Namenlosen, werden ausgelöscht aus diesem Buche, und über ihre ferneren Geschicke wüßte ich auch nichts mehr zu sagen und zu singen. Nur soviel: Wie Onkel Naphtali selbst nicht wußte, wann er geboren war, so entzieht es sich meiner Kenntnis, wann er gottselig verblichen ist. Aber das eine weiß ich doch: Es gab eine große Enttäuschung. Denn Onkel Naphtali besaß nicht ein Viertel von dem, was man geglaubt und erhofft hatte. Aber ist es nicht meistens so? Pinchen jedoch – oder war es Rosalie? – heiratete später doch noch nach Berlin. Sie[[1]] heiratete einen[[Anzahl]] Witwer, oder, um es deutlicher zu machen, sie heiratete den Witwer; denn es wird immer nur der gleiche Witwer geheiratet, an der Grenze der Fünfzig, unansehnlich wie ein altes Reibeisen, mit Kindern und mit Erinnerungen und mit dem zwingenden Bedürfnis nach einigen tausend Talern. Rosalie aber – oder war es Pinchen? – verblieb in Bentschen, und sie trug noch nach zwanzig Jahren das Haar so, wie es ehedem Jettchen getragen hatte, und sie behauptete immer, daß man das Haar in Berlin so trüge. &&x Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem jungen Jahr 1840. Der Regen hörte auf, als er den letzten Rest von Schnee von den Straßen beseitigt hatte; ohne sich nun gerade noch darauf zu versteifen, daß auch die allerletzten paar grauen Flecke schwänden, die hinter Gartenmauern im Winkel auf dem welken Laub oder unten an der Böschung des Königsgrabens, allwo einstmals die Veilchen gestanden hatten, ihr bescheidenes Leben fristeten. Es gab fürder eine weichere Luft und milde Abende mit sanft verschleierten Himmeln, die den Mond wie in zarte, gelbe Seidentücher hüllten. Und die Tage mit ihrer flüchtigen Sonne waren so lind, daß man fast schon an den Frühling glauben konnte, der doch so fern war. Vor allem aber gegen Abend, wenn die Dämmerung einsetzte und der Himmel immer noch grün leuchtete, während unten schon die Häuserreihen in Dunkelheit lagen und die Dächer mit ihren Figuren und die Kirchtürme aussahen, als wären ihre Umrisse mit scharfer Schere aus schwarzem Glanzpapier geschnitten – vor allem dann spürte Jettchen, die am Fenster lehnte, ganz deutlich so etwas wie den sehnsüchtigen Gruß des Frühlings, der doch so fern war. Eines Vormittags aber sagte Jason Gebert – und Jettchen erschrak darüber –, Jettchen solle sich fein machen, sie wollten zusammen zu Onkel Salomon ins Kontor gehen und mit ihm reden. Man müsse sich nun endlich entscheiden. Jettchen zog klopfenden Herzens die pelzverbrämte Samtjacke über und nahm den großen Muff, den ihr Onkel Jason geschenkt hatte; und der musterte sie von Kopf bis Fuß und sorgte noch dafür, daß sie ihre schwedischen Handschuhe anzog. Er müsse Ehre mit ihr einlegen; er müsse zeigen und beweisen, daß Jettchen sich bei ihm wohl befinde. Sie[[1]] müsse gute Figur machen; heute vor allem. Er wolle stolz auf sie sein. Und Jason Gebert selbst zog sich an wie ein Bräutigam, band mit besonderer Sorgfalt seine Krawatte und nahm aus dem Schränkchen »Sibirien« eine Busennadel, ein spitziges Blumenkörbchen aus Goldgerank mit einem Bukett von farbigen Blüten in Diamanten, Rubinen, Saphiren; die hatte schon sein Vater getragen. Und er bürstete und glättete seinen Zylinder mit verdoppelter Zärtlichkeit, gerade so, wie man auf ein Kind, das einem geblieben ist, auch noch die Liebe überträgt, mit der man einst die umschloß, die man verloren hat. Das erstemal seit langen, langen Wochen und Monaten gingen Jettchen und Onkel Jason nun zusammen an den weißen Türen vorbei, die Treppe hinunter, die sie in jener Novembernacht langsam und lautlos heraufgegangen waren, während die Dunkelheit mit kalten Sternen durch die hohen, vielfenstrigen Flurfenster blickte, durch die gleichen, durch die jetzt ein weißblauer Himmel hineinsah, besetzt mit ganz zarten grauen Wölkchen wie mit einem Reiherflaum; durch die gleichen, durch die jetzt eine weiße Helligkeit hereinbrach, die alles sauber und vornehm erscheinen ließ – die breiten Stufen, die alten, geschnitzten und geschweiften Gitter und Geländer, die Messinggriffe an den weißen Türen und die Stuckengel, die über die Decke flatterten. Jason tat ganz würdig, wie er mit Jettchen auf die blanke Straße trat, in den klaren, milden Wintertag hinaus. Sie[[1]] selbst gingen im Schatten, aber die Häuser drüben lagen mit vielen blitzenden Scheiben in der weißen Sonne, und die Bäume hinten mit ihren feinen Zweigen waren ganz erfüllt vom Lärm der Spatzen. Die ganze Königstraße herunter, die im Licht der schrägen weißen Winterstrahlen sich dehnte, schoben sich die Menschen, und Jason hinkte ganz stolz zwischen all denen neben Jettchen her. Und er schwankte nur, ob er ihr nicht den Arm bieten sollte. Der und jener, der Jason kannte, grüßte tief; und die und jene, die Jettchen kannte, beeilte sich, so freundlich den Kopf zu neigen, wie sie es nur vermochte, und verbindlich zu lächeln, als wollte sie damit sagen: Ich bin ja immer auf deiner Seite gewesen. Denn da natürlich die Kunde davon durchgesickert war, daß Julius Jacoby an der Börse – und hatte vielleicht ein Lederhändler etwas an der Börse zu suchen! – schieflag, so schieflag, daß es fraglich war, ob er je wieder auf die Beine käme, selbst wenn ihm Salomon Gebert stützend unter die Arme griff, da war nun mit einemmal dieser Julius Jacoby ein ganz verworfenes und lästerliches Geschöpf geworden. Und Jettchen Gebert, die ihn ja vorher kannte, hätte eben schon guten Grund gehabt, von ihm fortzulaufen. Alles, was der Klatsch Jettchen noch vor wenigen Wochen nachgesagt und angehängt hatte, hatte er ebenso schnell wieder vergessen. Ohne daß Jettchen es selbst wußte, waren ihr plötzlich alle Herzen zugeflogen, und es fehlte nur wenig, daß wie ehedem wieder irgendein zartsinniger Auskultator in der »Eleganten Welt« um sie und ihr Schicksal einen[[Anzahl]] Sonettenkranz flocht. Drüben an der Ecke des Hohen Steinwegs stand aber, mitten in der Sonne, Onkel Eli. Er stand breitbeinig da und stützte sich mit beiden Händen auf sein Palmenrohr mit dem Goldknopf. Jetzt war es Onkel Eli noch zu kühl für seinen blauen Frack, und er trug deshalb einen[[Anzahl]] langen zimtbraunen Überrock mit zwei Reihen silberner Knöpfe. Aber den hatte er offen, damit man seine Berlocken sah, die kleinen Pferdchen und Wägelchen, und damit man die Busennadel oben sah im gefalteten Brusttuch, den großen, gesprenkelten Karneol. Andere als gelbe Stulpenstiefel hätte Onkel Eli nie angezogen, und wenn es Fensterladen geregnet hätte. Aufmerksam und unbewegt stand Onkel Eli also am Straßenrand; auf die Menschen um sich achtete er nicht, aber die Pferde sah er sich an, und er folgte mit großem Interesse zwei ostpreußischen Wallachen vor dem Prenzlauer Wagen, die beinahe seinen Beifall gefunden hätten, »wenn se nich eben doch ä bißchen zu stark in de Fesseln gewesen wären«. Jettchen und Jason sahen Onkel Eli und kamen über den Damm zu ihm herüber, ihn zu begrüßen. Jettchen war verlegen, denn sie hatte Onkel Eli seit jener Novembernacht nicht gesehen, und es fiel ihr im Augenblick ein – und sie mußte darüber lächeln –, daß sie sich ja nicht einmal für sein Geschenk bedankt hatte und daß sie es bis heute nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. »Nu«, rief Eli schon von weitem, »das is wohl so was für dich, Jason, mit so ä hibsche junge Frau hier in de Königstraße spazierengehen!« »Ja«, sagte Onkel Jason und lachte, »siehst du, wenn ich wie du verheiratet wäre, dürfte ich eben das nicht.« »Weshalb?« meinte Onkel Eli und schüttelte den Kopf, daß der Puder stäubte. »Alle Frauen sind doch nicht so komisch wie ausgerechnet gerade meine[[Besitz]] Mine. Und hat se bei mir vielleicht Grund?« »Jetzt soll ich ›nein‹ sagen«, versetzte Jason Gebert und wandte sich zu Jettchen. »Nu, mei Tochter«, meinte der alte Onkel Eli und reichte Jettchen die Hand, »wir haben uns beide doch so lange nicht gesehen. Du hast der doch damals bei deine Hochzeit so französisch gedrickt – ohne mer adieu zu sagen. Nu ja, ich verstehe, du hast es eilig gehabt; aber warum biste nich inzwischen mal zu mer gekommen? Ich wohn immer noch auf'n Hohen Steinweg. Wir sind doch früher beide mitenander nich so förmlich gewesen. Un wie lange meinste denn, daß de deinen alten Onkel noch wirst besuchen können? Eines schönen Tages zuppt der da oben doch mal an de Strippe.« »Ja«, meinte Jettchen verlegen, »ich wußte nicht, ob es euch gerade ...« »Unsinn!« unterbrach Eli sie und stieß mit dem Stock aufs Pflaster. »Meinste vielleicht, Dummchen, ich hab dir je unrecht gegeben? Wenn meine[[Besitz]] Goldmine ä andere Meinung darüber gehabt hat, da bin ich nich dran schuld. Davor is se ä Frauenzimmer.« »Wie geht's denn Tante Minchen?« fragte Jettchen. »Se is sehr komisch, deine Tante«, versetzte Eli und schüttelte ernsthaft den Kopf. »Se werd sogar immer komischer. Jetzt verlegt se immer alle möglichen Dinge und setzt denn das ganze Haus in Aufruhr, se sind ihr gestohlen worden.« »Und was machst du, Onkel?« fragte Jason. »Du warst doch ein paar Tage nicht ganz wohl, wie mir Ferdinand sagte.« »Na, soweit geht's mer ja schon wieder. Aber mit de Beine will's nicht recht mehr weiter. Hörste, ich muß mer wirklich mal ä paar neue anschaffen.« »Wenn du die Adresse weißt, bist du wohl so freundlich, sie mir mitzuteilen«, sagte Jason. » Eins würde ich dann auch von dort beziehen.« »Ich würd's an deiner Stelle nich tun«, versetzte Eli, und der Schalk saß ihm im Nacken. »Das macht dich doch gerade interessant. {{De Lavallière}} hat auch 'n bißchen gehunken, und der große englische Dichter Byron, hab ich mer sagen lassen, der soll doch sogar ä Gang gehabt haben wie ä Schaukelpferd, und er hat doch so verschiedene Erfolge zu verzeichnen gehabt. Hab ich nich recht mit dem, was ich da sage, Jettchen?« »Ja«, sagte Jettchen und sah ihren Nachbar an. »Ich wünsche mir Onkel Jason gar nicht anders.« &&x Jettchen war soeben fast erstaunt gewesen, als sie an Onkel Jasons schlechten und steifen Gang erinnert worden war. Denn jetzt, da sie Monate mit Onkel Jason und nur mit ihm zusammen gelebt hatte, hatte sie das ganz vergessen. Und noch erstaunter wäre Jettchen gewesen, wenn man ihr etwa gesagt hätte, daß das Haar Onkel Jasons nicht mehr braun, sondern fast grau war und daß es den Schläfen sogar schon rein weiß schimmerte. Für sie hatte sich Onkel Jason nicht verändert. »De sollst wirklich bedankt sein«, rief Onkel Eli, »so ä Onkel sollste der noch mal suchen, wie Jason is. E anderer Herr wie sein Bruder Ferdinand.« »Was hast du denn mit einemmal gegen Ferdinand?« fragte Jason lachend. »Ich hab mich schon den ganzen Morgen über ihn geärgert«, knurrte Eli und bekam einen[[Anzahl]] roten Kopf. »Aber warum denn, Onkel?« fragte Jettchen sanft und beschwichtigend. »Warum? Haste nich gehört? Dein Onkel Ferdinand is doch Kommissionsrat geworden!« »Ach«, rief Jason, »Ferdinand – Kommissionsrat? Sieh mal an, Jettchen. Na, das ist doch sehr gut für ihn. Nächstens, meine[[Meinung]] ich«, Jason kniff das eine Auge ein, »wird er noch einen[[Anzahl]] Orden bekommen.« »Ma wird nich Kommissionsrat!« schrie Eli und stieß wieder seinen Stock aufs Pflaster. »Dein Vater, Jason, war ä anderer Mann wie Ferdinand. Der is nich bei Hofe rumgekrochen, er hat auch keinen Titel gekriegt. Kennste die Geschichte? Wie se'n rausgerufen haben nach Charlottenburg, er soll der Königin Luise Ringe und Tabatieren vorlegen, hat se doch in so ä kleinen Spiegelsaal bei Tische gesessen; und er hat draußen warten müssen. Da hat der Haushofmeister gesagt, wer wollen uns doch mal mit'n Juden Gebert ä Scherzchen machen. Ich nehme hier ä Stückchen Brot und wickel es in Kantenpapier un geb's ihm und sage: ›Hier, Herr Gebert, schickt Ihnen Majestät ä Bonbon von de Königlichen Tafel.‹ Und de Königin is auch auf den Scherz eingegangen. Aber dein Vater, Jason, hat doch durch de Spiegel von draußen alles gesehen, und wie der Haushofmeister rausgekommen is, hat er ihm des Papierchen abgenommen, hat's vor seine Augen aufgebrochen, hat's Brot rausgenommen und hat zum Haushofmeister ganz laut gesagt: ›Ich danke Ihnen, Herr von Tresckow, das ist auch das erstemal, daß Sie[[1]] einem Bürgerlichen ä Stückchen Brot zukommen lassen.‹ De Königin war doch ä gute und ä kluge Frau und hat sehr gelacht. Aber ... aber se haben ihm von da an nich recht mehr was abgekauft, und geworden is er schon gar nischt. Ferdinand natürlich, Ferdinand – der muß ja Kommissionsrat werden!« Jettchen und Jason mußten über den Zorn des alten Onkel Eli lachen, und Jason versuchte Eli zu überzeugen, daß ein Kommissionsrat, was man auch gegen ihn haben möge, doch auch ein Mensch wäre. Aber Eli wollte keinen von Jasons lustigen Beweisen gelten lassen und rief nur ein Mal über das andere, »daß so ä Schande wirklich in seine Familie ihm noch nich vorgekommen sei«. Jason bat Eli, er solle sie ein Stück begleiten. Eli dürfe auch die Vergünstigung beanspruchen, auf der rechten Seite von Jettchen zu gehen. Denn es lag Jason Gebert daran, daß sie alle drei zusammen gesehen würden. Aber Eli sagte, er bliebe hier noch ein bißchen stehen und humple dann nach Hause. Das viele Gehen strenge ihn an. Und da Jettchen und Jason ja zu Salomon wollten, so verabschiedeten sie sich lachend von dem Alten, trugen ihm Grüße an Minchen auf, und als sie ein ganzes Stück von ihm fort waren, drehten sie sich noch einmal nach ihm um und winkten ihm zu. Aber da stand der alte Onkel Eli schon wieder, beide Hände auf dem goldenen Stockknopf vereint, steif und starr, den Mund halb offen und die Augen weit vor, ganz in den Anblick eines englischen Traberhengstes versunken, der vor einem Kabriolett einhertänzelte, Kopf zurück, Schweif hoch. »Das war mal e Pferdche! Was anderes wie Nagler seine Wallache. Fast so scheen wie das vom Prinzen Karl.« Jettchen war doch seltsam beklommen zumute, daß sie das Haus, Onkel Salomon und Tante Rikchen und alles nun wiedersehen sollte, und mit jedem Schritt, den sie der Spandauer Straße näher kam, wurde ihr das Herz schwerer und bedrückter. Jason aber schien nichts von Jettchens Stimmung zu merken – oder er wollte nichts merken; er ging ganz heiter neben Jettchen her, durch die Frische des hellen Wintertages, und sprach unbefangen auf sie ein. Und da war es wieder, das graue Haus mit den Kränzchen unter den Fenstern; und auf den beiden Spionen auf dem Tante Rikchens und dem Onkel Salomons, denn sie hatten sich immer um den Vorrang gestritten, solange es nur einen[[Anzahl]] Fensterspiegel gab, und deshalb hatte Onkel Salomon eines schönen Tages seine Frau mit einem zweiten überrascht –, auf den beiden Spionen blitzte die Sonne. Der Türflügel ging nicht leichter auf als früher, und im Hausflur auf den zwei Gipsreliefs hielten sich immer noch Amor und Psyche bräutlich umschlungen, und Bacchus erteilte immer noch dem jungen Liebesgott seine Unterweisungen. Jettchen dachte an das letztemal, als sie zwischen ihnen durchgeschritten war, verängstigt und verzweifelt, kaum noch ihrer Sinne mächtig; und ganz noch in diese Erinnerungen verfangen, öffnete sie die Tür, sah wieder die langen Regale mit den Seidenkupons; die langen Tische mit den farbigen Stapeln; mit den Gänsekielen hinter den Ohren die Buchhalter, die sich an ihren Stehpulten in den Fensterecken auf den Füßen wiegten wie Pferde vor den Krippen. Keiner grüßte sie. Keiner schien sie zu beachten. Kaum daß einer nach ihr den Kopf von seiner Kladde wegwandte. Wie oft hatte Jettchen durch Jahre und Jahre denen da das Essen an den Winterabenden heruntergebracht, war beim Onkel Fürsprecherin für ihre Wünsche geworden. Der wollte eine Uhr, der einen[[Anzahl]] guten Anzug und der ein schwarzseidenes Kleid für seine Frau. Und nun wandte keiner von ihnen den Kopf. Nur weil keiner wußte, wie sie der Chef aufnehmen würde. »Siehst du«, flüsterte Jason, der das bemerkte, Jettchen zu, »siehst du, Jettchen, der Mensch ist doch schlechter als das Tier. Wenn die Viehmagd, die man weggejagt hat, später wieder durch den Stall geht, dann sieht sich doch wenigstens das Rindvieh, dem sie früher immer das Futter vorgeworfen hat, nach ihr um.« Jettchen nickte. Aber da kam schon Onkel Salomon aus dem Glasverschlag seines Privatkontors. Er schien Jettchen erwartet zu haben, denn er hatte nicht seinen gewöhnlichen Haus- und Arbeitsrock mit den komplizierten Landkarten von Flecken an, sondern Salomon trug einen[[Anzahl]] neuen braunen Gehrock und eine ganz neue Seidenweste vom Lager dazu – so neu, daß Jettchen nicht einmal das Muster kannte. Onkel Salomon hatte seine Kontorfarbe, sah blaß aus, aber sein graues Haar war scharf an den Seiten zurückgebürstet, und auf seinem glatten Gesicht lag noch der Hauch des Reispuders vom Rasieren her, und das ließ ihn jünger erscheinen, als er war. Jettchen klopfte doch sehr das Herz. Oh, sie hatte sich eine so schöne Rede zurechtgelegt – und nun war das alles wie weggeblasen. Hätte Onkel Salomon ihr jetzt ein böses Wort gegeben, sie hätte keine Silbe der Entgegnung gefunden. »Na, Jettchen«, sagte Onkel Salomon, und man hörte seiner Stimme die Freude an, Jettchen wiederzusehen, »na, hast du endlich einmal den Weg hergefunden, mein Kind? Wie geht's dir denn nun eigentlich bei deinem neuen Pflegevater?« Jettchen war über und über rot, und es stach ihr in den Augenwinkeln. Sie[[1]] kam sich so undankbar und schlecht vor. Sie[[1]] empfand die ernste Güte Onkel Salomons wie einen[[Anzahl]] Vorwurf, und sie vermochte kaum zu antworten vor Erregung. Onkel Salomon bot Jettchen auf dem ganz verdrückten alten Polsterstuhl einen[[Anzahl]] Platz an, während Jason stehen blieb und, die Hände auf dem Rücken, sich gegen den offenen Sekretär lehnte. »Wir hätten das eben nicht tun sollen, mein Kind«, sagte Salomon, »dann wären dir und mir viel Ungelegenheiten erspart worden.« »Nein, nein, Onkel, ich hätte vorher zu dir kommen müssen – nicht wahr? Du warst ja immer so gut zu mir. Aber ich wußte ja nicht mehr, was ich tun sollte. Ich dachte immer, du würdest mich fragen. Aber dann ... wie ich plötzlich erkannte, daß es nun zu spät war, da konnte ich nicht anders, da bin ich fortgelaufen.« Onkel Salomon ging zu Jettchen hin und streichelte ihr die Wangen. »Nun, nun, Jettchen«, sagte er beschwichtigend, denn er liebte keinen Gefühlsüberschwang, »es scheint ja wirklich, als ob du damit nicht unrecht gehabt hast. Ich glaube schon, ich hab diesmal einen[[Anzahl]] Fehler gemacht, Jettchen. Eigentlich kann einem das ja auch mal passieren. Früher, als du noch bei uns warst, weißt du ja selbst, habe ich nie einen[[Anzahl]] großen Abschluß gemacht, ohne ihn vorher mit dir besprochen zu haben. Das erstemal, da ich es nicht getan habe, verlieren wir wirklich unser Geld dabei.« Onkel Salomon meinte es gewiß nicht schlecht, aber da er gewohnt war, als alter Kaufmann das Leben in all seinen Lagen und Äußerungen zuerst einmal als ein rentables oder ein unrentables Geschäft aufzufassen, so wählte er eben diese etwas befremdende Ausdrucksweise. »Na«, klang es vom Sekretär her, »endlich stand bei der Sache doch etwas anderes auf dem Spiel als nur Geld, und wir hätten um ein Haar dabei mehr verlieren können als nur Geld. Was sich mit Geld noch gutmachen läßt, lieber Salomon, ist nie das schlimmste.« »Das weiß ich, Jason. Aber soweit meine[[Besitz]] Erfahrung reicht, habe ich gefunden, daß das Geld die Grundlage für alles andere bildet, und ich bemühe mich deshalb, immer in allen Dingen zuerst ein glattes Konto zu haben; das andere kommt dann von selbst.« Jetzt fand Jettchen die Worte. Sie[[1]] sagte, daß sie Onkel Salomon ja so sehr danke und daß sie wohl fühle, daß er gut an ihr handle; sie wäre aber doch so bedrückt, und sie wollte so gern aus ihrer unglücklichen Lage endlich befreit sein. &&x Salomon unterbrach sie. »Du brauchst dich gar nicht mehr zu verteidigen, Jettchen. Du hast hier«, er wies auf Jason, » einen[[Anzahl]] so eifrigen Fürsprecher gehabt, daß ich nun wirklich ganz und gar auf deiner Seite bin. Aber sieh einmal, Jettchen, wir können heute noch nicht die nötigen Schritte einleiten. Es geht nicht. Da sind – das weißt du nicht – hundert Dinge geschäftlich zu erledigen, ehe wir das so machen können, wie ich das gern haben möchte.« »Aber warum, Salomon?« klang es wieder vom Sekretär her. »Das Gesetz würde uns doch Handhaben genug geben.« »Du verstehst das nicht, Jettchen«, fuhr Salomon unbeirrt fort. »Vielleicht brauchst du die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Ich hoffe es sogar – aber du kennst unsere Gerichte nicht. Wenn heute jemand von mir behauptete, ich hätte ihm silberne Löffel gestohlen, und ich käme vor das Kammergericht, dann würde man mich nur freisprechen, nicht weil ich keine silbernen Löffel gestohlen habe, sondern weil man mir nicht nachweisen kann, daß ich silberne Löffel gestohlen habe. Und, Jettchen, genauso wird es mit dir sein. Und das wirst du mir doch nicht antun, wo du zwanzig Jahre in meinem Haus gelebt hast.« Jettchen hatte die Tränen in den Augen, und Jason hatte seinen Platz am Sekretär verlassen und humpelte erregt auf und nieder. »Jettchen«, sagte Onkel Salomon und nahm Jettchens Kopf zwischen die Hände, so daß sie den breiten Reif seines Siegelrings an ihrer Schläfe spürte, »sieh mich mal an – du brauchst ja nicht zu weinen –, hier vor Jason verspreche ich dir, daß wir alles gut ordnen werden, so, wie du es willst. Aber du mußt dich eben noch gedulden. Vielleicht acht Tage, vielleicht zwei Monate ... das läßt sich jetzt noch gar nicht absehen und vorherbestimmen. Sei versichert, Jettchen, ich lasse dich dann nicht einen[[Anzahl]] Tag mehr warten. Hier hast du die Hand drauf, mein Kind.« Jettchen hörte das alles, und doch rannen ihr immer noch die Tränen über die Backen. Sie[[1]] wollte Onkel Salomon danken, aber sie vermochte es nicht. Jason hielt in seiner Wanderung an. »Weißt du, Jettchen«, sagte er, »Salomon hat eigentlich mit allem recht. Ich sehe das jetzt auch ein. Und wenn wir so lange gewartet haben, werden wir auch noch ein paar Wochen länger warten können. Die Hauptsache ist doch nun, daß du selbst einmal hörst, wie Salomon darüber denkt und daß er auf deiner Seite ist.« »Siehst du, Jettchen, nun gehörst du wieder ganz zu uns«, sagte Salomon, beugte sich nieder und küßte Jettchen auf die Stirn. Und Jason Gebert ergriff Salomons Hand und schüttelte sie, als ob er ihn beglückwünsche. »Höre mal, Salomon«, rief er dann, »wir haben doch noch gar nicht über unseren hochgestiegenen Bruder Ferdinand gesprochen. Was sagst du denn dazu?« »Was soll denn mit Ferdinand sein?« fragte Salomon erstaunt und nahm eine Seidenprobe, zerrte rechts und links an ihr und hielt sie dann gegen das Licht. »Er ist doch Kommissionsrat geworden!« »Kommissionsrat?« fragte Salomon und zog das Wort etwas lang. »Ja«, sagte Jason. »Dachtest du vielleicht, unser Bruder Ferdinand würde Geheimer Hofrat werden?« Da kam Tante Rikchen hereingestürzt. Kam, so schnell sie ihre Füße trugen, kam, so schnell es ihre umfängliche Breite, die in einem violetten Kaschmirmorgenrock sich verdoppelt hatte, nur zuließ. »Haste gehört, Salomon, von Ferdinand? Haste gehört?« rief sie, fast noch draußen, mit dem Knopf der Tür in der Hand. »Eben schickt doch Hannchen das Mädchen rum! Dein Bruder hat doch 'n Titel gekriegt!« Jettchen, die sich erhoben hatte, zitterten die Knie, als sie Tante Rikchens Stimme hörte. Aber auch Tante Rikchen fuhr im ersten Augenblick zurück. Dann jedoch warf sie sich in ihrer ganzen Breite, wie eine Ringerin, auf Jettchen und küßte sie rechts und links und auf den Mund, ohne viele Worte zu machen. Denn Frauen haben unter sich eine andere Sprache als Männer. Es war nun durchaus keine Komödie von Tante Rikchen, sondern sie freute sich wirklich von Herzen, Jettchen wiederzusehen, denn sie hatte ihr in den Monaten recht sehr gefehlt. Auch war in der Zeit ihre scheinbar unerschütterliche Zuneigung zu dem einzigen Sohne ihres verstorbenen Bruders Nero, zum Vetter Julius, arg ins Schwanken geraten. Denn einen[[Anzahl]] schlechten Kursstand verzeiht man endlich selbst dem liebsten und nächsten Anverwandten nicht. So hatte Tante Rikchen nun mit einemmal gegen Jettchen gar nichts mehr einzuwenden. Auch Jettchen ging es seltsam. Kaum daß sie noch ein paar Worte gesprochen hatten, so war all ihre Befangenheit von ihr gewichen, nichts war ihr mehr fremd; sie atmete wieder ihre Luft, jedes Stück war ihr vertraut, und im Laufe des Gesprächs wischte sie ganz heimlich mit einem Tuch den Staub von der roten, geschliffenen Wasserkanne, die auf dem kleinen braunen Tischchen stand. Wer machte jetzt bloß hier rein? Man sprach über Ferdinand, daß ihm der Titel sicher nützen werde, und von Wolfgang, daß der Winter doch noch so lang wäre. Wenn er sich nur erholen wollte! Jetzt solle es ihm ja nun Gott sei Dank ein bißchen besser gehen. Aber mit Eli ... er sei doch eben sehr alt. Salomon könne »unberufen« in keiner Weise klagen, er fange jetzt schon an, Frühjahrsneuheiten zu versenden. Jason sagte – und sein Ton war noch verschleierter und deutungsreicher denn sonst –, daß er gleich zu Ferdinand gehen wolle, ihm zu der Ehre Glück zu wünschen. Und Jettchen meinte, sie wolle ihn begleiten, weil sie auch Wolfgang einen[[Anzahl]] Krankenbesuch machen wollte. Salomon und Rikchen aber brachten ihren Besuch beide höchst feierlich durch die langen Geschäftsräume, führten ihn durch die grauen Regale mit den Seidenkupons hindurch und zwischen den Tischen hindurch, auf denen die farbigen Stoffballen hoch aufgeschichtet lagen. Tante Rikchen küßte Jettchen noch zum Abschied, und Onkel Salomon sagte, daß sie nun wieder ganz zu ihnen gehöre. Und alle Buchhalter und Lagerverwalter und Expedienten, die wie Pferde vor den Krippen sich vor ihren hohen Stehpulten in den Fensterecken auf den Füßen wiegten, hörten mit der Arbeit auf, legten die Gänsekiele hin, wandten sich um und grüßten Jettchen. Und der alte Demcke kam sogar auf Jettchen zu und gab ihr die Hand. Wie es denn der Madame eigentlich so jinge? Der Hausdiener Gustav aber, der in seinem Kellerverschlag Kisten packte, kam hervor wie ein Dachs aus seinem Bau, kam mit hochgestreiften Ärmeln und wischte sich die mächtige Hand verlegen an seiner blauen Schürze, ehe er sie Jettchen reichte. Und Jason lächelte und tuschelte Jettchen im Hinausgehen zu: »Siehst du, mein Kind, so sind die Menschen!« Draußen aber war immer noch der helle, klare Wintertag mit seiner weißen, milden Sonne über den Häusern. Und Jettchen ging neben Onkel Jason her, und sie war froh, daß nun alles wieder im alten Geleise war. Denn die Entfremdung von Onkel Salomon und Tante Rikchen und all den andern hatte ihr doch weh getan, und sie hatte sich vereinsamt und ausgestoßen gefühlt. Die Leute sahen wieder auf sie, und die Bekannten beeilten sich zu grüßen, selbst die, mit denen sie früher gar nicht auf dem Grüßfuß gestanden hatte, sondern die sie nur so vom Sehen kannte. Die Ecke vom Hohen Steinweg war leer. Der alte Onkel Eli war schon nach Hause gegangen. Er mußte doch wirklich nicht gut dran sein, denn sonst war er um diese Zeit immer noch auf seinem Posten. Er ging stets erst sieben Minuten nach drei Viertel eins nach Hause, weil um ein Uhr Mittag gegessen wurde. Und da waren sie auch schon bei Onkel Ferdinand in dem breiten und dunklen Torweg, der sich nach den langen Höfen mit seinen grauen Remisen öffnete. Man merkte, daß hier Hunderte von Wagen hindurchgefahren waren, denn die Dielen zeigten tiefe Furchen und waren ganz zerrissen und splitterig. Hinten auf dem Hof liefen weiße Tauben in der Sonne, zwischen den holprigen Steinen, gurrten und pickten in den Fugen nach verwehten Haferkörnern. Und ganz nahe am Haus rutschten scheu und schnuppernd mit schlaffen Ohren ein paar große Königshasen entlang, diese ewigen bescheidenen Stallgenossen von Vieh und Pferden. Ein paar unbeleuchtete Stufen, auch am Tage stockdunkel, führten hinan zur Wohnung; man merkte oben die Tür erst, wenn man mit dem Kopf gegen sie stieß, und sobald man etwa auf der falschen Seite nach dem Klingelzug tappte, war man verraten und verkauft und bekam nie Einlaß. Aber Jason kannte das und tastete nach der rechten Seite, faßte die Perlenschnur, fand den Handgriff, die Klingel schlug an, und alsbald öffnete sich die Finsternis. Ob der Herr Rat zu Hause wäre, fragte Jason. Der Herr Rat, sagte das Mädchen – und man hörte es ihrem Ton an, daß sie sich dadurch gehoben fühlte, das sagen zu können –, werde gleich vorkommen. Der Herr Gebert möchte nur solange in die jute Stube jehn. Und damit öffnete das Mädchen die Tür und machte ganz wider ihre sonstige Art eine runde, einladende Handbewegung, denn sie empfand, daß sie jetzt in einem vornehmen Hause war. &&x Ferdinand Geberts Putzstube war nun nicht so schön wie die seines Bruders Salomon mit den weißen Lackmöbeln und der mattgrünen Seide an den Wänden oder etwa die Jasons, in der alles von schwerem Mahagoni und hellen Porzellanen glänzte, sondern sie war gar einfach mit ihren geschnitzten Stühlen aus hellem Apfelholz, mit ihren Schlummersesseln und ihren Kommoden aus Birke, die von schwarzen Strichen umrahmt waren, und ihrem flammigen Eckschrank mit den Goldtassen »Wandle auf Rosen«, »Aus Freundschaft« und »Den guten Eltern«. Aber überall standen in Goldrahmen gestickte {{Pa¬ra¬vents}} umher, auf denen der Rhein in grünen und blauen Wellen dahinfloß und ein heldenhafter Harfner und eine melancholische Schloßdame in winzigem Nachen sich ihrer Liebe versicherten. Überall lagen gestickte Kissen und Rollen: auf den Sesseln und der flach gepolsterten Sitzbank, auf der Erde und an den Fensterborden. Und an Antimakassars war ein Überfluß, daß man einen[[Anzahl]] Ausverkauf hätte machen können. Auf dem Sofa, auf den Sesseln, an den Stuhllehnen, auf den Hockern lagen ihre breiten, schweren Häkelmuster, hier winzig wie ein Taschenspiegel und da umfänglich wie ein Wagenrad. Aber all das machte das Zimmer nicht unbehaglich; und dadurch, daß von draußen die Sonne hereinkam und es in dem weißen Porzellanofen dabei friedsam sprühte und knisterte, erschien Ferdinand Geberts Putzstube bei all ihrem kleinbürgerlichen Ungeschmack doch warm, licht und freundlich. Noch in der Tür wollte Ferdinand Gebert den Ärmel seines blauen Gehrocks anziehen, aber vor Erstaunen, als er Jettchen sah, fand er nicht die rechte Stelle und schob und schlenkerte den Arm hin und her. »Herrgott«, rief er, »das ist aber hoher Besuch!« »Ja«, sagte Jettchen, »ich wollte doch unter deinen Gratulanten nicht fehlen.« »Na, es freut mich, daß du überhaupt mal kommst«, sagte Ferdinand Gebert, ging auf Jettchen zu und küßte sie höchst resolut trotz ihres Lachens und Sträubens. Denn das war von je sein onkelhaftes Vorrecht gewesen, das er sich nicht rauben und verkümmern ließ. Und sei es nun, daß Jettchen wirklich noch schöner geworden war oder daß es ihm nur so erschien, weil er sie so lange nicht gesehen hatte – sie gefiel ihm ganz ausnehmend; und sein altes verliebtes Herz war zudem heute in einer Verfassung, daß er alle Welt umarmen mochte. Und was befahl ihm, sich Zwang aufzuerlegen? Endlich trat Ferdinand Gebert zurück und rieb sich die Hände. »Na«, sagte er, »das eine freut mich nu doch, Jettchen, daß du klüger gewesen bist wie wir alle zusammen. Du hast gleich gesehen, daß an dem Herrn Vetter aus Bentschen nichts dran war; wir sind de Dummen gewesen. Ich sage ja immer: Beim Heiraten und beim Pferdekaufen kann man nicht vorsichtig genug sein, und am Ende ist man doch immer und ewig angeschmiert.« »Na, Herr Rat«, unterbrach Jason, der bisher stumm dabeigestanden hatte, Ferdinand, um ihn auf einen[[Anzahl]] anderen Gesprächsstoff zu bringen, »na, Herr Rat, wie ist dir denn nun zumute?« »Gott, wie soll einem denn zumute sein«, antwortete Ferdinand und strahlte über das ganze Gesicht, »mau! Meinste, ich bin ein anderer, als ich gestern war? Ich mache mir ja gar nichts draus. Ich selbst lege auf den Titel gar keinen Wert. Aber fürs Geschäft ist's gut. Früher sind de Leute gekommen: ›Herr Gebert‹, und es ist eine Liebenswürdigkeit gewesen, wenn sie mir was abgekauft haben. Jetzt werden sie eben ›Herr Rat‹ sagen und tun, als ob es eine Liebenswürdigkeit von mir wäre, wenn ich ihnen was verkaufe. Und verstehste, Jason, billiger werde ich auch nich mehr.« Und dabei ging Ferdinand mit großen Schritten zwischen all seinen {{Pa¬ra¬vents}} auf und nieder und rieb sich die Hände. »Wie geht's denn Wolfgang?« sagte Jettchen, und die Frage fiel ihr schwer. »Ach«, sagte Ferdinand, »es geht ihm gottlob jetzt besser. Ich hab nun nachgrade genug von de Doktors. Die bringen ihn ja noch ganz runter. Ich geb[[geben]] jetzt dem Jungen nur noch Liebertschen Tee[[2]], und da sollt ihr mal sehen, wie er mir wieder auf die Beine kommt. Und denn, wißt ihr, lasse ich ihn so sechs, acht Wochen ruhig im Stall stehen, ehe ich ihn wieder auf de Straße schicke. Und in der Schule, meine[[Meinung]] ich, wird er es nachher schon besser haben. Denn als Sohn vom Königlichen Kommissionsrat Gebert nimmt er doch eine ganz andere Stellung ein wie einfach als der Sohn vom Fabrikanten Gebert.« »Mir scheint, das wird ihm doch wohl wenig nützen«, warf Jason skeptisch ein. »Man kann nich wissen. Er wenigstens erzählt doch immer, daß die und die Jungens vorgezogen werden, ob sie was wissen oder nicht – nur weil ihr Vater einen[[Anzahl]] Titel hat. Das is nu überall in der Welt gleich; und im Grauen Kloster is das eben auch nich anders.« Damit mochte ja Ferdinand Gebert gar nicht unrecht haben. Unrecht hatte er nur darin, daß er die Tragweite und Machtsphäre gerade seines Titels überschätzte. Und endlich war ja auch das gleichgültig. Denn die Frage wurde gar nicht weiter zum Austrag gebracht, und der kleine Wolfgang kam eben nie mehr in die Lage, die geheimnisreich wirkende Fürsprache des väterlichen Titels in Anspruch zu nehmen. Da rappelte es im Nebenzimmer, und Hannchen rauschte herein mit ihrem schweren Moirékleid, knatternd wie eine Fahne auf halbmast. Und die kleinen Jacobyschen Jettaugen waren vor Glück und Wohlgefallen ganz in dem breiten Kindergesicht verschwunden. Aber als sie Jettchen erblickten, weiteten sie sich plötzlich zu bedeutsamem Staunen. Doch das war nur der Schatten eines Augenblicks. Dann zogen sie sich schon wieder zusammen und blitzten vor Freude und schimmerten vor Liebenswürdigkeit. Und Hannchen zog Jettchen an sich und preßte sie zärtlich gegen ihren weiten und bewegten Busen. Denn wenn es Tante Hannchen auch wohl nicht ganz so ums Herz war, wie sie sich Jettchen gegenüber gab, so beugte sie sich doch vor der Beweiskraft der Tatsachen und war von Natur schon immer auf der Seite der Mehrheit. Deshalb war es ihr jetzt nicht schwer angekommen, ihren Neffen fallenzulassen; vor allem, da man behauptete, daß Julius auch mit der »roten Person« viel Geld durchgebracht habe. Und in allem, was Moral anbetraf, dachte Tante Hannchen unerbittlich streng. Wir aber, die wir hier authentisch sind, müssen in dieser Hinsicht Julius Jacoby durchaus in Schutz nehmen und können versichern, daß es ein völlig unbegründetes Gerücht war. Im Gegenteil. Der Vetter Julius gab für die rote Person nicht einen[[Anzahl]] Taler mehr aus, als unbedingt nötig war, um sich ihre Freundschaft und Zuneigung zu erhalten. Leichtsinnig war er nicht. Jettchen gratulierte Hannchen, und die wiegte wohlgefällig den Kopf und erzählte, wie das gekommen sei. Wie sie zuerst gedacht hätte, es wäre etwas vom Gericht, wegen des Siegels. Und wie Ferdinand sie zu sich gerufen hätte, er hätte sein Knipsglas verlegt, und sie solle ihm deshalb vorlesen. Aber das sei nur eine Finte von Ferdinand gewesen, denn er habe schon genau gewußt, was darin stand. Und Ferdinand sagte, daß er gerade einen[[Anzahl]] bezaubernden {{Char à bancs}} hinten in der Remise stehen habe, den sich Jason einmal ansehen sollte, wenn er etwas Vornehmes und Fürstliches sehen wollte. Und Jason Gebert, der gleichsam als Familienerbteil auch die Liebe zu schönem Fuhrwerk und schönen Pferden hatte, war gleich dabei. Da steckte das Mädchen den Kopf durch die Türspalte. Die Frau Rätin, sagte sie verlegen, möchte doch einmal persönlich hinterkommen und die Zitronenspeise abkosten. Was denn Wolfgang jetzt mache, warf Jettchen zaghaft ein. Sie[[1]] hätte ihn doch gern einmal gesehen. Das könnte sie ruhig, sagte Hannchen. Er wäre schon seit einigen Tagen wieder auf. Nur aus dem Zimmer möchte sie ihn nicht lassen, damit er sich nicht von neuem erkälte. Denn man müsse ihn doch immer noch sehr in acht nehmen. »Na«, sagte Jason, »dann hole ich dich nachher ab, Jettchen.« »Wollt ihr nicht heute bei uns essen?« fragte Ferdinand, der mit seinem neuen Titel auch einen[[Anzahl]] neuen Menschen angezogen hatte und gastfrei geworden war. Vordem hatte er es immer bequemer und billiger gefunden, bei anderen zu essen, als selbst Gäste bei sich zu sehen. »Es kommt mir auf einen[[Anzahl]] Teller Suppe gar nicht an.« »Ach nein«, sagte Jason mit leichter Verbeugung, »wir haben gerade blaue Karpfen, und die schmecken gewärmt nicht. Aber wir kommen ein anderes Mal sehr gern, Herr Rat.« »Ich halte dich aber bestimmt beim Wort, Jason«, sagte Ferdinand würdig, und er war fest überzeugt, daß er es nicht tun würde. »Hör mal«, sagte Hannchen, während sie voranrauschte durch den langen Hinterkorridor und die eine Schulter vorschob, um zwischen den Spinden hindurchzukommen. »Hör mal, Jettchen, wie gefällt's dir nu bei Jason? Er is schon 'n Mensch, in den man sich verlieben kann.« Wenn man Tante Hannchen hörte, so klang das ja sehr unschuldig und harmlos, treu und sorgend, aber Jettchen hätte ihre liebe Tante nicht kennen müssen, um nicht herauszufühlen, daß auf dem Grunde dieser Frage ein schweres Mißtrauen schlummerte. Und das verstimmte Jettchen. »Oh«, sagte sie und bemühte sich, es unbefangen zu sagen, »wir kommen ja sehr gut miteinander aus.« Da aber erkannte Wolfgang in seinem Zimmer Jettchens Stimme und rief ganz laut: »Jettchen! Jettchen! Du sollst zu mir hereinkommen!« &&x Und Tante Hannchen rauschte den Gang weiter hinab nach der Küche, zu ihrer Zitronenspeise, während Jettchen in Wolfgangs Zimmer trat. Das lag nach dem Hofe hinaus, den Ställen gegenüber, war nicht hell und sehr klein; nicht viel größer als eine Kuchenschachtel war es eigentlich, und Sonne bekam es wohl nie. Höchstens ein paar Wochen im Jahr, ganz früh am Morgen, in einem schmalen Streifen von der Seite. Wolfgang aber saß in einen[[Anzahl]] tiefen braunen Lehnstuhl vergraben und verloren und war von Kopf bis Fuß in einen[[Anzahl]] großmächtigen bunten Kaschmirschal gehüllt. Er sah nicht auf. Er war vollauf erfüllt und beschäftigt. Er hatte vor sich ein Leimtiegelchen stehen, und daneben hatte er allerhand gepreßte Goldpapiere liegen, allerlei scheckige Marmorpapiere und hundert kleine Oblaten von Figuren, Rosetten und Postamenten mit Inschriften. Und aus dieser papiernen Herrlichkeit klebte Wolfgang nun einen[[Anzahl]] goldstrahlenden Tempel mit Marmorsäulen zusammen, mitten hinein in eine zartgestrichelte Landschaft, die von vielen Rosenbüschen leuchtete. Und da Wolfgang gerade dabei war, mit seinen dünnen Kinderhänden eine der letzten Marmorsäulen fein säuberlich aufzukleben, so durfte er nicht einmal aufsehen, als Jettchen eintrat. Aber eigentlich war dieser ganze Eifer Wolfgangs nur geheuchelt, damit Jettchen ja nicht etwa merkte, wie erregt er über ihren Besuch war und wie ihm das Herz klopfte. »Wolfgang«, sagte Jettchen, und ihr war es, als ob ihr da innen etwas zerrisse, »nun laß dich mal ansehen. Wie geht's dir denn?« Wolfgang wandte die Augen von der Arbeit und sah Jettchen groß an. »Oh«, sagte er, und ein überlegenes Lächeln kam auf sein hageres, verfiebertes Knabengesicht, »es ist ja ganz nett, mal ein bißchen krank sein. Du weißt ja auch, daß sie früher hier immer alle mich schlecht behandelt haben. Jetzt sind sie alle gut zu mir. In die Schule brauche ich auch nicht mehr zu gehen; ich kann also jetzt den ganzen Tag tun und arbeiten, was ich nur will. Und am ersten schönen Mittag, das hat mir Vater fest versprochen, läßt er für mich anspannen, und dann fahren wir nach dem Tiergarten.« So sprach Wolfgang. Nicht mehr mit seiner Knabenstimme von einst, sondern so ernst, tief und altklug, daß es zu seinem dürftigen Körper gar nicht recht passen mochte. Auf dem Grunde seiner Augen aber – Jettchen sah von dem ganzen Gesicht nur sie, denn die Krankheit ließ sie hervortreten und größer denn ehedem erscheinen –, auf dem Grunde seiner Augen lag dabei eine wunschlose Müdigkeit, lag die ganze seelische Überlegenheit, die eben der kranke Mensch immer vor dem gesunden hat. Da draußen, sagten diese Augen, da liegt das Licht über der Stadt, da zieht und rauscht das Leben dahin; da spielen die Jungen auf der Straße, und sie kämpfen in der Schule darum, einen[[Anzahl]] Platz hinauf- und nicht herunterzukommen. Und die Welt der Großen geht ebenso ihren Gang weiter, und jeder kämpft um seine Stelle an der Sonne. Alle wollen und wünschen sie etwas: die Ehre und jene Reichtum und diese Liebe; sie wollen die ersten und nicht die letzten sein, sie verzehren sich in Sehnsucht und möchten immer für das Heute das Morgen eintauschen. Aber ich sitze hier, und ich will nichts mehr als meine[[Besitz]] spielerische, müßige Arbeit. Und wenn es eben sein muß, so werde ich auch die still beiseite legen und ins Dunkel gehen. »Bist du denn nun nicht stolz auf deinen Vater, Wolfgang?« fragte Jettchen. »Ach ja, ich freue mich schon«, meinte Wolfgang. Und in dem Ton klang etwas, als spräche er von Dingen, die ganz fernab lägen. »Aber weißt du, Jettchen, ich denke jetzt immer, Vater wäre vielleicht ganz anders geworden, wenn ihn Mutter verstanden hätte. Vielleicht so wie Onkel Jason. Jetzt, wo er öfter einmal eine Stunde hier bei mir ist, weiß ich überhaupt erst, wer er ist. Vordem habe ich ihn nicht gekannt.« Jettchen vergaß ganz, daß sie doch noch ein halbes Kind vor sich hatte. »Sieh mal, Wolfgang«, sagte sie und streichelte den Jungen, »so mußt du nicht von deinen Eltern sprechen und denken. Sie[[1]] haben dich doch beide sehr lieb. Und wenn sie nur beide euch liebhaben, dich, Max und Jenny, so haben sie sich damit untereinander eben auch schon lieb.« »Aber warum bist du denn nicht zu Julius gegangen?« fragte Wolfgang ganz schroff und unvermittelt, fragte es statt jeder Antwort. Und er zitterte vor Erregung. Denn in seinem kleinen Hirn malte sich das gar seltsam; und in langen Fiebernächten hatte Wolfgang jetzt immer davon geträumt, daß es eben seinetwegen und nur seinetwegen geschehen wäre. Und er hatte sich mit aller Inbrunst seiner kleinen und unbefleckten Seele an diesen Gedanken geklammert und ihn zu keinem Menschen geäußert, ihn in sich bewahrt wie ein Geheimnis, das nur ihm gehörte. »Das verstehst du nicht, Wolfgang«, sagte Jettchen, »auch wenn ich es dir anvertrauen würde. Aber wenn du mal groß bist, dann wirst du wissen, warum ich es getan habe.« Wolfgang lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloß halb die Augen. Das Glück betäubte ihn fast. »Ich weiß«, sagte er dann und lächelte still vor sich hin. »Ich bin gar nicht mehr so klein, Jettchen. Und im nächsten Sommer, wenn du wieder nach Charlottenburg ziehst, dann darf ich doch wieder bei dir draußen wohnen, die ganze Zeit – nicht wahr? Und, Jettchen, noch eins – es darf keiner hier hören –: Sieh mal, sie sagen hier alle, ich wäre nur dadurch krank geworden, daß ich ohne Hut und Mantel fortgelaufen bin und dich suchen wollte. Es ist nicht wahr. Du mußt das nicht glauben. Du weißt es ja selbst, ich habe vorher auch schon immer so viel gehustet. Du mußt mir versprechen, Jettchen, daß du das nie glaubst, wenn das mal einer zu dir sagt. Und sieh mal, weißt du, ich werde ja auch bald wieder ganz gesund werden.« »Aber Wolfgang«, sagte Jettchen und lachte, während sich ihr Herz vor Gram zusammenzog, und beugte sich nieder und küßte ihn – und der Junge vereinte seine dünnen Arme um ihren Hals. »Aber Wolfgang, du bist doch nun schon wieder fast gesund. Und den ganzen nächsten Sommer sind wir auch beide zusammen in Charlottenburg.« Da hörte man draußen auf dem Flur Jason und Ferdinand. Jason machte die Tür auf und rief ins Zimmer: »Na, junger Herr, darf sich Euer untertänigster Diener die Frage gestatten, was Euer Gnaden zu Eurem demnächstigen Namensfeste befehlen?« »Also, Wolfgang«, rief Ferdinand, »nu wünsch dir mal recht was Ordentliches von Onkel Jason. Wenig fordern ist maulfaul.« Da kam Hannchen herein, und das kleine Zimmer war ganz voll von Menschen. »Wolfgang«, sagte sie, »könnte einen[[Anzahl]] hübschen Biberkragen ganz gut gebrauchen. Aber das wird dir wohl doch zuviel sein, Jason.« Aber Wolfgang saß ganz still und lächelte. »Ach, Onkel«, sagte er endlich, »schenke mir bitte Heines ›Buch der Lieder‹.« »Nu sieh den Jungen«, meinte Ferdinand lachend. »Heines ›Buch der Lieder‹! Hast[[Besitz]] du gehört, Frau Rätin? Er wünscht sich Heines ›Buch der Lieder‹! Nein, dazu warte man noch ein paar Jährchen, mein Sohn.« Und damit strich Ferdinand Wolfgang über die Haare. »Ich sage dir, mein Sohn, heute gibt es bei Geberts einen[[Anzahl]] Kalbsbraten – nicht wahr, Frau Rätin? Einen[[Anzahl]] Kalbsbraten gibt es, der ist viel schöner und viel besser für dich als alle Gedichte, die Heinrich Heine je gemacht hat und noch machen wird.« Wolfgang sah Jettchen mit einem Blick an, als wollte er seine Eltern vor ihr entschuldigen. Sie[[1]] wären doch eben nur einfache Leute ohne Bildung. »Gewiß«, rief Jason, »Heines Gedichte. Also – ein Mann, ein Wort.« Und dann nahm er den Karton vom Tisch, auf den Wolfgang das Tempelchen mit seinen goldenen Säulen und Marmorfriesen geklebt hatte. »Hast[[Besitz]] du das allein gemacht? Auch die Landschaft dazu? Wirklich? Na siehst du, Ferdinand, da weißt du doch gleich, was Wolfgang einmal werden kann. Der muß wieder Graveur werden, wie es Vater von Haus her war. Was glaubst du, Ferdinand, wär' mir heute wohl, wenn ich das auch geworden wäre.« »Ja«, sagte Wolfgang und sah ganz behaglich dabei vor sich hin; denn es schmeichelte ihm doch, daß so viel Menschen sich mit ihm beschäftigten und daß er hier der Mittelpunkt war. »Ja, Jettchen. Willst du dir das nachher mitnehmen? Ich hab's wirklich für dich gemacht.« Und damit zog er das Blatt heran und schrieb mit spitzen, sauberen Lettern unten an die Stufen des Tempels: »Zum Andenken an Wolfgang Gebert.« »Nun, nimm's dir schon!« rief Ferdinand. »Aber dann, Jettchen, wollen wir alle nach vorn gehen. Denn wenn der Junge so viel spricht, muß er nur wieder die Nacht husten. Kommen Sie[[1]], Frau Rätin.« Und damit bot Ferdinand seiner Frau den Arm und führte sie zur Tür. Jettchen nahm den Karton, den sie geschenkt bekommen hatte, beugte sich zum Dank noch einmal über Wolfgang und küßte ihn. Und Onkel Jason reichte dem Jungen die Hand und schüttelte sie derb. Er solle bald einmal zu ihnen kommen. Aber draußen auf dem Flur zog Jason Gebert sein Batisttuch, und indem er tat, als ob er sich die Nase riebe, wischte er sich verstohlen über die Augen. &&x Gerade aber, als Jettchen und Jason sich verabschiedeten, gerade als Hannchen ihnen sagte, nun müßten sie beide auch einmal »gemütlich« zum Abend kommen, erschien – es war eigentlich schon spät – Jenny mit ihrer Rückenmappe. Sie[[1]] ging zur Rätin Dietrich in die Schule, hinten am Krögel. Aber da sie Begleitung liebte, brauchte sie immer gut eine halbe Stunde, bis sie von dort nach Haus kam. Jenny sah frisch und gesund aus wie das Leben selbst; und sie wurde ganz rot und verlegen, als sie Jettchen sah, denn sie wußte nicht, wie sie sich ihr gegenüber geben sollte. Aber sie fand schnell heraus, daß man es ihr nicht verargen würde, wenn sie sich wie einst rechts und links mit dem Kopf an sie kuschelte. Und das tat sie und blickte ebenso verliebt zu Jettchen empor wie nur je ehedem. Und Ferdinand ließ es sich keineswegs nehmen, seinen Besuch selbst die paar Stufen hinabzubringen, und er klopfte noch im Torweg Jettchen auf die Schulter und sagte, daß sie beide nun wieder ganz die alten wären und von jetzt an es auch immer bleiben müßten. Draußen lag immer noch unverändert der helle Wintertag mit seinem durchsichtigen, lichten Himmel und mit seiner milden weißen Sonne über den Straßen; und alles sah nach der grauen Zeit nun doppelt blank und sauber und freudig aus. Die Geschäfte hielten jetzt Mittagspause, und die Königstraße war ganz erfüllt Von den Reihen von jungen Leuten, die in hastigen Schritten nach Hause eilten, und von anderen Reihen, die schon wieder zurückströmten, weniger hastig, denn man kommt doch eben lieber zum Geschäft als zum Essen zu spät. Jettchen und Jason gingen in dem Gewühl ziemlich stumm nebeneinanderher, denn ihre Gedanken waren bei Wolfgang, und keiner wagte dem andern von ihm zu sprechen. Jettchen dachte auch an Kößling, und es fiel ihr ein, daß sie doch zu Onkel Salomon von ihm und für ihn hatte sprechen wollen und daß sie sich hatte verteidigen wollen und daß sie den Onkel für sich hatte gewinnen wollen. Und sie hatte nicht ein Wort gesprochen. Ja, sie hatte die ganze Zeit nicht einmal mit einem Gedanken an Kößling sich erinnert. Sie[[1]] hatte all das wiedergesehen, ihre Menschen, hatte wieder ihre Luft geatmet, und währenddessen hatte Kößling weit da draußen gestanden, irgendwo fern unten, und sie hatte sich nicht nach ihm gesehnt und ihn nicht gesucht. »Ja, Jettchen«, sagte Jason Gebert, »nun bin ich doch froh, daß alles wieder beim alten ist und daß du dich wieder ganz zu uns rechnest. Weißt du, man mag reden, was man will, Jettchen – eigentlich ist das doch das einzige, was uns Halt gibt im Leben. Es ist mit der Familie wie mit dem Ofen: Solange Sommer ist, wollen wir nichts von ihm wissen, und jedesmal, wenn wir durchs Zimmer gehen, stoßen wir uns dran, und wenn wir ihn anfassen, ist er hundekalt. Aber sowie es Winter ist, da merken wir erst, was er uns bedeutet und was wir ohne ihn überhaupt wären.« Und von diesem Tage an wurden all die zerrissenen Fäden wieder zusammengeknüpft, und Jettchens Leben floß wieder weiter mit seinen ruhigen, bescheidenen Wellen, als hätte es nie in ihm Klippen und Stürze und Brandung und Sturm gegeben. Vielleicht ging dahinten irgend etwas vor. Jason und Salomon und Ferdinand kamen zusammen, um etwas zu besprechen, aber Jettchen vernahm von dem kaum ein Wort. Sie[[1]] sah Tante Rikchen und Tante Hannchen, und selbst Tante Minchen kam zu ihr herauf; und die und jene von den alten Bekannten fanden ebenfalls den Weg. Das alte Fräulein mit den Pudellöckchen saß sogar drei volle Stunden bei ihr, und man wußte nicht, was schneller ging – ihre Stricknadeln oder ihr Mund. Denn es gab viel Neues in Berlin, das sie Jettchen noch nicht erzählt hatte. Jettchen wußte selbst nicht, was sie noch davon zurückhielt, wieder zu Onkel Salomon zu ziehen. Denn Tante Rikchen hatte ihr mehr als einmal gesagt, Jettchen möchte nur so freundlich sein, es schon am Vormittag anzuzeigen, wenn sie am Nachmittag käme, damit man ihr Zimmer noch ordentlich rein machen und ihr Bett frisch beziehen könne. Aber von Woche zu Woche schob es Jettchen hinaus, und sie wagte nicht einmal, mit Onkel Jason davon zu sprechen und ihn darum zu bitten, daß er sie fortlasse, aus Furcht, er könne ihr zustimmen und ja sagen. Und warum sollte sie nicht bleiben? Umstände oder Kosten bereitete sie Jason Gebert nicht mehr. Denn Onkel Salomon, der, wie er selbst sagte, es liebte, in allen Dingen zuerst glattes Konto zu haben, hatte Jettchen schon am nächsten Tage bei Mendelssohn ein Guthaben eröffnet, das ihr monatlich über so viel Geld freie Verfügung gab, daß Jettchen kaum begriff, wie sie auch nur den dritten Teil aufbrauchen könnte. Und trotz aller Widersprüche Jasons hatte Jettchen es glücklich durchgesetzt, daß sie sich mit der Hälfte an der Bestreitung des Haushaltungsbudgets beteiligen durfte. Damit also hatte sie vor sich gleichsam ein Recht bekommen, bei Onkel Jason zu bleiben. Auch sagte sich Jettchen – und sie sagte sich das immer wieder –, daß sie ja bei Jason bleiben müßte, da sie doch bei Onkel Salomon Doktor Kößling nicht so sehen und sprechen durfte, wie sie es hier konnte. Und Jettchen versuchte, sich immer wieder und wieder davon zu überzeugen, daß das nur der einzige Grund sei, weswegen sie bei Jason bliebe. Sie[[1]] unterstrich das in ihren Gedanken, kam stets darauf von neuem zurück, als müsse sie sich immer wieder vor sich selbst rechtfertigen. Und das alte Leben ging weiter. Die schönen Tage hatten keinen Bestand, und es kam scharfer Frost, der bis tief in den Boden hineindrang und ihn spröde und klingend machte, so hart, daß er mit Äxten aufgeschlagen werden mußte, als man den kleinen Wolfgang hineinbettete. Und kaum hatte man das Grab geschlossen, so legte sich ein breiter Gürtel von Schnee über die gefrorene Erde und blieb durch die Tage und Wochen, immer wieder sich erneuernd. Ferdinand Gebert hatte also doch mit seinem Liebertschen Tee[[2]] unrecht behalten, und der alte Geheimrat Stosch hatte recht bekommen. Es war Ferdinand Gebert eben nur gegangen, wie es stets in dieser Welt geht, wenn der Amateur- und der Berufsboxer gegeneinanderstehen: Der Amateur mag ja einige Hiebe und Finten ganz gut kennen, aber was nützt ihm das gegen den andern, der doch die Erfahrung von hundert Gegnern und Übung von Jahrzehnten hat und am Ende recht behalten muß? Wolfgang hatte sich ganz schlicht beiseite getrollt, ganz still und unvermittelt, ohne die andern vorher zu verwirren und in Angst zu setzen. Er hatte sich noch ein neues Tempelchen geklebt, und dann, ehe er die letzte Marmorsäule aufgerichtet, hatte er die Arbeit fortgetan, nur um sich ein wenig aufs Bett zu legen und sich auszuruhen. Aber ein Zittern Wolfgangs hatte plötzlich die Mutter stutzig gemacht, und im Augenblick schrie in ihr – sie wußte selbst nicht, wie das kam – die Gewißheit auf, daß sie nun vor der schweren Stunde stehe, da sie sich trennen müsse von diesem jungen Wesen, das ihr Kind war, dem sie das Leben gegeben, unwillig und lieblos, und das sie in vierzehn langen Jahren eigentlich nie gekannt hatte. Jason aber konnte ihm Heines »Buch der Lieder« nicht mehr zum Geburtstag schenken, weil man ihn eben an jenem kalten Februartag bestattete, an dem er vor fünfzehn Jahren wie eine kleine schreiende Katze das erstemal ins Licht geblinzelt hatte. Und Jason machte sich bittere Vorwürfe, warum er nur nicht gleich gegangen wäre, das Buch zu kaufen, da er sich doch hätte sagen können, wie kostbar hier jede Stunde war. Für alle kamen nun harte, tränenreiche Tage und schmerzreiche Wochen. Denn wenn solch ein junger Mensch fortgeht, der eben erst ins Leben hineinwandern sollte, wenn solch ein weißes Blatt aus dem Buch gerissen wird, so ist diese Grausamkeit viel unbegreiflicher und unversöhnlicher, als wenn ein schweres und vollgewichtiges Konto aus dem Lebensbuch gelöscht wird, ein Blatt entfernt wird, das über und über mit Zeichen, Runen und Zügen bedeckt ist, so daß kaum noch für eine armselige Zeile Platz bleibt. Und endlich gibt es auch keinen Trost und keine Versöhnung für diese widernatürliche Härte, die es erzwingt, daß ein Kind noch vor seinen Erzeugern in das Nichts, in diese Ewigkeiten jenseits des Seins, zurückkehren muß. Wolfgangs Tod hatte plötzlich wieder alle Geberts einander ganz nahegebracht, hatte sie alle wieder zu einer einzigen großen Familie zusammengeschlossen. Die Frauen hatten sich nun viel um Tante Hannchen zu bekümmern, die doch von dem Verlust tiefer betroffen worden war, als man es bei ihrer selbstsüchtigen und oberflächlichen Art hätte vermuten können. Und eigentlich hatte sie auch, die arme Tante Hannchen, von all ihren Hausgenossen am meisten Zeit, unglücklich zu sein. Ferdinand hatte doch bald wieder sein Geschäft, das ihn abzog; Max mußte ebenfalls den ganzen Tag hinter den Büchern sitzen oder in den Werkstätten nach dem Rechten sehen; Jenny hatte tausend Geheimnisse mit ihren vertrauten Herzensfreundinnen – aber die arme Frau Rätin, Hannchen Gebert, mit ihren kleinen, zwinkernden Jacobyschen Jettaugen, sie hatte eben in der ganzen weiten Welt nichts, was sie von ihrem Schmerz ablenken konnte. Ihre Gedanken waren deshalb Tag und Nacht bei Wolfgang, mit dem sie sich doch, als er noch lebte, so wenig beschäftigt hatten. Und da die arme Frau Rätin mit ihren kleinen, zwinkernden Jettaugen die verschwiegene Form der Gedanken nicht kannte, so fand sie eben von morgens bis abends kein Ende, von Wolfgang zu erzählen und dem guten Jungen mit einemmal hundert Tugenden, Klugheiten und Vollkommenheiten anzudichten, die er – weiß Gott – nie besessen hatte. &&x Noch lange später aber, als der erste leidenschaftliche Schmerz sich schon zu einer sanften Erinnerung gemildert hatte, machte es doch noch Wolfgang, daß die gute Frau Rätin niemals um einen[[Anzahl]] Gesprächsstoff verlegen zu werden brauchte. Aber auch von den anderen kam niemand so leicht über seinen Kummer hinweg, trotzdem weder Salomon noch Jason, weder Rikchen noch Jettchen sich eigentlich vordem einer Täuschung hingegeben hatten, trotzdem sich schon jeder lange damit vertraut gemacht hatte, daß dieses junge Menschenkind sie bald verlassen würde. Endlich hatte die Tatsache doch alle unvorbereitet getroffen und hatte alle fassungslos gemacht. Und wenn jetzt in den Dämmerstunden Jettchen und Jason zusammensaßen und ihr Gespräch plötzlich stockte, so schimmerten – ganz gleich, wovon sie vordem gesprochen hatten – ihre Augen von Tränen. Das goldene Tempelchen aber, das einen[[Anzahl]] Ehrenplatz auf dem Schränkchen »Sibirien« erhalten hatte, vermochte Jettchen nie ohne geheimes Schluchzen anzusehen. Nur die beiden alten Leute – Eli und Minchen – hatten an dem Todesfall wenig Anteil genommen. Denn wenn man selbst nur ein paar Schritte zum letzten Ziel hat, dann wird man ziemlich gleichgültig dagegen, ob einem andere, und seien es selbst die, welche scheinbar das geringste Anrecht darauf haben, damit zuvorkommen. Und man schüttelt es schnell ab, wie eine Sache, die einen[[Anzahl]] ja Gott sei Dank persönlich noch nichts angeht und an die man deshalb auch nicht gern erinnert sein will. Kößling kam oft zu Jason und Jettchen in den Dämmerstunden. Aber nicht so ungezwungen wie einst – immer fürchtend, daß er irgend jemand sonst dort treffen könnte. Und seltsam ... in dem gleichen Maße, in dem Jettchen nun wieder ihrer Familie zurückgewonnen wurde, schienen sie sich auch beide – Jettchen und Kößling – wieder voneinander zu entfernen, so angstvoll sie sich auch suchten. Kößling war und blieb eben der ungestüme, verträumte, mürrische Mensch, der an seinem eigenen Feuer verbrannte, der nicht einen[[Anzahl]] Augenblick vergaß, daß er etwas erreichen müsse, und in dessen Seele der Bodensatz von Zwecklosigkeit immer wieder gärend nach oben trieb und Blasen warf – dieser Bodensatz von Zwecklosigkeit, der ja gerade bei all denen, die sich dem zweifelhaften Dasein des Schriftstellers und Literaten zuwenden, nie ganz zur Ruhe kommt. Und solange Jettchen sich als mittellose Waise gefühlt hatte, die bei Onkel Jason Schutz und Zuflucht gefunden, solange sie empfunden hatte, daß sie allein stand, einer feindlichen Welt gegenüber, erschien sie sich auch dem Unsteten und Heimatlosen in Kößling verwandt. Aber nun, da sie wieder Boden unter den Füßen hatte, nun, da sie keine mittellose Waise mehr war, sondern als Pflegetochter eines reichen Mannes die volle Lebenssicherheit wiedergewonnen hatte, da kam ihr das plötzlich fremd, unheimlich und unbegreiflich vor. Und endlich hatte ihr Wesen doch irgendeinen Pol und ihr Fuß und ihr Denken eine Heimat, während Kößling immer auf der Fahrt nach neuen Reichen war und in seiner Einsamkeit und seinem Unfrieden nach einer Erlösung rang. Und so saß er in den Dämmerstunden still bei ihnen, und gerade daß er eine Scheu hatte, sich zu erschließen, das peinigte Jettchen. Kößling verstand nicht, wie jene über den Tod des jungen Wolfgang gar nicht hinwegkamen. Da drüben in Braunschweig waren auch Neffen und Nichten von ihm, Kinder von seinen Schwestern und seinen Brüdern; und wie es das Leben so wollte, starb einmal ein Junge oder ein Mädchen, und es kam dann wieder eines hinzu. Er erinnerte sich auch, daß er Brüder und Schwestern verloren hatte – denn solch Gelbgießermeister hat eben viele Kinder, und es werden nicht alle davon groß –, aber das war schlicht und fromm als eine Schickung hingenommen worden; man war ein paarmal mehr in die Kirche gegangen, und dann war für alle der Strom des Seins weitergeflossen, als ob nichts geschehen wäre, und heute wußte er kaum noch die Namen der Verstorbenen. So verstand Kößling nicht, wie es kam, daß Jettchen so schwer litt. Er vermochte auch kein Mitgefühl zu zeigen, da ihm der Gegenstand der Trauer so ganz fernlag. Was sollte er denn tun, wenn nicht still dabeisitzen. Und diese Fremdheit machte Kößling auch in allem, was ihn selbst betraf, nur noch mehr verschlossen. Er kargte und knapste jetzt manchmal, aß trocken Brot zum Abend, nur um seine Kleidung gut instand zu halten und die Miete aufzubringen – für jenen Raum, in den er sich nicht hineingewöhnen konnte. Und er mußte dann sehen, wie Jason Gebert für ein Porzellanpüppchen oder eine Handvoll winziger Blättchen von Beham und Aldegrever mehr Geld opferte, als er selbst den ganzen Monat für sich beanspruchte. Und Kößling verstand Jason Geberts Freude daran nicht und den Hang, diese Dinge zu besitzen, sie immer um sich zu haben und für sie Goldstücke fortzuwerfen. Ja, wenn es noch Bücher gewesen wären! Aber diese kleinen, sinnlosen Eitelkeiten! Vielleicht wäre ja alles besser gewesen, wenn Kößling Erfolg gesehen hätte. Aber so bedingte eines das andere. Nichts glückte ihm, weil ihn das Leben nicht befriedigte; und weil er in seinem Innern keine Ruhe fand, packte er nichts fest genug an, um es zum glücklichen Ziel zu führen. Er fand sich nicht mehr zurecht. Jedesmal, wenn er meinte, Fuß gefaßt zu haben, sah er, daß er sich auf Triebsand verlassen hatte. Er wäre gern als Redakteur an eine Zeitschrift gegangen. Und wenn er sich irgendwo mit Geld hätte beteiligen können, dann hätte er schon etwas gefunden. Oder er wollte als Berater in einen[[Anzahl]] großen Verlag gehen. Aber daran war nicht zu denken. Von all den Arbeiten, die er in seinen langen, einsamen Stunden begann, machte er kaum eine fertig oder gerade die, die ihm am unbedeutendsten erschien. Der Schachteufel, der ihn gepackt hatte, hatte ihn immer noch nicht aus seinen Krallen gelassen, trotzdem Kößling selbst an seinen Gegnern nur zu gut erkannte, daß von Woche zu Woche seine Spielstärke nachließ, und trotzdem er selbst die Ziellosigkeit des Schachspiels klar eingesehen hatte. Das Schach betäubte ihn nicht mehr, und es sog nicht mehr seine Gedanken auf. Und doch fühlte sich Kößling oft unfähig, etwas anderes zu tun, als eben die Steine über die Felder zu schieben und sich in die seltsamen Lösungen ihrer Beziehungen zu verstricken. So also hatte der Wandel der Dinge, diese größere Sicherheit, unter der nun beide – Jettchen und Kößling – dahinleben konnten und die sie wieder an die Zukunft glauben machte – dieser Wandel der Dinge, von dem Jason so viel erhofft hatte, er hatte nichts über Kößling vermocht. Und er hatte sie nur entfremdet, statt sie zueinanderzuführen. Kößling war auf all das eifersüchtig, was Jettchen umgab und in ihren Bann zog: auf ihre Kleider, auf ihre Wohlhabenheit, auf ihre Familie, auf Onkel Jason, an dem sie so hing. Für ihn bedeutete das eben nichts und für sie eine Welt. Er wäre ihr all das so gern in einer Person gewesen. Und doch sagte er sich hundertmal, daß er ja nichts dagegen zu bieten habe, nichts als Ungewißheit und trübe Hoffnungen. Das machte Kößling in Jettchens Gegenwart nur noch unfroher und verschlossener. Zudem hatten Doktor Kößling auch die Briefe verwirrt, die er von Hause erhalten hatte. Denn irgendwie war eben der Klatsch, der sich mit ihm beschäftigte, auch bis dahin gedrungen. Diese Briefe hatten ihm Vorwürfe gemacht, daß er seine Stelle verloren habe und daß er mit einer jüdischen Frau zusammen lebe, als ein Heide und ein verlorener Mensch, und daß er so tief gesunken wäre, trotzdem er aus einem so frommen, christlichen Hause käme und trotzdem man so viel an ihn und seine Erziehung gewandt hätte. Kößling hatte nicht geantwortet, hatte die Briefe zerrissen, hatte sie nicht beachten wollen; denn er fühlte nur zu deutlich, daß da wieder der Pastor dahinterstecke, der, wie schon so oft, seine Eltern gegen ihn aufgehetzt hatte. Aber trotzdem Kößling sich bemühte zu vergessen – einen[[Anzahl]] Stachel hatten diese Briefe in seiner Seele doch hinterlassen. Und es kamen wieder seltsame Abende, und lange nachdem die Sonne gesunken, glühten plötzlich an den Häuserreihen die gewölbten Scheiben auf wie Leuchtkäfer in der ersten Dämmerung. Es kamen wieder lichte Nächte, an denen die Sichel des Mondes weiß, in einem zarten meergrünen Himmel schwamm und ein graublauer Dunst über den Dächern und Schornsteinen hing, deren Kanten nur noch einen[[Anzahl]] Hauch von Schnee zeigten. Aber auch der schwand täglich mehr dahin. So langsam, so leise kam der Frühling, daß man es kaum gewahr wurde. Nur von Tag zu Tag wurde der Schnee auf den Dächern und Wegen, auf den Gesimsen und den Bäumen, auf den Figuren und den Balustraden geringer und weniger. Kein Regen kam wie damals und wusch ihn auf einmal fort; doch die Sonne, die um Mittag durch die verschleierte Luft brach, machte, daß der Schnee langsam in sich zusammenfiel und verging. Dann jedoch – nicht lange vor Frühlingsanfang – kam plötzlich so eine helle Luft und eine Frische, die Leben ahnen ließ und Leben weckte. Und am ersten schönen Tag sagte Jason, daß er einmal vors Tor möchte. Sie[[1]] wollten in den Charlottenburger Schloßgarten gehen. Man könnte mit dem Kremser hinausfahren, oder sie würden schon irgendeinen Wagen finden. Sie[[1]] wollten sich mittags am Brandenburger Tor treffen. Kößling könne auch mitkommen. Und sie trafen sich draußen vor dem Tor. Denn in der Stadt sollten Jettchen und Kößling noch nicht zusammen gesehen werden. Und Jason hatte für seine Partnerin einen[[Anzahl]] großen Veilchenstrauß gekauft. Kößling hingegen kam mit leeren Händen. Er war selbst unwillig darüber, und er entschuldigte sich bei Jettchen und nannte sich einen[[Anzahl]] schlechten Menschen. Aber Jettchen sagte, daß sie ja noch eines von den Veilchen von ehedem in ihrem Medaillon trage und daß ihn das für alle Zeiten freikaufe. Jason setzte sich keineswegs in den Kremser, trotzdem ihm der Kutscher beinahe den Ärmel aus dem Rock riß – mit solchem Vehikel fahre er nicht! –, sondern er heuerte für einen[[Anzahl]] Taler eine große, zweispännige Henochsche Droschke, in der sie bequem und vornehm saßen und noch jemanden hätten mitnehmen können, so viel Raum war in ihr. &&x Draußen zogen die Stämme der breiten Allee smaragdgrün mit ihrem feuchten Moos in der Sonne vorüber. Die blaue Luft wehte um das Buschwerk, und über der braunen Blätterschicht des Bodens schwebte noch ein letzter Hauch von tauendem Schnee. Überall war mit einemmal wieder Farbe. Wie Silber stand eine Birke am Weg, das Geäst von Schneeball und Weide an den Teichen war rot wie fließendes Blut, und das vergilbte Schilf davor leuchtete wie eine Goldkette und wiederholte seine Starrheit in dem dunklen Spiegel, der nur hie und da noch von den letzten dünnen Eisnadeln getrübt war. Und doch schien die Sonne so hell und so hastig und drang überallhin, und noch im dichtesten Gestrüpp zeichnete sie jedes Ästlein auf dem Boden. Aber bisher zeigte sich an keinem Baum neues Leben, und nur die tropfenden Kätzchen von Erle und Hasel pendelten im Wind. »Sehen Sie[[1]], Doktor«, sagte Jason Gebert und kniff das eine Auge ein, »sehen Sie[[1]] mal hinaus. Das ist echt Preußen: ein bißchen weiße Sonne und doch alles noch Winterschlaf. Kein Blatt regt sich. Wann wird sich bei uns überhaupt mal ein Blatt regen können? Sehen Sie[[1]], in Sachsen haben sie doch jetzt wenigstens ein neues Zensurgesetz – bei uns jedoch wird sogar die Buchdruckerfeier verboten. Nächstens werden sie noch den Druck überhaupt verbieten. Und bei uns kriegt dieser Mensch, diese Kreatur, der Justizminister Kamptz, den Schwarzen Adlerorden! Wenn man es bedenkt, Doktor, es ist entsetzlich!« Jason Gebert hatte heute seinen politischen Tag, aber Doktor Kößling war gar nicht danach zumut, darauf einzugehen; er beschäftigte sich jetzt überhaupt wenig mit Politik; denn er hatte zuviel mit sich und für sich selbst zu kämpfen, um den rechten Eifer für die Dinge der Allgemeinheit aufzubringen. »Ja«, sagte Doktor Kößling gezwungen und anteillos, »ich glaube, die Preußen brauchen gar nicht so lange zu warten; denn wenn jetzt nun bald der Kronprinz an die Regierung kommt, dann wird es gewiß auch hier Frühling werden.« »Kößling, Kößling«, rief Jason, »prophezeien Sie[[1]] nicht! Sonst geht es Ihnen noch wie dem Mann, den sie jetzt eingesperrt haben, weil er geweissagt hat, daß der König am siebenundzwanzigsten Mai sterben wird. Nun muß der arme Teufel so lange sitzen, bis der König wirklich mal stirbt. Und wenn's hundert Jahr sein sollten. Das ist eben seine gerechte Strafe.« Kößling lachte. »Und, Kößling«, rief Jason, »was haben Sie[[1]] nur noch für ein politisch unverdorbenes Gemüt, daß Sie[[1]] noch an Kronprinzen glauben. Mit den Kronprinzen ist es ähnlich wie mit den hübschen kleinen Kindern: Wenn man sie ansieht, versteht man nie, wo all die häßlichen großen Menschen herkommen.« »Ja«, sagte Jettchen, »Fräulein Hörtel hat mir aber schon gestern erzählt, daß sie wieder im Schloß die Weiße Frau gesehen haben. Sie[[1]] hat es sogar von einem Königlichen Kutscher selbst gehört.« Doch Jason schüttelte nur und lächelte sarkastisch vor sich hin. »Weißt du, Jettchen«, sagte er, »ich habe meine[[Besitz]] ganz bestimmten Gründe, es nicht zu glauben. Denn in unserm Schloß ... Aber«, unterbrach sich Jason, »ich will so etwas lieber doch nicht sagen, weil mein Bruder Königlicher Kommissionsrat ist.« Und das kleine Haus der Frau Könnecke zog vorüber, mit seinem kahlen Vorgärtchen, in dem eigentlich nur der niedere, vergrünte Holzzaun und die Kugel aus Spiegelglas dieselben waren wie im vorigen Sommer. Denn daß diese kahlen Büsche an der Holztreppe und diese starren Bäumchen, die sich an die Mauer drückten, dieselben sein sollten wie die, so im Frühjahr ihre blauen Blütentrauben senkten und ihre gelben Goldfahnen schwenkten, das mochte man kaum glauben. Jetzt saßen nur geplusterte Spatzen wie braune Wollknäuel in den Zweigen und sonnten sich. Da war das Fenster, an dem Jettchen so oft gesessen und in die Laubfülle der blühenden Linden gesehen hatte, traurig und sehnsüchtig. Sie[[1]] wußte selbst kaum, weshalb. Da guckte das verschlafene Gesicht der Tante heraus, als der Onkel aus Karlsbad kam; und drüben begann das Reich der braven Frau Könnecke und ihrer Tochter Emilie, die trotz ihrer jungen Jahre sich schon höchstselbst darum bemühte, des Rätsels Lösung praktisch zu ergründen. Wie weit das alles von Jettchen war! Diese ganze Zeit ... wie entblättert, gleich den Goldregenbüschen und den Fliederhecken. Jettchen schien es, als begriffe sie sich selbst kaum ... Ein ganzes Stück waren sie schon von dem Haus der Frau Könnecke entfernt, als Kößling auffuhr. »Wo hast du doch im vorigen Sommer gewohnt, Jettchen? Muß das nicht gleich kommen?« »Nein«, sagte Jettchen, und nur Jason merkte, daß ihr Tränen in die Augen kamen, »wir sind längst daran vorübergefahren.« »Da muß ich mir's aber bestimmt auf dem Rückweg wieder ansehen«, sagte Kößling. Dann waren sie im Schloßpark, und der ganze weite Garten lag noch fast tot. Nur ein Fink, der eben angekommen war, hatte Frühlingshoffnung und saß auf dem Ende eines Lindenzweiges und sang, daß man es ordentlich sah, wie seine Kehle arbeitete. Da er allein war und es sonst ganz still war, so schallte es weithin. Irgendein kleiner Fleck war aber schon grün zwischen all dem welken Laub, und eine erste Anemone duckte ihr silberweißes Köpfchen. Über welken Rasen trieb auch, nirgends verweilend, wie ein Blatt im Wind, ein gelber Falter in der matten, bläulichen Luft dahin, während auf dem Sand des Weges unruhig ein verblichener Trauermantel den weißen Rand seiner Flügel drehte, um – aufgescheucht durch die drei – emporzusteigen und seine flattrigen Kreise über die roten Zweige einer einsamen Birke zu ziehen. Keine Seele war draußen im Park. Nur der Posten pendelte, das Gewehr im Arm, hinten vor dem gelben Schloßbau. Jettchen und Doktor Kößling hatten sich untergefaßt und gingen nebeneinanderher. Jettchen bemühte sich, hier alles wiederzuerkennen, aber sie kannte und fand nichts wieder. Was sie wiederfand, waren ihr leere Formen ohne Inhalt. Da war die kleine Brücke; da ging der Weg unter Bäumen hin; da tauchte das Kavalierhaus auf mit seinen Putten, die den schweren Kranz trugen. Und da standen die mächtigen Pappeln an dem trägen, breiten Wasser der Spree. Draußen in den Ackerfurchen lag noch Schnee in Streifen, und das erstemal erschienen die Fernen, erschien das Band des Waldes statt im Grau des Winters wieder in einem lichten Blau, fast so licht und blau war das, wie es der Himmel oben war, über den ein lustiger Wind ein paar hauchfeine Wölkchen wie verflogene Federn blies. Hinten am Graben, an jenem engen Weg unter Weiden, den sie entlangschritten, einer hinter dem andern, stand halb im Wasser ein Busch schwarzer Johannisbeeren. Der hatte als erster und einziger schon seine Knospen geöffnet und zeigte kleine, gefaltete Blätter, die im Licht scharf und gesund dufteten. Jason riß im Gehen einen[[Anzahl]] Zweig davon ab. »Siehst du, Jettchen«, sagte Jason Gebert, und seine Stimme war plötzlich verschleiert, »das kommt nun alles wieder, treibt alles weiter – siehst du hier, es will sogar schon Blüten bekommen; aber solch ein kleiner Menschenbaum, der wird einfach ausgerodet aus dem Boden, und das Leben vergißt ihn.« Jettchen griff nach Onkel Jasons Hand und betrachtete den Zweig fast gerührt. »Sollten wir nicht lieber und besser von einer Blume sprechen, die verpflanzt wird?« meinte Kößling. »Das mögen Sie[[1]] tun, Herr Doktor«, sagte Jason Gebert. »Ich für meinen[[Besitz]] Teil habe mich daran gewöhnt, den Ereignissen ohne Selbsttäuschung in die Augen zu sehen.« Jettchen sah ängstlich von einem zum andern. »Hast[[Besitz]] du etwas gehört, Onkel Jason«, begann sie schnell, um die beiden auf etwas anderes zu bringen, »hast du gehört, wie es Onkel Eli geht?« »Ich habe Salomon gestern gesprochen«, sagte Jason. »Er ist gar nicht zufrieden mit dem alten Herrn.« »Ach«, sagte Jettchen, »wenn es nur bald wieder besser wird.« »Ich staune immer«, begann Kößling, »wie Sie[[1]] alle zusammenhalten. Was ist denn für mich die Familie?« Und er dachte an die letzten Briefe von Hause. »Doch nicht mehr als ein Haufen kleinlicher und bösartiger Menschen, die einem tausend Knüppel zwischen die Füße werfen und sich dann einreden, sie wollten uns weiterhelfen.« Jason und Jettchen wußten aber nichts von diesen Briefen, und sie fanden die Worte Kößlings gegen die Seinen hart und ungerecht. »Vielleicht ist es gar nicht die Familie«, sagte Jason. »Aber der alte Herr ist eben für mich mehr. Das ist eine ganze Zeit, die mit ihm hinsinkt, eine Zeit, die wir schon gar nicht mehr recht kennen. Mein Vater hatte mehr Bildung, gewiß. Denn Silber, Juwelen und Gold sind eben vornehmer und feiner als Pferde – aber er war doch noch aus genau demselben Holz geschnitzt. Und deswegen bedeutet vielleicht für mich und für uns der alte Herr so viel.« »Das mag ja sein«, rief Kößling, der heute voll von Widerspruch steckte, und ließ Jettchens Arm los. »Aber endlich ist es doch eine Zeit, die wir hinter uns haben; und wir müßten uns freuen, sie hinter uns zu haben.« »Wissen Sie[[1]], Doktor, als ich so jung war wie Sie[[1]]«, versetzte Jason Gebert sehr langsam, »habe ich das auch gesagt. Aber mit jedem Jahr werde ich nun mehr und mehr zum Gegenteil bekehrt.« &&x Jettchen hatte, als Kößling ihren Arm frei ließ, einen[[Anzahl]] Augenblick unschlüssig gestanden. Jetzt war sie plötzlich auf Onkel Jasons Seite und hatte den untergefaßt. »Ja, komm, Jettchen«, sagte Jason, »wir können nämlich wirklich den Wagen nicht so lange warten lassen.« Und Kößling ging neben den beiden her, ganz verbittert und verbissen, und von dem blauen Himmel über ihm und all dem Licht um ihn, das die Schattenmuster der Zweige über die Wege zeichnete, sah er nichts. Aber da nahm Jettchen wieder seinen Arm und schritt in ihrem breiten, blauen Rock dahin zwischen Jason und Kößling. Sie[[1]] hätte so gern immer alles fortgeräumt, was zwischen ihnen war. Aber kaum daß sie ein Mißverständnis beseitigt hatte, kaum daß sie über eine Rauheit fortgeholfen hatte, da türmten sich schon wieder neue Mißverständnisse auf, da gab es schon wieder neue Rauheiten. Und ohne daß sie es wußte, griff sie zu den falschen Mitteln. So trällerte Jettchen nun vor sich hin und machte damit Kößling, den der helle, frische Tag und die Schönheit der wiedergefundenen Natur gewiß noch heiter und ruhig gestimmt hätten, nur noch mürrischer und verstockter; wie ja ein Mensch in übler Laune nie dadurch fröhlich wird, daß man ihn ermahnt, doch mit den Lustigen lustig zu sein. Draußen knallte schon der Kutscher ungeduldig mit der Peitsche, daß der weite Platz hallte und der Schall, der sich im Schloßhof verfing, von allen Seiten widertönte. Doch da von vornherein der Preis ausgemacht war, beeilte sich der Kutscher heimzukommen; und es zogen die Häuser und Bäume schnell vorbei, die kleinen Häuser mit den Holztreppen hinter den Vorgärten und die grünen und schwarzen Stämme der Linden auf dem blaßblauen Himmel davor – gerade so, als würden sie alle mit einem blaßblauen Band immerfort und unaufhaltsam vorübergezogen. Jason sagte, daß ein allererster Frühlingstag merkwürdig müde mache, weil er noch so gar nichts in sich wäre, sondern nur ein Versprechen und eine Hoffnung ... ganz etwas anderes wie ein Sommertag, der in sich bestehe. Danach aber nahm keiner recht das Wort, und auch Jason wurde schweigsam. Kurz vor dem Steuerhäuschen fuhr Kößling auf. »Kommt jetzt nicht gleich dein Haus, Jettchen?« »Nein«, sagte Jettchen, und ihre großen, blanken Augen waren jetzt sichtbar und in Wahrheit voll von Tränen, »wir sind schon eine ganze Weile daran vorüber.« »Ach – wirklich?« rief Kößling, und er lächelte sehr verlegen über sein erneutes Ungeschick. »Da muß ich also in den nächsten Tagen doch hinausgehen und es suchen.« Aber Jettchen schüttelte und sagte, daß es nur ein ganz alltägliches Häuschen wäre, an dem es ja wirklich nichts zu sehen gäbe. Kößling wollte antworten, daß es ihm doch nur deshalb so lieb wäre, weil sie sich dort gefunden hätten; aber er mochte vor Jason Gebert das nicht aussprechen. So schwieg er; und die Stille legte sich nun drohend und drückend wie ein breiter Reif um die drei. Draußen glitten neben dem Wagen auf dem blauen Band des Himmels die Bäume und Äste, die feinen Zweige und das Buschwerk vorüber und die Eichen, die krampfhaft das alte braune Laub hielten. Die Sonne drang noch ganz tief hinein in die Enge des Dickichts und ließ die Wege, die sich von der Chaussee fortzogen, weithin klar wie helle Sehnen schimmern. Und ehe man's glaubte, tauchten hinten mitten zwischen den sich verjüngenden Baumreihen schon die grauen Säulenpforten des Brandenburger Tors auf, und die schwarzen Umrisse des Viergespanns dort oben, sie wuchsen mehr und mehr gegen die lichtgetränkte Klarheit des Himmels. Kößling wollte noch irgend etwas sagen, um seinen Fehler von vorhin wiedergutzumachen. Aber da hielt der Wagen schon vor dem Tor, und Jason kletterte mühsam heraus und bot Jettchen die Hand. Und Kößling verstand, daß es nicht gewünscht würde, daß er weiter mit den beiden ginge, weil er ja, solange Jettchen noch »Frau Jacoby« war, sich nicht öffentlich mit ihr zeigen dürfe, um sie nicht noch mehr ins Gerede zu bringen. Und Jettchen bat – Jason wiederholte es ihm noch einmal –, Kößling möchte doch am Nachmittag, gegen Abend, wieder ein bißchen zu ihnen herankommen. Und Jettchen lächelte, und Kößling beugte sich über ihre Hand. Jason Gebert winkte ihm noch einmal mit seinem Zylinder und schritt dann neben Jettchen einher durch das Tor, die Linden hinab. Sie[[1]] waren an dem schönen Sonnentage ganz erfüllt von Menschen, die sich freuten, das erstemal seit langer Zeit so ziel- und zwecklos in der schönen Luft auf und nieder zu schlendern, und die glücklich waren, einander auch in diesem neuen Jahr wiederzutreffen. Jason hatte viel Bekannte und wußte Jettchen noch mehr Menschen zu nennen, die so hochstanden, daß er sie nur von Ansehen kannte. »Siehst du, diese kleine Frau da im schwarzen Kleid mit dem Pompadour, die da vorn mit ihrem lebhaften Gang – ich finde immer, sie hat ein Gesicht wie ein Spitzmäuschen –, weißt du auch, daß diese ältliche Dame niemand anders als ›das Kind‹ ist?« Jettchen machte große Augen. Sie[[1]] war ganz erregt. Sie[[1]] wäre am liebsten auf Bettina zugegangen und hätte sie angesprochen. Und wenn sie nur irgendein paar Worte gestottert hätte. Aber da trat ein schlanker alter Herr mit einem starren Geheimratsgesicht, einem Gesicht, wie mit der Blechschere geschnitten, auf die kleine Dame zu, den Kopf ganz tief in den Vatermördern. Er trug einen[[Anzahl]] blauen Frack und ein Ordensband, beugte sich und zog den Zylinder mit der weiten Armbewegung des Hofmannes. Jason lächelte. » Seine Frau war mir lieber. Ich kannte sie noch.« »Wer ist das?« flüsterte Jettchen und nahm den Arm des Onkels, damit sie nicht laut zu sprechen brauchte. »Den kennst du nicht? Den kennt doch sonst jedes Berliner Kind«, sagte Jason leise, fast ohne den Mund zu öffnen. »Es ist Varnhagen.« Bei {{Petit¬pierre}} sah Jason nach dem Barometer. Das stand ganz hoch. »Nach Onkel Eli müßte es also nun Regen geben. Aber vielleicht hat das Quecksilber doch recht, und das Wetter bleibt so.« An der Akademieuhr kam es den beiden, die immer noch Arm in Arm gingen, zum Bewußtsein, daß es schon drei Viertel drei war und daß sie ja zu halb drei das Mittagessen bestellt hatten. Fürsichtig und umständlich richtete Jason noch seine dünne Golduhr, und dann beschleunigten sich ihre Schritte, gingen von der Schloßfreiheit quer über den Schloßplatz hin, unter dem Kurfürstendenkmal entlang, das in der Sonne lag und ganz von Spatzen besetzt war, bogen in die Königstraße ein und waren ganz schnell wieder zu Haus, oben in der Klosterstraße. Von Charlottenburg und von Kößling aber hatten sie kein Wort mehr gesprochen. Zum Abend jedoch wollte es nur widerwillig dunkel werden. Der Himmel strahlte, als ob er sich auf den kommenden Tag freute. Drüben die Götter auf der Balustrade standen schwarz und bewegt wie die Figuren eines Schattenspiels gegen den lichten, goldenen Grund. Und unten von den Straßen, in denen schon im Halbdunkel Kolonnen von Menschen und Wagen und Pferden sich bewegten, stieg es wie ein warmer Dunst auf. Der Abend hatte nämlich nicht mehr die Straßen entvölkert, wie er das noch wenige Tage vorher getan hatte, sondern er schien alle Welt hervorgelockt zu haben, und niemand hatte es eilig heimzukommen. Während in den kalten Tagen jeder dahinstürmte in seiner eigenen Bahn und der Mensch nur Einzelwesen zu sein schien, ging jetzt keine Seele allein. Jeder hatte eine Begleitung. Die kleinen Mädchen gingen zu zweien und dreien, und die Gymnasiasten folgten ihnen in geringen Abständen. Eltern hatten die Kinder an der Hand, und den Handwerker hatte seine Liebste im bunten Umschlagtuch und mit bloßem Kopf von der Arbeit geholt. Die große Zusammengehörigkeit alles Lebens wurde plötzlich wieder verkündet. Jettchen aber saß oben am Fenster in Jasons grünem Zimmer, das noch ganz vom Gold des Abends erfüllt war, und sah über die Dächer fort und in die Straßen hinein, die in ihrem unklaren und lebhaften Durcheinander von Menschen und Fuhrwerken schon halb in der Dämmerung lagen. Licht mochte sie noch nicht anzünden, und zum Lesen oder zu einer Handarbeit war es doch nicht mehr hell genug. Jettchen hatte beides am Nachmittag versucht, und trotzdem das Buch sie gefangennahm – es war ein Buch über Charlotte Stieglitz, das sie sich aus Jasons Bibliothek genommen hatte –, vermochte sie doch nicht dabeizubleiben, und sie wechselte es mit den kleinen Platten einer {{Petits¬points}}-Arbeit, welche die Deckelseite zu einem Notizbüchlein bilden sollte. Aber ehe sie sich recht besann, da hatte sie schon den Vergißmeinnicht rote und den Rosen blaue Blüten gegeben, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Und sie kehrte unwillig zu ihrem Buch zurück, nur um auch das bald auf die Seite zu legen und in den weißen Himmel zu blicken, der sich langsam rötlich und dann golden färbte. &&x Kößling war nicht gekommen, trotzdem Jettchen ihn erwartet hatte, trotzdem Jettchen fühlte, daß sie gerade heute mit ihm sprechen müsse. Es lag immer so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, und er war wieder so seltsam gewesen, so unberührt von allem, was ihre Welt war. Sie[[1]] wäre ja gern gefolgt, wenn er sie geführt hätte; aber er lebte sein Leben ganz für sich, und in all den Monaten jetzt waren sie sich kaum nähergekommen. Sie[[1]] hatte schon oft zu ihm davon sprechen wollen – und sie hätte es heute sicher getan –, sie sehnte sich nach einem guten Wort von Kößling, und sie sehnte sich nach einem freundlichen Gesicht von ihm. Sie[[1]] hätte so gern an ihn geglaubt, und es wurde ihr so furchtbar schwer gemacht. Es gab ganze Stunden am Tage, in denen ihre Gedanken nicht bei ihm waren, und Jettchen erinnerte sich nicht mehr der Zeit, da ihnen ein Nachmittag ohne Gegensätze vergangen wäre und daß ihr Abschied heiterer und glücklicher gewesen wäre als ihre Begrüßung. Sie[[1]] fühlte gewiß auch den Ernst des Lebens und die tausend Beschränkungen; sie war nicht mehr jung genug und nicht unklug genug, um in den Tag hinein zu leben und alles auf die leichte Achsel zu nehmen. Ihr Leben vordem im Hause Onkel Salomons war ja auch einsam und freudlos genug gewesen, sie hatte mit diesen beiden alternden Menschen, die ihre Jugend nicht begriffen, immer das lachende Draußen wie durch Wolken und Schleier gesehen; und nun, da sie das erstemal es gepackt hatte, da sie sich mit einem Ruck frei gemacht hatte – da konnte sie sich nicht zum Lachen zwingen. Und das Glück, das sie sich schaffen wollte, hatte mehr Zweifel und geheime Tränen als ihre verträumte Lässigkeit von ehedem. Wo wäre sie wohl jetzt hingekommen, wie wäre sie umhergestoßen worden, wenn sie nicht an Onkel Jason einen[[Anzahl]] Halt gefunden hätte. Er breitete ihr Teppiche unter jeden Schritt, er sorgte dafür, daß sie nichts hart stieße, er war das einzige Wesen, in dem sie immer wieder Ruhe fand; fern und ihr doch vertraut; kühl und skeptisch – und ihr doch voll Glauben; stolz und spöttisch, zurückhaltend und verschlossen – und für sie ein offenes Buch mit schönen, klaren Lettern. So schossen Jettchens Gedanken hin und her, kamen von Jason Gebert immer wieder zu Kößling, zurückkehrend wie das Schiffchen des Webers, das über die Kette fliegt, von rechts nach links, von links nach rechts und wieder nach links. Und mit der Dämmerung wuchs Jettchens Ungeduld und das Gefühl des Unbefriedigtseins – und Jettchen merkte erst, daß sie weinte, als ihr die Tränen auf die Hand tropften. Und da wollte es der Zufall, daß Jason Gebert, der hinten so lange in seiner Bibliothek Stiche geordnet hatte und nun auch nicht mehr recht etwas sehen konnte, zu Jettchen ins Zimmer kam und daß ihn Jettchen nicht eher bemerkte, als bis er hinter sie getreten war. »Sieh an, Jettchen«, begann er, »ich dachte, du hättest Gesellschaft?« Jettchen sah mit nassen Augen zu Onkel Jason auf. Das Weiße der Augen erschien ganz golden von dem Widerschein des Himmels. Sie[[1]] wollte lächeln, aber es gelang ihr nicht, und ihre Tränen flossen nur stärker. »Nun«, sagte Jason und strich Jettchen verwundert und mitfühlend über das Haar. »Nun? Freudvoll und leidvoll? – Ihr seid doch beide den ganzen Vormittag beisammen gewesen, da ist es doch wahrlich nicht so schlimm, wenn man einmal Nachmittag nicht kommt.« »Nein, das ist auch nicht so schlimm – wenn wir nur vormittags beisammen gewesen wären. Aber wir haben uns ja nur gesehen und haben uns ja nur gesprochen; gesagt haben wir uns nichts – gesagt! Wann sagen wir uns überhaupt etwas?« »Aber Jettchen«, meinte Onkel Jason und zog sich einen[[Anzahl]] Stuhl heran. »Aber Jettchen, du bist vielleicht ungerecht. Weißt du denn, was in einem Menschen vorgeht? Es ist sehr schwer, etwas zu sein, wenn man mit allen Fasern danach ringt, etwas zu werden.« »Ach nein, Onkel Jason«, rief Jettchen plötzlich, und es war, als ob ein Wehr aufgezogen würde, so drängte alles hervor. »Warum bist du etwas? Warum kann ich mit dir sprechen? Warum fühle ich bei jedem Wort von dir, wie du es meinst? Warum weiß ich, wie du über eine Sache denkst, wenn ich dich nur ansehe, Onkel? Warum habe ich Ruhe, wenn du nur bei mir bist? Ich würde ja all das gar nicht vermissen, wenn du nicht wärst, der es mich anders gelehrt hat. Du hast mich ja immer behütet und behandelt, Onkel, als ob ich ein Juwel wäre. Und wenn ich auf mich selbst etwas halte und halten will, dann danke ich das dir, Onkel. Vielleicht wenn ich all das nicht wüßte und all das nicht kennen würde, dann würde ich glauben, das muß so sein, wie es zwischen uns ist. Aber durch dich weiß ich, daß sich Menschen näherkommen können.« Jason Gebert war tief erschrocken. Er hörte gar nicht, was Jettchen noch alles sprach, wie sich das mit Tränen von ihrer Seele löste und fortgespült wurde in langen, heißen Sätzen. Daß sie zweifle und immer wieder zweifle, ob sie beide füreinander bestimmt seien, daß sie sich Kößling gegenüber oft jetzt schon so fremd fühle – und so fern – und daß sie fürchte, daß sie ein ganzes Leben so im Innersten fremd nebeneinander gehen würden. Gewiß, sie liebe ihn trotzdem und freue sich, wenn sie ihn nur erblicke. Aber er, er hätte ihr so hohe Anschauungen von der Gemeinsamkeit zweier Wesen gegeben, daß ihr das bißchen Wohlgefallen aneinander, daß ihr das für ein ganzes Leben nicht genüge ... Jason Gebert war tief erschrocken. Und er hörte gar nicht mehr, was Jettchen sagte. Er fühlte nur in allen Nerven den seltsamen Schauder des Pygmalion, den freudigen Schrecken und das schmerzvolle Grausen, daß diese schöne Statue, an die er die ganze Arbeit seines Lebens gesetzt und die er tausendmal insgeheim um Beseelung und Erhörung angefleht hatte – daß sie nun plötzlich das unerhoffte Geschenk des Lebens erhielt, daß sie zu sprechen begann und daß sie sich zu ihm neigte, Fleisch und Blut wie er, wunschvoll und sehnend wie er. Er fühlte, daß er nur ein Wort zu sagen brauchte, und sie würde ihm alles hingeben, was sie besaß; er fühlte, daß er nur ein Wort zu sagen brauchte, und sie würde den andern aus ihrer Seele löschen. Und die unerfüllte Qual von Jahren, all seine geheimsten Gedanken bekamen Macht über ihn. Was hatte er denn mit all denen draußen zu tun? Warum sollte er denn nach ihnen fragen? Warum sollte er denn vom Glück nicht das kurze Gnadengeschenk nehmen, ohne zu forschen, woher es käme – ohne zu forschen, ob er es verdiene, mit seinen Haaren, die schon grau wurden, und seinen Zügen, die schon scharf wurden, und seinem Herzen, das so müde und zerrieben war durch die tötenden Enttäuschungen von Jahrzehnten. All das strömte im Augenblick auf Jason Gebert ein. Aber dann sah er auf das junge, volle Leben vor sich, kommend und aufsteigend mit der Maßlosigkeit der Wünsche und der Kraft des Sehnens, wie es nur die Jugend kennt, dachte an ihren Weg zur Höhe und an seinen mühseligen Abstieg zur Tiefe. Und da fühlte er seinen Mut und seine Hoffnung dahinschwinden. Es kam eine Scham über ihn, als ob er ein Vertrauen mißbrauche; er kam sich wie ein Verbrecher vor in dem Gedanken, daß er Jugend von Jugend reißen wollte. Und doch war dieses Sehnen so ungestüm in ihm, daß er es nicht niederkämpfen konnte und daß es unter seinen Worten hervorzitterte, die sich mühten, es nicht zu verraten. Jason Gebert sprach davon, daß sie beide doch nun schon so lange sich kennen, gleichsam so lange aufeinander eingelebt wären, daß sie ja einander errieten und daß hundert Fäden vom einen[[Anzahl]] zum andern gingen; und so etwas wäre eben ohne die Zeit und ohne die Jahre unmöglich. Das solle Jettchen auch Kößling gegenüber bedenken, wenn sie ihn lieb hätte. Menschen wären spröde Ware, voll von Ecken und Kanten, und man drücke sich die Hände, wo man sie auch angriffe. Jettchen müsse beherzigen, daß Kößling jetzt gerade steuerlos dahintriebe, von all seinen Zielen abgedrängt, über seine Zukunft ungewiß. Seine Stelle hätte er verloren, einen[[Anzahl]] neuen Wirkungskreis hätte er sich noch nicht erschließen können, ihretwegen sei er gewiß auch voller Bangen und Zweifel, und da wäre es sehr schwer, einen[[Anzahl]] Menschen zu erkennen, wenn er gerade so unter widrigen Winden stände. Wenn ihm das Glück in die Segel bliese, dann zeige, dann entfalte er sich erst. So wäre es nun einmal immer. Er kenne keine Ausnahme. Aber Jettchen fiel Jason ins Wort und sagte, daß sie eine kenne, daß er doch nicht so wäre und daß er sein Wesen immer klar gebe und es nie verleugne. Hundertmal hätte ihr ja Onkel Eli erzählt, wie die ganzen Monate Untersuchungshaft ihm nichts hätten anhaben können. Und jetzt, kaum daß er die schwere Krankheit hinter sich gehabt hätte – wie wäre er da für sie eingetreten, wie wäre er da zu ihr gewesen. Und sie sähe das immer vor sich, und es fordere immer wieder den Vergleich heraus. Ja, wenn sie nicht wüßte, was Gemeinsamkeit zweier Menschen bedeute! Aber durch ihn hätte sie es ja erfahren. So sprach Jettchen in einer verhaltenen Erregung, und diese Erregung hatte plötzlich ihre Tränen getrocknet und ihre Augen strahlend gemacht, hatte ihrem Gesicht Farbe gegeben und ihrem Körper neues Leben, und in ihrem ganzen Wesen sprachen sich, sonderbar vereint, Trotz und Sehnsucht aus. Jason fühlte, daß, wenn er jetzt zu ihr spräche, zu ihr spräche von all den Jahren, in denen er heimlich ihre Schönheit mit seinen Blicken begleitet, in denen er immer Neues ersonnen, was er ihr bringen konnte, nur um sie wiederzusehen, in denen er hundertmal mit ihr hatte reden wollen, ob in ihr nicht auch mehr für ihn lebe als nur ein bißchen Freundschaft – Jason fühlte, daß, wenn er jetzt von allem spräche, sie sich zu ihm neigen würde und daß sie noch heute den andern aus ihrem Herzen reißen würde. &&x Die Dämmerung hatte schon draußen die Fernen gelöscht, war näher und näher gerückt – das Gold des Himmels war verblaßt, war langsam abgeblättert, und der lichte Grund war wieder hindurchgebrochen in mattem Blaugrün, aus dem, wie von Wein gerötet, die halbe Scheibe des Mondes sich emporschob. Eine braune Nacht lag tief unten in den Straßen, und das Zimmer begann nun auch schon im Dunkel hinzuschwinden; selbst die Servanten mit ihren weißen Porzellanen tauchten langsam in die Finsternis hinein, und nur über ihren Scheiben schwamm noch ein mattes Glänzen und ein verstohlenes Blinzeln. Und all das, was Jason sagen wollte, das formte sich doch nicht zu Worten, und er zwang sich, es tief unten in seiner Seele zu verschließen, zwang sich, es in ihr Meer hinabzusenken wie die bösen Geister, die in dem eisernen Topf eingeschlossen waren. Aber sie waren stärker als er, und sie sprengten den Deckel, und sie sprachen aus seinen Küssen, mit denen er plötzlich Jettchens Hand liebkoste, diese schöne, volle, fleischige Hand mit den schlanken, rosigen Fingern, die er so heiß zwischen den seinen fühlte. Jettchen verstand, was diese stummen Huldigungen, diese langen, innigen Berührungen sprachen, daß aus ihnen eine wortlose, jahrelang zurückgedrängte Zuneigung emporloderte, und auch sie wurde überwältigt von der gleichen Sehnsucht. Sie[[1]] legte ihren Arm Onkel Jason um den Nacken, brachte ihre Wange der seinen ganz nahe und berührte mit den schweren dunklen Flechten sein starres graues Haar. Und auch Jettchen bezwang sich, kein Wort zu sprechen, nichts von dem Ausdruck zu verleihen, was in ihr war, gerade als ob ihr Geist von alldem nichts wüßte, solange ihr Mund nichts spräche, und als ob jedes Wort die Schleier zerreißen müßte, die Dunkelheit und Sehnen um die beiden spannte. Dann – damit ihr Mund nicht das unbedachte Wort spräche – senkte ihn Jettchen auf Onkel Jasons hernieder, und sie wußte nicht, wie lange sie so bleiben, ganz eng aneinandergeschmiegt in dem warmen Dunkel. Sie[[1]] bemühten sich, sich keine Rechenschaft zu geben, sie wollten nicht nach Gründen suchen, ihr Mund sollte nichts von dem ausplaudern, was ihre Herzen dachten. Sie[[1]] rissen sich erst erschreckt voneinander und fuhren auf im Dunkel, das nur durch einen[[Anzahl]] grünen Schimmer des frühen Mondes gelichtet war, fuhren erst auf, als die Glocke draußen heftig anschlug. Und Jettchen machte Licht mit zitternden Händen, während Jason hinaushinkte, um zu öffnen. Denn Fräulein Hörtel war auf Einkäufen. Aber während der erste gelbe Schein ihr ins Gesicht schlug, als sie die Glocke hob, legte Jettchen sich die Worte zurecht, mit denen sie Kößling entgegentreten wollte, um ihm zu sagen, daß ihre Gedanken immer bei Onkel Jason sein würden und daß sie erst jetzt sich selbst gefunden hätte. &&x Und alles kam, wie es kommen mußte – gerade so, wie es kommen mußte. Onkel Salomon trat in das Zimmer, im Spenzer, den Hut auf dem Kopf, sehr ernst, mit langen Schritten. Und Jettchen erschrak; denn in der ganzen Zeit war Onkel Salomon nie heraufgekommen, und sie fürchtete schon, irgend etwas Peinliches über Julius oder über ihre Scheidung zu vernehmen. Aber Salomon sagte, daß er nicht ablegen wollte, sie möchten mit zu Onkel Eli kommen, dem ginge es nicht gut. Vielleicht hätte er einen[[Anzahl]] Schlaganfall gehabt. Man wüßte es nicht recht, und die brave Tante Minchen fände sich gar nicht mit ihm zurecht, denn seit vielen Jahrzehnten wäre ihr Mann nie einen[[Anzahl]] Tag im Bett geblieben. Einen[[Anzahl]] Krankenpfleger wage man nicht zu nehmen, weil ihn Onkel Eli doch hinauswerfen würde; und sie wüßten nun gar nicht, was sie tun und anfangen sollten. Ferdinand wollte er jetzt nicht damit behelligen, denn der hätte ja eben genug Trauriges durchgemacht – und deswegen käme er also hierher. Jason aber hatte während der Worte Onkel Salomons schon seine Sachen aus dem Schrank genommen und striegelte wie vor jedem Ausgang sorgfältig den Zylinder. Das vergaß Jason Gebert nie, und wenn man ihm gesagt hätte, daß es zum Schafott ginge. Jettchen sagte, man könne über sie vollkommen verfügen. Salomon aber lachte, als sie nun auch an den Schrank ging und ihren Umhang und ihre Schute herausnahm, und er fragte, ob sie beide in allem in so schöner Eintracht und guter Gemeinschaft lebten wie mit diesem Schrank. Das sähe ja fast aus, als ob sie verheiratet wären. Auf der Treppe erzählte Salomon, daß Stosch über Onkel Eli gesagt hätte, er könne noch Jahre leben, denn er wäre an allen Organen gesund. Aber er wäre doch sehr alt, und man könne nie wissen, was morgen sein werde. Und dann hätte Stosch sich eine ganze Weile mit Tante Minchen unterhalten und Salomon zum Schluß beiseite genommen und den Kopf geschüttelt: Tante Minchen gefiele ihm eigentlich viel weniger als ihr Mann. An der Ecke des Hohen Steinwegs sagte Salomon, daß man ihn entschuldigen müsse, aber er hätte heute abend einen[[Anzahl]] Einkäufer aus Amsterdam zu Tische. Und er ging mit langen Schritten nach der Spandauer Straße und ließ die beiden allein. Doch ehe sie das Wort aneinander richteten, lag schon das kleine Haus mit seinen wenigen hohen Fenstern – es war kaum viel breiter als ein preußischer Grenadier – vor ihnen, und über sein eichenes, geschnitztes Türchen und über die blanken Schlüsselschilder und den blanken Messinggriff huschte der flackernde Schein der Laterne, die an langem Arm drüben von der andern Seite vom Haus winkte. Jason schellte, und Minchen steckte, bevor sie ganz öffnete, ihren alten, mit der Haube geschmückten Kopf durch die Türspalte. »Tag, Jason, Tag, Jettchen; es ist nett, daß ihr mal kommt. Aber wißt ihr, es ist doch ein bißchen naß draußen – geht nicht gleich in die gute Stube.« Nun hätte das brave Minchen ebensogut behaupten können, daß es schneite. Es war gar nicht naß, es war geradezu knochentrocken auf allen Wegen. Aber Jason und Jettchen widersprachen ihr nicht mit einer Silbe. »Sei unbesorgt, Tante«, sagte Jason, »wir wollten nur mal sehen, was dein Mann macht.« »Er liegt doch zu Bette«, versetzte Minchen, »haste nich gehört? Grade jetzt muß er sich hinlegen, und übermorgen wollte ich mit Großreinemachen anfangen lassen. Aber ich mein' schon, es kommt nur alles von dem Knubbel, den er da auf'm Kopf hat.« »Meinst du?« sagte Jason. »Da wollen wir doch mal sehen, wie es Onkel geht.« Elis Zimmer lag oben im ersten Stock, gerade über dem Zimmer mit den vielen goldenen Stühlen, an dessen Fenstern die beiden Alten sonst immer Wache hielten, hüben und drüben. Der alte Eli selbst lag in einem schönen braunen Bett, dessen Kopf und dessen Fußende reich und schwer geschnitzt waren und dessen tiefe Farbe seltsam und blank unter dem Schein der hohen weißen Kerzen flimmerte, die auf ihren gedrehten Zinnleuchtern steckten und vom Tisch herüber das ganze Zimmer mit einem dämmrigen Gold erfüllten. Und wer nun da meinte, daß der alte Eli einen[[Anzahl]] besonders leidenden Ausdruck gehabt hätte, der wäre in einem Irrtum befangen gewesen. Nein, halb saß er, halb lag er, noch ganz stattlich in seiner breiten Gestalt, zwischen einem mächtigen Lager von weißen Daunenkissen und Daunendecken, eine weiße Zipfelmütze auf dem Kopf und ein Hemd über der Brust mit sehr reichen, gekrausten Besätzen. Sein Kopf war rot, als hätte Onkel Eli Wein getrunken, und seine hellbraunen Augen, die vom Alter seltsam graue Ringe bekommen hatten, blinzelten ganz munter. »Na«, sagte er – er sprach ein wenig, aber nur ein ganz klein wenig schwer –, »da seid ihr doch. Ich seh schon, je später der Tag, je schöner die Gäste. Hast[[Besitz]] du so was schon erlebt, Jason? Heute früh will ich aufstehn – achtzig Jahre bin ich jeden lieben Morgen aufgestanden –, mit einmal geht's nicht mehr.« »Morgen wirst du gewiß schon wieder aufstehn können«, sagte Jettchen und reichte dem alten Herrn die Hand. Eli schüttelte sehr bedächtig. »Ich werde dir was sagen, mei Tochter, man kann nie wissen. Mit dem Sterben ist die Sache geradeso wie mit de Post: e Billet kriegt ein jeder; und wenn einem die Schnellpost nicht mitnimmt und die Extrapost auch nicht – de Fahrpost muß einen[[Anzahl]] mitnehmen. Wer kann das wissen, vielleicht hält sie bei mir schon unten vor de Tür.« »Unsinn, Onkel«, rief Jason und bemühte sich zu lachen, »wir kommen doch eben rauf! Ich kann dir versichern, sie war nicht da.« »So sagt ihr«, meinte Onkel Eli, »wer weiß, was der da oben zu de Sache sagt. Aber entschuldige mal – wie heißt es doch? Man soll im Hause von e Gehängten nicht vom Strick reden. Gib mir mal de Mürbekuchchen rüber, Jettchen!« Und richtig, da stand zwischen den Lichtern ein Meißner Teller mit einem ganzen Stapel von Mürbekuchen. Jettchen hatte ihn noch gar nicht bemerkt. »Na«, rief Jason, und jetzt lachte er wirklich, »an dem Mürbekuchen sehe ich, daß dir nichts fehlt, Onkel Eli.« »Nu, der Stosch hat mir eben anbefohlen, ich soll nur leichte Sachen essen. Und sind denn Mürbekuchen etwa schwer?« Jetzt kam auch das alte Tante Minchen von unten herauf und machte sich mit der Putzschere an den Lichten zu schaffen. Und Jettchen zog Minchen in den Winkel und sagte ihr, daß doch des Nachts jemand zur Bedienung dasein müsse und daß ihr das doch nicht soviel ausmache wie Tante Minchen und daß sie ganz gern dableiben würde. Tante Minchen tat, als ob sie Jettchen eine Gnade erwiese, wenn sie ihr gestattete, bei ihnen zu bleiben. Aber Eli, der vom Bett aus den Handel gehört hatte, trotzdem er recht leise geführt wurde, rief, daß er sich sehr freuen würde, wenn Jettchen seiner Goldmine ein bißchen zur Hand ginge. Denn man möge nun reden, was man wolle, e Jüngling wäre se doch nicht mehr. Jason sagte, daß so auch seine Meinung wäre; ja, daß, wenn er Tante Minchen betrachte, er daran zweifle, ob sie jemals ein Jüngling gewesen sei. Und Minchen zeterte mit ihrem schiefen Mund, Stosch hätte gesagt, Eli dürfe nicht reden. Aber Eli wollte davon nichts hören. Er ließe sich nich von de Doktors den Mund verbieten ... und man red't, solange man reden kann. Und Eli tat sich etwas darauf zugute, daß er recht gehabt hätte. Er hätte immer gesagt, daß Ledder e gute Branche wäre. Das litauische Pferdchen hätte er zwar von Anfang an nicht besehen können, aber die Militärlieferungen hätte es jetzt doch bekommen. Er hätte es von Ferdinand heute gehört. Und Minchens Minna machte Jettchen ein kleines Zimmerchen zurecht, das nicht nach der Straße hinausging, sondern nach dem Hof, und das ganz eng und schmal war und voll von dunklen, altmodischen Möbeln und in dessen Mitte ein vielfach bestoßenes, vielfach geschwärztes, einst vergoldetes Bett stand, mit Kufen und Schweifungen wie ein Herrschaftsschlitten. Onkel Jason verabschiedete sich von Jettchen, sah ihr dabei fest in die Augen und sagte, er hoffe, daß sie bald zurückkehre. Minchen fuhr bei alledem herum wie ein Spitzmäuschen im Haferfeld, fing hunderterlei an, ohne etwas zu Ende zu führen, stellte das Waschzeug auf den Tisch anstatt auf die Waschkommode und schimpfte im nächsten Augenblick mit der tauben Minna, wo sie so etwas vor sich gesehen hätte, daß man e Waschservice auf den guten, neupolierten Mahagonitisch stellte? Vielleicht in Russisch-Polen, in Berlin täte man das nicht. Und damit tat Minchen der tauben Minna bitter Unrecht, denn erstens hatte sie ja das Waschservice gar nicht auf den Tisch gestellt, und zweitens stammte Minchens taube Minna aus Zehdenick, das selbst in Preußens schlimmsten Tagen niemals zu Russisch-Polen gehört hatte. &&x Und das Leben, dieser unversiegbare Strom, floß weiter mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Wellenschlägen, die sich in Onkel Elis Hause zu einer solchen Stetigkeit und solchen Ruhe gemildert hatten, daß es Jettchen kaum noch verspürte, wie ein Tag in den andern griff, kaum noch verspürte, ob es nun Sonntag oder Werktag war. Denn Onkel Eli hatte wieder einmal recht behalten, wenn er es gleich gesagt hatte, daß die kleine, schiefe Tante Minchen von Tag zu Tag komischer wurde. Ja wirklich, sie konnte schon gar nicht mehr recht ihre fünf Sinne beieinanderhalten, und von drei Dingen vergaß sie immer zwei. Sie[[1]] tat durch Stunden nicht den Mund auf; und soviel sie ihr alter Ehegatte auch fragte, sie hatte dann nicht einmal eine Antwort für ihn. Wenn sie aber plötzlich ins Reden kam, so schwatzte sie unaufhörlich, ohne Punkt und Komma, verhedderte und verhakte die Sätze zu gordischen Knoten und gelangte vom Hundertsten zum Tausendsten, so daß es überhaupt kein Herausfinden mehr gab. Nicht daß sie etwa ungereimtes Zeug sprach – nein, jedes an sich hatte immer noch Hand und Fuß –, nur wie sie von einem Gegenstand plötzlich gerade auf den andern kam, das lag völlig außerhalb aller Erkenntnis und aller Mutmaßung. Aber liegt nicht selbst so vieles, das uns ganz durchsichtig erscheint, da draußen in jenen dunklen Reichen? Und da so in Minchens alter Wirtschaft, die vordem durch lange Jahrzehnte wundervoll regelmäßig gegangen war wie das Werk einer Kunstuhr, das, einmal aufgezogen, auf Monate hinaus nicht nur Viertelstunden und Stunden anzeigt, sondern selbst den Stand des Mondes verkündet, die Apostel um zwölf Uhr über ein Brückchen führt und um sechs Uhr den Hahn krähen läßt – da es so in Minchens alter Wirtschaft plötzlich angefangen hatte, drunter und drüber zu gehen, so hatte Jettchen wohl oder übel, sollten die alten Leute sich überhaupt noch zurechtfinden, dableiben müssen. Erst tat sie es für ein paar Tage, dann für ein paar Wochen und endlich für unbestimmte Zeit. Onkel Eli wegen hätte Jettchen nun nicht gerade bei den alten Leuten bleiben müssen, denn nach drei Tagen erschien er unvermutet des Mittags unten in dem Zimmer mit den goldenen Stühlen. Er war, während niemand bei ihm war, aufgestanden, hatte sich ganz allein angezogen, hatte sich sogar für Jettchen seine Perücke neu gepudert, war die Treppe heruntergetappt, und nun benahm er sich, als ob schon gar nichts gewesen wäre. Er setzte sich gleich wieder auf seinen Sessel, der oben wie ein goldener Thron auf dem Fenstertritt prangte, suchte seine Hornbrille hervor und schimpfte weidlich, weil man ihm die letzten Nummern vom »Beobachter an der Spree« nicht aufgehoben hatte: er wüßte doch nun gar nicht, was in der Welt vorginge; oder ob sie vielleicht meinten, daß er – wie der König – einen[[Anzahl]] eigenen Telegraphen hätte. Minchen schrie Zeter und Wehe, und Stosch wollte zuerst den Alten auch wieder ins Bett stecken, aber der sagte, es käme doch darauf an, wie er sich fühle, und nicht, wie so e Doktor meinte, daß er sich »nach seine Wissenschaft« fühlen dürfe. Aber ganz wie vordem war nun der alte Eli doch nicht; er wollte nicht mehr recht vor die Tür gehen, das strengte ihn an. Und sein Posten an der Ecke des Hohen Steinwegs und der Königstraße, den Onkel Eli lange Jahre unermüdlich bei Regen und Sonnenschein innegehabt hatte, den bezog er schon gar nicht mehr. Und es hätten sich die größten Dinge hier abspielen können, er wäre von ihnen völlig ununterrichtet geblieben, und selbst wenn bei den Frankfurter Wagen holländische Füchse eingestellt worden wären, er hätte es nicht erfahren. Höchstens, daß der alte Onkel Eli mal, wenn die Sonne recht hell schien, einen[[Anzahl]] Schritt vors Haus ging und sehnsüchtig nach der Königstraße hinübersah, in der Kutschen und Chaisen, Wagen und Karren vorüberzogen, unruhevoll und hüpfend, wie die bunten Bilder einer Zauberlaterne. Aber auch das machte dem alten Herrn Beschwer. Und das Lesen strengte ihn an, und das Erzählen strengte ihn an, und es kam vor, daß er mitten im Satz einschlief – deutlich schnarchend –, nur um nach ein paar Minuten aufzuwachen und gleich wieder sein Thema bei den letzten Worten anzufangen. Jettchen mußte ihm nun täglich aus dem »Beobachter« vorlesen, alles, von der ersten bis zur letzten Zeile. Und der alte Eli knüpfte dann langwierige Auseinandersetzungen daran, ob de Geschichte wahr wäre, daß in {{Ken¬tucky}} e ganz einfacher Farmer so täuschend das Krähen des Hahnes nachmachen könne, daß deswegen de Sonne sogar frieher aufgehe. Aber mitten in den Argumenten dafür und dawider senkte der alte Eli von neuem den weißgepuderten Kopf und nickte ein ganz klein wenig ein. Doch nur um dann aufzufahren und sich bei Jettchen zu entschuldigen, was er gegen seinen Gast für ein schlechter Wirt sei. Überhaupt war der alte Eli gegen Jettchen sehr zuvorkommend, und er hätte sich lieber füsilieren lassen, als daß er es gewagt hätte, etwa zuerst durch eine Tür zu gehen oder um ein Uhr beim Mittagessen früher den Suppenlöffel in die Hand zu nehmen, als Jettchen, die servierte, es tat. Ja, er ging nicht einmal in Morgenschuhen in ihrer Gegenwart, sondern war von früh bis spät für Jettchen gestiefelt und gespornt. Und während er sonst für wochentags im Hause eine alte, fuchsige Perücke getragen hatte, sorgte er jetzt immer, daß er schön weiß und wohlgepudert einherschritt. Das alte Minchen aber, statt sich dessen zu freuen, beschwerte sich insgeheim bei Onkel Salomon, daß Jettchen ihr ihren Eli abspenstig mache, mit dem sie doch jetzt über siebenundvierzig Jahre wirklich gut und glücklich gelebt hätte. Denn zwischen Eli und Minchen – das muß man sagen – gab es immer Häkeleien. Minchen verstand sich auf Blumen wie nur ein Gärtner, und sie war stolz auf ihre alten Kamelien, die sie goß und nicht goß, mit Pottasche bestreute, mit Tabaklauge abwusch, abstaubte und besprengte, beschnitt und in Watte wickelte, erst kalt und dann warm, erst dunkel und dann hell stellte und die ihr die Sorgfalt jetzt im ersten Frühjahr mit überreichlichen Blüten lohnten. Und nun stellte das gute Minchen die weißen Porzellantöpfe mit den goldenen Masken auf die breiten Fensterborde, mitten hinein in die hohen, dunklen Efeubogen, die rechts und links ein jedes Fenster mit ihrem länglichen Kranzgewinde umschlossen. Und die schönste, blumenreichste Seite kehrte das gute Minchen nach außen, nach der Straße hin; vielleicht weniger damit die Blüten und Knospen Sonne bekämen, als damit die Nachbarn sie sähen, und damit die Leute, die draußen vorbeigingen, stehenblieben. Aber Eli war nicht dafür. »Was heißt das?« sagte er. »Ich soll doch was von meine[[Besitz]] Blumen haben und nich de Leutchen. Was wackelste dazu mit 'n Kopf, Minchen? Bin ich e Königliche Orangerie?« Und dann stand Eli auf und drehte alle Porzellantöpfe um, daß die Blumen ins Zimmer sahen. Und wenn der alte Eli eine Weile saß und irgend etwas zur Hand genommen hatte, so stand ganz still Minchen in ihrem violetten Morgenrock von ihrem goldenen Stuhl auf und drehte mit ihren alten, murkligen Händen die Blumen wieder so herum, daß sie auf die Straße sahen. Doch wenn dann Minchen wieder ihre Stickerei genommen hatte, dann stand der alte Eli auf und drehte knurrend die Töpfe wieder nach dem Zimmer zu. So was von e Frauenzimmer wär ihm doch in seinem langen Leben noch nich vorgekommen! So ging das vielleicht sechsmal am Vormittag. Eli knurrte, und Minchen zeterte. Aber am Nachmittag waren sie beide doch wieder als sehr gute Freunde ein Herz und eine Seele. Und sie legten zusammen auf der braunen Tischplatte unermüdlich Patience, so lange, bis es aufging – und wenn es drei Stunden dauerte. Aber noch einen[[Anzahl]] zweiten immerwährenden Streitpunkt gab es zwischen den beiden Alten – nämlich {{Chéri}}, Minchens Kanarienvogel, der so klein und gelbgrau wie sie selbst war und zudem noch genau wie seine Dame ein weißes Häubchen trug; auch mit ihm war Eli nicht recht befreundet. Und wer den Hund schlägt, schlägt den Herrn. Solange {{Chéri}} im Bauer sprang, hatte der alte Eli nichts gegen ihn einzuwenden, und er flötete ihm sogar, wenn er guter Laune war, das Menuett aus »Don Juan« – immer nur das Menuett aus »Don Juan« vor; und wenn {{Chéri}} in den Efeugeländern am Fenster umherkletterte und an einem Blatt zerrte oder ein Hälmchen Rübsamen knusperte, dann sah der alte Eli noch ganz friedlich zu. Aber sowie {{Chéri}} auf die Kommode ging und sich, wie er es so gern tat, der Porzellankuh mitten auf die Nase setzte – dann war Polen offen. Und der alte Eli eröffnete, soviel Minchen auch jammern mochte, mit dem Staubwedel eine erfolgreiche Jagd, die immer damit endete, daß {{Chéri}}, nachdem er sich zuerst auf den Bronzereifen der Krone geflüchtet hatte und von dort aus deutlich in der Richtung nach dem Mahagonitisch hin seinen Unmut über diese Behandlung kundgegeben hatte, piepsend und ärgerlich in das Bauer zurückkehrte und hier noch eine ganze Weile fauchte, quietschte und nörgelte, daß er so etwas nicht verdient hätte. Bis das alte Minchen das wieder nicht mehr ansehen konnte und, um {{Chéri}} milde zu stimmen, ein Stückchen Zucker in den schmalen, zahnlosen Mund nahm und das Bauer öffnete; und {{Chéri}} ließ sich nun auf Minchens Busen nieder und erletzte sich an der süßen Gabe. Jettchen aber wußte wirklich nicht, was sie mehr bewundern sollte: wie zahm das Tierchen war, oder wie geschickt es war, daß es, von einem Fuß auf den anderen hüpfend, doch immer von neuem auf Tante Minchens Busen Halt fand, ohne ins Bodenlose hinabzugleiten. Aber nach einer halben Stunde saß dann {{Chéri}} von neuem der Porzellankuh mitten auf der Nase; und wenn Eli nicht gerade schlief, was ja auch vorkam, dann hub die Jagd von vorne an, und {{Chéri}} mußte nur zu bald wieder mit einem Stückchen Zucker aus Minchens Munde getröstet werden. &&x Vielleicht hätte ja Jettchen doch wieder zu Onkel Jason zurückgekonnt. Sie[[1]] wünschte auch sehr, es zu tun, sie sehnte sich aus der Enge ihres kleinen Hofzimmers zurück nach dem grünen Zimmer mit den koketten Bildern und den blanken Möbeln. Und sie fühlte Heimweh nach dem spitzigen Geplauder Onkel Jasons und nach all den tausend scharmanten Dingen, mit denen er seine Gestalt und sein Leben einzuhegen wußte. Hier zu den alten Leuten hatte sich auch nicht ein Hauch von alledem geflüchtet; alle Gedanken und Worte klebten am Alltäglichen, und nur ganz selten, wenn der alte Eli seinen guten Tag hatte, wehte so etwas wie ein Lichtschein von Geist und Grazie darüber hin. Aber Eli hatte nicht viel gute Tage mehr. Und doch hielt Jettchen wieder eine unbestimmte Furcht ab, auch nur den Wunsch auszusprechen, zu Onkel Jason zurückzukehren – ja, sie erschrak selbst vor dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Sie[[1]] wußte nicht, wie sie ihm nun entgegentreten sollte. Denn sie fühlte, daß sie ihre alte Unbefangenheit ihm gegenüber verloren hatte. Hundertmal sagte sie sich ja, daß aus allen Worten Onkel Jasons nicht mehr als ein zärtliches Mitleid gesprochen hätte, wie es doch nur die Freundschaft und nicht wie es die Liebe füreinander hegt. Aber vom Grunde ihrer Seele stieg dabei immer wieder so etwas wie eine angstvolle Scheu auf, ein Zurückweichen, ein Hinneigen, eine Bedrängnis, die ferne, unklare Empfindung, daß Onkel Jason nur ein Wort zu sagen brauche, und sie würde ihm all das aufgeben, was sie mühsam Schritt für Schritt sich jetzt erkämpfte. Das ließ sie Furcht empfinden, Onkel Jason wiederzusehen. Und doch sagte sich Jettchen in den ersten schlaflosen Nächten in ihrem dumpfen Zimmer, daß sie wieder zu Onkel Jason müsse, weil sie ja nur dort mit Kößling zusammentreffen könne; denn von ihm entfernt und abgeschnitten – da waren mit einem Male alle Schatten geschwunden, und alles Rauhe war geglättet, da gab es nichts mehr von dem, was sie trennte und schied. Jettchen hatte nun eitel Sehnsucht nach Kößling, nach seiner Gestalt, seinem Gesicht, seinen Händen, seinen Küssen, nach dem Klang seiner Stimme, der etwas hell war und ganz leicht gläsern. Nicht ihr Geist und Sinn, aber ihr Herz schien alles vergessen zu haben, schien all der tausend Hacheln und Dornen, die sie bei jeder Begegnung ritzten, sich nicht mehr zu erinnern und all der schweren Zweifel, die sie bedrängten, wenn sie an ihre gemeinsame Zukunft dachte. Jettchen konnte sich aber immer wieder nicht entschließen, auch nur davon zu beginnen, daß sie zu Onkel Jason zurück wollte; und dann war ja auch Onkel Salomon eigens noch einmal zu ihr gekommen, um sie zu bitten, daß sie doch bei den alten Leuten bliebe – die kurze Zeit, die sie noch bei ihnen sein könnte. Und Salomon hatte das erstemal ganz ruhig mit Jettchen über ihre Scheidung gesprochen: daß sie jetzt wenigstens in einer Beziehung schon Klarheit hätten und daß sie nur ihm vertrauen solle – ehe der Sommer vorbei sei, würde ihr schon alles nach Wunsch gegangen sein, und sie könnte ja dann tun und lassen, was sie wolle. Und Tante Rikchen und Tante Hannchen waren auch gleich in den ersten Tagen gekommen, nach den alten Leuten zu sehen, und sie hatten Jettchen belobt, daß sie zu Eli und Minchen gegangen war. Hannchen hatte versucht, von ihrem Neffen Julius anzufangen, der doch jetzt das Glück mit den Militärlieferungen gehabt hätte; aber Rikchen hatte sie unterbrochen und mit einem wehleidigen Augenaufschlag gesagt, daß das gewiß Jettchen jetzt gar nicht interessiere. Selbst der Herr Kommissionsrat ließ sich blicken, etwas grauer denn sonst, aber ganz der alte: jovial, schulterklopfend, küssend und schwadronierend wie immer. Nur in geheimen Augenblicken huschte so etwas wie der Schatten eines bitteren Kummers über sein scharfes Gesicht. Denn ein Vater – und sei er selbst aus grobem Holz wie Ferdinand Gebert – begräbt ja nicht wie eine Mutter allein das Kind, sondern, was herber ist und tieferen Kummer gibt, auch seinen Ehrgeiz und seine Hoffnungen mit ihm. Aber Ferdinand Gebert war doch klug genug, um sich richtig zu sagen, daß für das Leben und für das Geschäft Kummer eine Ware ist, die niemand gern kaufen will, und daß man am besten tut, sie in irgendeinen abgelegenen Winkel zu verstauen, wo sie nicht so leicht in die Augen fällt. Und dann waren das alte Fräulein Hörtel und Tante Rikchens Mädchen gekommen, ganz außer Atem, mit Körben voll von Kleidern und Röcken und Wäsche; und Jettchen hatte nun alles wieder von neuem eingeräumt in einen[[Anzahl]] mächtigen braunschwarzen, eichenen Schrank, dessen Türen so schwer und so knarrend aufgingen wie Stadttore, dessen Schlüssel einem Morgenstern glich und der selbst mit seinen mächtigen Wüten und seiner schweren Bekrönung so breit und hoch war wie eine Ritterburg. Doch als eben die ganze Herrlichkeit in dieser Ritterburg verschwunden war, da war Onkel Jason selbst erschienen, in neuer Frühjahrstracht, sich tief vor Jettchen neigend, mit seinem sarkastischen Lächeln, wieder ganz Förmlichkeit wie vordem – und Jettchen war es nicht schwergefallen, ihre Unbefangenheit wiederzufinden. Den letzten Abend erwähnte Jason nicht; und auch Jettchen hütete sich, darauf zurückzukommen. Jason zog sich einen[[Anzahl]] Stuhl heran und begann zu plaudern wie ehedem: Was es draußen auf der Straße gäbe, was die Leute sprächen, was die Zeitungen brächten – er erzählte vom König und daß es ihm jetzt ernstlich schlecht ginge. Er läge im Fieber, hustete, schlafe nicht, sei unruhig, voller Angst vor dem Tode und gepeinigt von den Leiden des Alters. Wo man hinhöre auf der Straße ... immer höre man nur das eine Gespräch, wie lange er noch leben würde, was dann wäre ... ob es ihm schlechter oder besser ginge. Die Geheimräte stelzten über die Linden mit Gesichtern wie Ärzte, die von einem Konsilium kämen, nun alles wüßten und doch nichts sagten. Viele gingen auch vors Schloß und fragten die Lakaien aus, die aus dem Tor kamen. Und Jettchen erzählte Jason von den alten Leuten: daß Minchen tagelang so merkwürdig wäre und daß Onkel Eli immer einschliefe, wenn sie ihm aus dem »Beobachter« vorlese. Aber Jason meinte, daß man daraus gar nichts ersehen könnte, er wäre zwar nicht achtzig Jahre, aber er würde auch einschlafen, wenn ihm Jettchen die Liebe erwiese, ihm etwas aus dem »Beobachter« vorzulesen. Und dann sprach Jason Gebert von Heines neuem Buch über Börne. Jettchen müsse es kennenlernen, er würde es ihr einmal bringen. Wie er es das erstemal gelesen habe, da habe er an Heine verzweifeln wollen, wie er nur das angreifen könne, sich von dem abkehren könne, was er durch Jahrzehnte als erster verteidigt habe. Er habe gar nicht begreifen wollen, warum dieser Mensch sich nur all die neuen Feinde schüfe, daß er jetzt bald ganz allein stünde. Aber dann wäre er – er habe ja nun Zeit zum Lesen – noch einmal über das Buch gekommen, und er wäre ganz gefangen worden von diesem wundervollen Schlußbild der fliehenden und frierenden, der trauernden und wehklagenden Göttinnen im winterlichen Walde. Er habe plötzlich gefühlt, daß Heine dieses ganze Buch nicht anders schreiben konnte, daß es gleichsam eine Verteidigung seines Selbst ist gegen die rohen Mächte des öffentlichen Lebens, in die er immer wieder mit jedem neuen Tag hineingezerrt werde und die ihm doch so fern und so fremd und so gleichgültig waren. Was hätte eigentlich Heinrich Heine mit Königen und Völkern, mit Polen, Preußen und Franzosen zu tun? Börne war der Kursmakler an der Börse der Freiheit, und für ihn bedeutete es das Leben zu wissen, wie hoch die Papiere seines Marktes in Berlin oder in Hannover, in Paris oder in Warschau gerade gehandelt wurden. Aber für einen[[Anzahl]] Heinrich Heine muß es eben höhere und andere Werte geben, und endlich sind für ihn, für sein Selbst, der Klang eines Reimes, der Schritt einer Grisette und eine Stunde im {{Bois}} tiefere Wahrheiten und innigere Erlebnisse. Das müsse man sich immer beim Lesen des Buches vergegenwärtigen. Ein Renegat ist Heinrich Heine ja deshalb doch nicht, und sein Herz wird immer auf der Seite der Freiheit sein, auch wenn er die Schönheit und das Leben mehr liebt. Das trenne ihn ja gerade von Börne, der ein Schlachtengeist gewesen ist und ein Feldherr der Feder, ein Napoleon ohne Truppen, und der doch niemals wie Heine in trunkener Ergriffenheit der Schönheit den Mantelsaum geküßt hätte – ja, der immer achtlos an ihr vorübergegangen ist, wo er ihr auch begegnete. Nur das Theater hätte ihn ja gereizt, Spiel und Gegenspiel, Zug und Gegenzug, das Schachspiel der Bühne, die literarische Politik. Aber Jettchen würde das Buch ja lesen. Doch vorher solle sie noch dieses Buch hier über Charlotte Stieglitz zu Ende lesen, das er, als sie fort war, auf ihrem Tisch gefunden habe. »Ach ja, Onkel«, rief Jettchen, »ich wollte dich schon darum bitten, daß du es mir brächtest.« Und Jettchen möge es von ihm annehmen, fuhr Jason Gebert fort, indem er sich vom Stuhl erhob, möge es annehmen, damit sie später einmal an ihre gemeinsame Zeit ein greifbares Stück Erinnerung hätte. &&x Jason Gebert hatte sich vorgenommen, das ganz ruhig und leichthin und spöttisch zu sagen, und jetzt sagte er es doch, den Kopf halb abgewandt, mit dünnen Lippen und mit verschleierter, hoher Stimme. Jettchen, die sich erhoben hatte, griff nach dem grauen Deckel des Buches – und auch sie wandte den Kopf fort, damit Onkel Jason nicht ihre nassen Augen sähe bei ihren Worten, daß es doch dessen wirklich nicht bedurft hätte, um ihr Gedächtnis an ihre gemeinsame Zeit – sie wiederholte Jasons Sprechweise – wachzuhalten. Doch ehe sich Jettchen noch recht besann, hörte sie schon Onkel Jasons schweren, hinkenden Schritt draußen auf der Stiege und hörte Jason Gebert, wie er unten von Tante Minchen Abschied nahm; und Jettchen sank auf einen[[Anzahl]] Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Aber dann ... es war ein heller Tag draußen, und die weiße Sonne des ersten Frühlings lag wie Silber über den schrägen Ziegeldächern der Hofhäuser, und die Sperlinge, die unten an der Regentonne ihr Bad nahmen, lärmten sehr um den Vorrang des besten Platzes, während von unten aus der Küche dazwischen noch der unmelodische Gesang der tauben Minna ertönte und das Klirren des Geschirrs, das sie beim Abwaschen wild durcheinanderstieß, sich hineinmischte ... aber dann zog mit der frischen Luft durch das offene Fenster doch so eine ganze Welle von Leben in Jettchens Zimmer, und die machte, daß Jettchen mit Schluchzen aufhörte und das Buch zur Hand nahm. Aber als sie es aufschlug, um die Stelle zu suchen, an der sie zuletzt gehalten hatte, da sah sie, daß Onkel Jason etwas auf das Titelblatt geschrieben hatte, hineingeschrieben hatte in einen[[Anzahl]] dünnen Kranz grüner Efeublätter. Und Jettchen beugte sich darüber und las es langsam und halblaut vor sich hin, las es einmal und wieder, ohne zu verweilen. »Siehst in dem späten Sommer du dem Spiele zweier Falter zu, siehst sie mit Flügeln, bunten, weichen, um Rosenbusch und Hecke streichen und dann vom Beete sich erheben und kurze Frist zusammen schweben, sich meiden, eh sie sich erkoren, und scheiden, eh sie sich verloren – dann denk, daß über ungewissen und abgrundtiefen Finsternissen auch unsere Seelen flatternd hingen gleich jenen beiden Schmetterlingen: sich meidend, eh sie sich erkoren, und scheidend, eh sie sich verloren.« Jettchen las und las diese barocken Schriftzüge, diese Verse Onkel Jasons so lange, bis sie vor Tränen sie nicht mehr sehen konnte, während doch ihr Mund und ihr Herz sie immer noch wiederholten ... Und am Nachmittag kam ein Brief – die taube Minna brachte ihn Jettchen, während sie unten bei den alten Leuten war. Jettchen warf nur einen[[Anzahl]] Blick auf die Adresse, wurde rot und steckte den Brief fort. Tante Minchen aber saß tief über ihre Arbeit gebeugt, und Eli, der alte Eli, hatte den Kopf auf der Seite und den Mund halb offen. Alle Kamelien prangten in den Efeubogen nach der Straße hin, und {{Chéri}} blinzelte von der Porzellankuh aus mißtrauisch zu seinem Feind hinüber, ob das Schlafen wohl doch etwa eine Kriegslist von ihm wäre. – Es war ganz still im Zimmer, als die taube Minna herausgetrampelt war. Und Minchen, klein, schief und zusammengesunken, die Haube auf dem einen[[Anzahl]] Ohr, stichelte ohne Aufhören. Aber eine Frau kann gut und gern siebenundsiebzig Jahre alt sein, und ihre Sinne können schon ein bißchen in Unordnung gekommen sein, und man kann meinen[[Meinung]], daß sie mit ihren paar kümmerlichen Gedanken ganz woanders ist; ja, sie braucht nicht einmal etwas gehört oder gesehen zu haben – und sie wird doch immer wissen, um was es sich dreht. Und ihre Nerven, sonst schon etwas stumpf, und ihr Geist, sonst schon so verbraucht, werden immer noch da alles fühlen und erraten, wo der Mann achtlos und grob vorübergeht. So begann auch die alte Tante Minchen plötzlich scheinbar ganz unvermittelt. »Jettche«, begann sie, »hör mal, mei Tochter, eins muß ich dir aber doch sagen: Hierher kommen und dich besuchen darf er nich. Meinethalben könnt er's ja – ich hab gewiß nichts dagegen –, aber Salomons wegen mecht ich's nich gern erlauben.« Jettchen wurde rot. »Nanu«, fuhr Minchen fort, »du brauchst nich rot zu werden. Die Sache ist doch nich so schlimm. Ich will dir e Vorschlag zur Güte machen: Laß ihn doch am Abend draußen e bißche ans Fenster kommen. Denn weißte, Jettchen, gesehen darfste doch auch nich mit ihm werden. Aber wenn de das schon gar nich magst – schön, gehn wir beide mal nächstens des Abends e bißchen weg, und denn wer'n wir's schon so machen, daß wir den jungen Mann irgendwie treffen.« Aber Eli, der auf seinem Thron eingenickt war, erwachte gerade zur rechten Zeit, um wenigstens die letzten Worte zu hören. »Was heißt das, Minchen«, rief er, »bei mir wird nich des Abends weggegangen! Was e anständige Frau is, die gehört um neun Uhr ins Bett.« Aber da gewahrte der alte Eli gerade den Kanarienvogel, der immer noch friedlich der Porzellankuh auf der Nase saß, und sofort begann er Jagd auf ihn zu machen. Und als dann spät am Abend – die beiden Alten hatten sich schon längst zur Ruhe begeben – Jettchen noch bei offenem Fenster, durch das die kühle Luft hereinstrich und das Licht flackern machte ... als da Jettchen Kößlings Brief zum fünftenmal las, denn er war reich an verliebten Worten und voller Sehnsucht und Hoffnung, sprach von Aussichten und kleinen Erfolgen – da hörte sie mit einemmal nebenan es sich rappeln. Dann hörte sie Tante Minchen aufschreien; der Atem stockte ihr vor Schrecken, und sie stürzte zur Tür. Aber da war auch gleich wieder alles still. Jettchen, die sich an die Türfüllung drückte, hörte ganz deutlich den alten Eli friedsam schnarchen, während das brave Minchen, das längst wieder ihr Ehebett neben ihrem Gemahl bezogen hatte, immer noch leise und vernehmlich vor sich hin schimpfte. Aber am nächsten Morgen – der Tag war nicht so früh – kam schon Minchen in Jettchens Zimmer, nur mit dem Notdürftigsten auf ihrem notdürftigen Körperlein angetan, um ihr das Ereignis zu erzählen. »So e Mann soll man haben«, rief sie noch in der Tür, »immer komischer wird er! Mit einmal gestern nacht – ich denke, mir soll der Verstand stillstehn – faßte er doch immer mit de Hand rieber nach mein Bett. ›Um Himmels willen, was is dir, Eli!‹ schrei ich. Und was sagt er? ›Nu‹, meint er ganz seelenruhig, ›weißte, Minchen, du hast doch heut mittag gesagt, daß de weggehen willst – und da wollt ich nur mal nachsehen, ob de noch da bist; bei dir soll man nämlich sagen ...‹ Und damit legt sich der Mensch auf die andere Seite und schnarcht weiter, 'ne geschlagene Stunde bin ich noch wach gewesen, das Herz is mer nur so geflogen. Haste schon mal so was gehört? Den Tod kann man ja vor Schreck kriegen. So e Mann soll man haben, immer komischer wird er!« Und das Leben, dieser unversiegbare Strom, floß weiter mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Wellenschlägen, die sich in Onkel Elis Hause zu einer solchen Stetigkeit und zu einer solchen Ruhe gemildert hatten, daß Jettchen kaum noch verspürte, wie ein Tag in den anderen griff, kaum noch verspürte, ob es ein Sonntag oder ein Werkeltag war, kaum noch verspürte, wie draußen von Tag zu Tag der Frühling sich rüstete, um neue Blumen und neue grüne Wunder in seinen Kranz zu flechten, bei Sonnenschein so gut wie in milden Nächten, bei Regen wie bei Wind. In der Stadt selbst gab es ja so wenig, das er schmücken konnte; und nur die rosigen und grauen Abendhimmel, das leise Zittern einer feuchten Luft über den niederen grauen Schindeldächern, ein paar einsame Sterne wie Nadelstiche in einem matten und milden Blau – nur das erzählte Jettchen davon, daß jetzt draußen die Birken goldgrün wurden und die Linden ihre schlaffen Blätter zum ersten Male gegen das Licht hoben, daß die Kastanien ihre Fächer entfalteten und ihre Blütenschäfte die braunen Kerzen hoben. Wenn Jettchen jetzt einmal die Königstraße hinabging, auf einem kurzen Weg vors Haus, so mußte sie wieder ganz nahe am Fahrdamm entlanggehen, weil vor den Blumengeschäften in weißen Töpfen mit goldenen Ringen die Krokusse und die bunten Tulpen standen. Und vor der Böschung des Königsgrabens, weiter unten am Fuße der Rüstern, kam wieder so ein Veilchenduft von dem Fleckchen grüner Blätter herauf, in die, dem Auge nicht sichtbar, aber den Sinnen vernehmbar, die blauen, bescheidenen Blüten eingebettet waren. &&x Und als Jettchen einmal über die Königsbrücke ging und als da der Hauch sie streifte, dachte sie daran, wie ihre Veilchen vom verflossenen Jahr, deren letztes ja noch in dem goldenen Medaillon ruhte, doch schon so welk und braun und morsch und duftlos geworden waren. Die Zeitungen aber schrieben wieder über die Pracht der Hyazinthenfelder in der Fruchtstraße und über die Obstblüte in Charlottenburg und Potsdam. Und doch gemahnte Jettchen nur der zarte Zweig eines Pfirsichbaumes, der mit seinem schnell verblätternden Schmuck über eine Gartenmauer sah, nur er gemahnte Jettchen an diese Inseln von blauweißem Marmor und Rosensteinen, die, eingefriedet vom jungen Grün hoher Bäume, jetzt draußen in Frau Könneckes Garten hinten im Obstland ihre zackigen Klippen in die silbergraue, feuchte Frühlingsluft hoben. Von all den Vögeln, die vor einem Jahr draußen in Charlottenburg ihre flatternden Flügel durch das Gewirr der Äste getragen hatten, die von den Linden vor dem Haus zu den hohen Kastanien auf dem Hof Gruß und Gegengruß gewechselt hatten und die das bunte Gemisch ihrer Stimmen sogar bis in die hellen Morgenträume Jettchens gesandt hatten und die in der Laube ohne Scheu zu ihren Füßen Krumen suchten und in den Büschen neben ihr herflogen – da war für dieses Jahr bloß ein armseliges, verliebtes Sperlingspärchen unter der Dachrinne geblieben; war nur ein ganz ferner, verträumter Nachtigallenton geblieben, der des Abends hinten zwischen kleinen alten Häusern und engen Höfen aus einem stillen Fleckchen Garten herüberkam ... eines Abends, als Jettchen am Fenster stand und der Mond in schmaler weißer Sichel über grauen Dächern hing. Nun muß man aber nicht etwa glauben, daß Jettchen ganz an das Haus gebannt war und niemanden sah – sie konnte sich nur nicht mehr auf lange Zeit entfernen, weil die alten Leute ihrer bedurften und endlich weil doch Eli in den letzten Monaten eben sehr, sehr alt und hinfällig geworden war, so daß man nicht viel ärztliche Kenntnis zu besitzen brauchte, um sich zu sagen, daß seine Tage gezählt waren. Jettchen hätte sich ja vielleicht einmal mit Kößling treffen können; aber es widerstrebte ihr, mit ihm unter der Tür zu stehen, wie das Dienstmädchen mit ihrem Soldaten, und vor den Leuten ins Gerede zu kommen. Jetzt, da sie bei den alten Geberts wohnte, da sie Salomon und Ferdinand, Hannchen und Rikchen alle paar Tage sah und sprach, da fühlte sie sich auch wieder zu all denen zugehörig, und sie fühlte, daß sie es sich schuldig war, auf ihren Namen Rücksicht zu nehmen. An manchem Frühlingsabend jedoch schrieb sie bei flackernder Kerze an dem kleinen, hochbeinigen Schreibtisch mit dem Bronzegitter, schrieb sie Seite auf Seite an Kößling, und alles, was zu sprechen ihr Mund zu scheu und zu keusch war, das anvertraute sie dem knirschenden Federkiel: ihre Hoffnungen, ihre Zweifel, die kleinen Erlebnisse des Tages und die geheimsten Gedanken ihres Herzens; bis dann endlich selbst die Putzschere die niedergebrannte Kerze nicht mehr in Ordnung halten konnte und Jettchen beim letzten Flackern des Lichtes die letzten Worte schrieb und sich im Dunkeln niederlegte. Onkel Jason sah Jettchen jetzt seltener; und wenn er einmal kam, so war er fast noch kühler und spöttischer, als er es früher war, so daß ihm Jettchen kaum für seine Verse zu danken wagte. Er brachte ihr einmal Nachricht, daß man den König totgesagt hätte, daß er aber noch lebe, trotzdem es jeden Tag mit ihm zu Ende gehen könnte. Oder daß man jetzt wirklich Napoleons Knochen nach Paris brächte. Thiers hatte diesmal einen[[Anzahl]] geschickten Schachzug getan – und er, Jason Gebert, würde vielleicht im Herbst nur deswegen nach Paris fahren, um vor dem Grabe dieses Mannes abzubitten, daß er im Leben gegen ihn gefochten hätte. Einmal forderte Jason Gebert sogar Jettchen auf, mit ihm ins Schauspielhaus zu gehen, man gäbe von Gutzkow den »{{Richard Sau¬vage}}« – das müsse Jettchen sehen. Aber Jettchen wagte doch nicht, die alten Leute am Abend allein zu lassen, und dann fürchtete sie sich jetzt auch, mit Onkel Jason zusammen zu sein, und es kam vor, daß sie fast trotzig und unfreundlich gegen ihn war, ihn mit gleichgültiger Miene begrüßte und mit gleichgültiger Miene von ihm Abschied nahm. Sonst hatte ihr Jason immer erzählt, was er triebe, ob er neue Porzellane gekauft hatte oder Kupferstiche, mit wem er zusammengekommen, wohin ihn seine Wege geführt hatten – aber jetzt sprach er von alldem nichts mehr. Was hätte er auch Jettchen sagen sollen? Was verstand denn solch ein junges Ding davon, wie so ein alternder Mann in seiner Wohnung umherirrte, gepeinigt von seiner Sehnsucht. Was brauchte sie zu wissen, daß er nur mit Tränen in den Augen das grüne Zimmer betrat, in dem noch alles stand und lag, wie Jettchen es verlassen hatte. Was brauchte sie zu wissen, daß er seinen Kopf in die Fensterkissen drückte, dort an der Stelle, wo immer ihre Arme geruht hatten, und daß er nächtelang sich nicht in seine Wohnung zurücktraute aus Furcht vor sich selbst; daß er wieder sich in Gassen und Abgründe verlor, ein unwirscher, mürrischer oder überlauter Liebhaber. Was brauchte sie das zu wissen – und wie hätte sie es gedeutet! Nun ja, irgend etwas davon erfuhr Jettchen schon, denn Onkel Ferdinand pflegte aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Und so hatte er auch, als ihn Jettchen einmal nach Onkel Jason fragte, den sie über eine Woche nicht gesehen hatte, nur geschmunzelt, das eine Auge eingekniffen und mit reicher und vieldeutiger Betonung die Verse zitiert: »Such ihn nicht im Kollegium – such ihn bei Madame Meier.« Man brauchte nun deswegen Onkel Ferdinand nicht für eine sehr poetische Natur zu halten. Ja, im allgemeinen war die Verskenntnis Onkel Ferdinands sogar nicht sehr groß, aber in Versen dieser Art war er recht wohlbeschlagen, und er hatte sie immer im richtigen Augenblick bereit. Und das ist ja auch eigentlich das Schöne an unserer Literatur, daß sie für jeden etwas bietet und daß sich ein jeder aus ihr das herausnehmen kann, was ihm behagt. Jettchen wollte lachen – wollte wenigstens vor Onkel Ferdinand den Schein wahren, als ob sie das belustige –, aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Sie[[1]] fühlte, wie ihr das Blut zu Herzen floß, und es fehlte wenig, daß ihr die Tränen in die Augen kamen. So sehr war sie sich ihrer Neigung zu Onkel Jason noch nie bewußt geworden. Und wenn sie jetzt des Abends in ihrem Zimmer saß – die alten Leute gingen ja fast mit den Hühnern schlafen –, so war es ihr, als müßte sie sich heimlich fortstehlen zu Onkel Jason, damit er nicht wieder hinausliefe zu diesen schlechten Frauenzimmern, zu denen ihn doch sein Herz nicht zog. Während sie sonst fast jeden Abend an Kößling geschrieben hatte, schob sie jetzt den Brief oft Tag zu Tag auf und begann jeden mit der Entschuldigung, daß sie so viel zu tun hätte und nicht zum Schreiben käme. Draußen in den Parks und Gärten, in den Feldern und um die Dörfer, da band der Frühling jetzt wieder seine Kränze. All das kam, wurde und schwand, aber nur ein paar wegmüde und armselige Boten sandte der Frühling hinein zu Jettchen, um sie zu mahnen – und sie mußten lange suchen, bis sie sie fanden. Aber sie fanden Jettchen. Denn als an einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage, der ganz blau und wolkenlos begann, Jettchen des Morgens die Straße entlangging, um für sich Isländisches Moos aus der Apotheke zu holen, weil sie ein Husten quälte, da traten ihr diese Boten entgegen. Jettchen sah sie in einem dürftigen Gärtchen stehen und auf sie warten, diese Abgesandten des Frühlings, den Fliederbusch da mit wenigen matten Dolden, der am Zaun Wache hielt, und den Goldregenstrauch, der ein paar gelbe Fähnchen gegen das Haus drängte. Und Jettchen fühlte die Botschaft, die sie ihr zu bringen hatten, und sie mußte nach Charlottenburg zurückdenken, an jene Fliederbüsche, die jetzt ihre Schwere gegen die Hauswand lehnten, und an die Blütenflut, die bis in ihre Fenster geschlagen war, und an die blauen Schaumperlen, die – schon abgestreift – die hölzernen Treppenstufen und die Kanten der schmalen Wege umsäumten, während doch sie, die Blütenflut selbst, in ihren lichten Wellen noch kein Verebben zeigte und Tag um Tag in neuen Wogen emporschäumte. Und all das würde in diesem Jahr nun kommen, gehen und schwinden, ohne daß ihr Blick es streifte! Als aber Jettchen zurückkehrte, da war Onkel Eli schon auf, war in seinem besten blauen Frack und in seiner besten blauen Laune. »Was heißt das, Jettchen, wo kommst du doch jetzt am frühen Morgen her?« »Aus der Elefantenapotheke, Onkel.« »Nu, weißte, mei Tochter, Minchen darf's natürlich nicht hören; aber ich will der was sagen: Ich hätt auch nichts dagegen, wenn de ... von woanders herkämst.« »Nein, Onkel, ich muß bedauern, aber das ist nicht der Fall«, sagte Jettchen unbefangen und lachend. »Nu, ich glaub's schon, aber endlich wär's doch eben nur deine eigene Sache, und du könntest meinetwegen tun, was du willst. Doch was haste nu eigentlich in de Elefantenapotheke gekauft?« »Isländisches Moos, Onkel, für meinen[[Besitz]] Husten.« »Wie kommste dazu?« polterte Eli. »Was braucht e junges Ding überhaupt zu husten? Husten tut e alte Spittelfrau. Und wenn de hustest – was gehste in de Apotheke? Ich mach mer all meine[[Besitz]] Mittel allein. Siehste, Jettchen: Heut vormittag setz ich mich zum Beispiel vor de Tür in de Sonne hin und hab mir dazu aus Minchens Nähtisch e paar Dutzend Nadeln genommen. Und wenn de Jungens kommen und ausrufen: › Maikäber, Maikäber, Stick drei Nadeln‹, nu, denn seh ich zu, ob ich se nich vielleicht für zweie kriege, und kauf sie ihnen ab. Und dann setz ich mir heut nachmittag e Maikäferspiritus an – weißte, weil ich doch im vorigen Winter mal so 's Reißen in de Schulter gehabt habe. Nu fragt sich nur noch, ob ich welche kriegen werde, denn es soll dies Jahr mit de Maikäfer gar nichts Besonderes los sein. Erkundigt hab ich mich schon bei de Jungens, aber se klagen alle, wohin man hört.« &&x Und richtig – gegen Mittag ließ sich der alte Eli von der tauben Minna ein Stühlchen auf die Straße tragen, auf den Hohen Steinweg, auf die Steinstufen hinaus, mitten in die warme Sonne, und setzte sich da neben die Tür. Aber möglich, daß wirklich das Maikäferjahr schlecht war oder daß die Jungens heute grade etwas anderes zu tun hatten und nicht an ihren Handel dachten – sie ließen sich kaum blicken, und die wenigen, die pfeifend im Hundetrab vorüberliefen, machten, daß sie weiterkamen, und hatten es gerade heut sehr eilig und nahmen es gerade heute sehr wichtig, nach Haus zu kommen; sie kümmerten sich gar nicht um den alten Onkel Eli, der da, die beiden Hände auf dem goldenen Stockknopf und das Palmenrohr zwischen den Knien, mit halboffenem Munde auf seinem Stühlchen vor der Tür saß und doch so verlockend die ganzen Patten seines blauen Fracks dicht mit Nadeln besteckt hatte. Und Minchen kam heraus in die weiße Sonne, mit ihrem Blondenhäubchen auf dem einen[[Anzahl]] Ohr, und sagte, sie suche schon den ganzen Vormittag ihre Nähnadeln. Sicher hätte sie ihr wieder das Stück von e Mächen gestohlen. Aber Eli kicherte, als er das hörte, in sich hinein und sagte: »Weißte, heut ist's mit 's Maikäfergeschäft doch nichts Rechtes, da werd ich dir de Nadeln man noch mal wiedergeben.« »Hast[[Besitz]] so was gehört, Jettchen!« rief Minchen, und sie lachte ganz wider ihre Art. »Immer komischer wird doch mein Mann!« Und machte es nun die warme Sonne, machte es der blaue Frühlingstag oder die Schwalbe, die mit ihrem Kiwitt gerade die Straße entlangflitzte – war es ein Erinnern an vergangene Tage –, die alte Tante Minchen beugte sich plötzlich vor und gab ihrem Eheherrn einen[[Anzahl]] richtigen Kuß. Und wie Eli sich jetzt mühsam vom Stuhl erhob, denn die alten Beine wollten nicht mehr, da ließ er seinen Arm etwas länger auf der Schulter Minchens ruhen, als es gerade nötig war. »Siehste, meine[[Besitz]] Goldmine«, sagte Eli, blieb unter der Tür stehen und zeigte mit dem Stock auf eine schadhafte Stelle am Pfosten, »siehste hier, da fällt nu schon der Stuck von de Wand ab. Das Haus wird locker. Wir haben de längste Zeit hier gewohnt. Unser Haus, meine[[Besitz]] Goldmine, das is auch schon locker geworden.« Aber während des Mittagessens, da hatten sie sich schon wieder beim Wickel. Eli wollte keine Hechte essen, und das kränkte Minchen in ihrer Würde[[würdig]]. »Ich ess kei Fisch«, sagte Eli. »Haste schon mal e Menschen gesehn, der kei Fisch ißt!« rief Minchen und schüttelte ihre puffige Tüllhaube, daß sie von einem Ohr auf das andere flog. Aber Eli sagte, er möchte doch mal sehen, wer ihn zwingen könnte, Fisch zu essen, und Minchen möge mit dem Kopf wackeln, soviel es ihr Freude mache. Aber als sie eben vom Tisch aufstehen wollten, kam Onkel Jason, sehr wohl angetan in seinem neuen rehbraunen Frühlingsrock, den Zylinder zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wolle ihnen Jettchen auf ein paar Stunden entführen, draußen wäre nämlich alles auf den Beinen, und das müsse Jettchen sich ansehen. Jetzt machten sie bei uns genau dieselbe Wirtschaft wie in Paris mit Napoleons Knochen. Thiers hätte alles in Bewegung gesetzt. Der Alte Fritz sollte ein Denkmal Unter den Linden bekommen, und die Pioniere schachteten schon den Platz aus, wo es zu stehen kommen sollte. Die Linden wären beflaggt, und illuminieren wolle man für den Abend auch. Ganz Berlin wäre wie im Taumel, nicht als ob sie nur ein Denkmal, sondern als ob sie schon wirklich die Konstitution geschenkt bekämen. Der Zar von Rußland wäre dazu auch schon unterwegs. »Weißte, Jason«, sagte Eli, »die Sach mit de Potentaten kommt mir immer vor wie de beiden {{Shirting-Cohns}} hier. Wenn sie zusammenkommen, tun se, als ob se ein Herz und eine Seele wären – und Konkurrenzgeschäfte haben se doch. Aber der Alte Fritz war e kluger Mann. Ich kannte ihn, hab ihn sogar öfter gesehen. Ich seh ihn noch vor mir: e kleiner Herr, groß war er nich – aber e Köppchen hat er gehabt. Wir haben ihm sehr schöne Gäule damals für'n Krieg geliefert. Ich weiß noch genau, als ob's heute wär.« »Ja, Onkel«, sagte Jason Gebert, »das muß nun schon eine ganze hübsche Weile her sein.« »Da magste recht haben, mein Sohn«, meinte Eli, »weißte, Jason, du kennst doch 'n ›Figaro‹. Erinnerst de dich, wenn se da singt, de Susanne: ›Endlich naht sich die Stunde‹ – weißte, denn sag ich immer, wenn se das erst mal singt, is das Billett keinen halben Silbergroschen mehr wert. So is mit mir jetzt; keinen halben Silbergroschen ist 's Billett mehr wert.« »Na, Onkel«, sagte Jason Gebert, und es lag doch eine sehr seltsame und schmerzhafte Ironie im Ton, etwas Sprödes und Klingendes, das ganz aus den Tiefen seines Wesens kam. »Na, Onkel, wollen wir mit unsern Billetts tauschen? Wirklich, ich tät's gern.« »Äh«, sagte Eli und legte Jason die Hand auf die Schulter, »was haben se auf dir alles in deinem Leben rumgehackt, mei Sohn. Ich weiß, du bist immer e braver Mensch gewesen. Laß sein mit's Tauschen – laß sein! De alten Leut müssen weg, damit de jungen Platz auf de Erde kriegen.« Da kam Jettchen herunter. Sie[[1]] hatte ein helles Musselinkleid mit Blumen angezogen, mit großen, gestickten Veilchensträußen rings um den Glockenrock, wie es jetzt das Allerneueste war, und sie trug einen[[Anzahl]] weißen Chinaschal, der unter den Schultern durchgezogen war. Aber da die Mittagshitze über den Straßen lag, so die erste unerwartete und verfrühte Sommerwärme des Jahres, die die Menschen matt und langsam und schweigsam macht, so fand es Jettchen kaum verwunderlich, daß Onkel Jason heute wortkarg neben ihr herhinkte, die Königstraße hinab. Und da das Licht der hohen Sonne gerade von Süden her ihnen entgegenflutete, die breite Straße ganz füllend mit seinen weißen Wellen und die Häuserfronten hüben und drüben teilend und lösend in Hell und Dunkel, in ein vielfaches Flackern von Fenstern, Gesimsen, Scheiben und Türen, so fand es Jettchen auch ebenso kaum verwunderlich, daß Onkel Jason beim Gehen die Augen einkniff, als ob er durch die neue Helligkeit geblendet würde, und daß Onkel Jason sich hin und wieder so ganz unauffällig mit seinem Batisttuch über die Augenwinkel strich. Und doch hatte die unerwartete Hitze die Straßen nicht etwa entvölkert, wie das wohl so ein heißer Mittag sonst wohl tun kann, an dem niemand vor die Tür geht, es sei denn, sein Geschäft riefe ihn –, nein, die ganze Königstraße hinab schoben sich die Spaziergänger wie an einem Sonntagnachmittag: Herren dabei schon in gestreiften Nankinghosen; Damen in lichten, schattenspendenden Sommerschuten und den grünen Knicker vor dem Gesicht; Gymnasiasten mit ihren farbigen Mützen; kleine Mädchen in hellen Mullkleidern mit rosa Schleifen – und Kinder, so zahlreich, als hätte man sie ausgesät. Und wer Kriegsmedaillen hatte, der ließ seine Schritte klirren, als ginge es im Parademarsch gegen Napoleons Bataillone, um sie in den Boden zu stampfen. Und wer als Gerichtsschreiber sich in zwanzig Jahren einen[[Anzahl]] Orden ersessen hatte, der versuchte, sich das Aussehen eines Diplomaten zu geben, der um die Geschicke der Völker wüßte und den nichts aus der Ruhe brächte. Viele Uniformen sah man; und alte Feldwebel und Krongardisten mit grauen Schnauzbärten wie Tintenwischer schoben ihre weißen Bäuche durch die Menge dahin, die Hand an der Plempe und jeder Blick ein gespießter Franzmann. Durch die Seitenstraßen floß es zu dem Hauptstrom, und von weit hinten über den Alexanderplatz schob es sich heran, tausendgliedrig; alles bewegte sich in der gleichen Richtung, und in der schmalen Gasse oben vor der Kurfürstenbrücke, durch die gerade die Sonne einfiel wie durch ein Tor, da preßte sich die Menge zusammen und überflutete Damm und Bürgersteig. Die Wagen, die sich schrittweise gegen sie anschoben, waren eingekeilt in dieses schwankende, vielköpfige Gewoge; die Kutscher auf dem Bock schwebten dahin – da man Pferde und Wagen nicht sah – wie Kardinäle, die in einer Prozession hoch auf schwankenden Sänften getragen werden. Die wenigen aber, die hier in dieser engen Straßenkehle gegen den Strom schwammen, wurden hin und her gerissen und gegen die Wände und in die Nischen und an die Kellerhälse gepreßt, ehe sie es sich versahen. Jettchen hielt sich dicht an Onkel Jasons Seite, damit sie nicht voneinandergetrieben würden, vor allem auf der Kurfürstenbrücke, auf der sich die Menge noch einmal staute, ehe sie sich in breiten Fluten über den Schloßplatz ergoß. Ganz hell lag die Sonne über dem Wasser, alle Uferwege waren dunkel von Menschen, und auf den schmalen Brücken hinten stand Kopf an Kopf gegen die weiße Luft. Nur der alte Schloßbau, der mit seinen ungleichen Gebäuden nach dem Wasser hin im Schatten lag, war finster und grau in all dem Gewühl, das ihn umbrandete. &&x Auf dem weiten Schloßplatz blieben Jason und Jettchen einen[[Anzahl]] Augenblick stehen, denn hier breitete sich die Menge aus, bildete Gruppen und Kolonnen, und man bekam gleichsam wieder Platz zum Atmen. Um den Eingang des Schlosses standen Mauern von Menschen, die hören wollten, wie es dem König ginge. Allenthalben fing man seinen Namen auf. Die einen[[Anzahl]] sagten, er wäre nicht aus dem Bett gekommen, die andern wollten ihn sogar gesehen haben. Und immer wieder tauchte das Gerücht empor und lief von Mund zu Mund, sprang von Gruppe zu Gruppe, daß der König überhaupt schon tot wäre und daß es nur nicht gesagt würde, um nicht die Feierlichkeiten für das Denkmal zu stören. Ein Bekannter hielt Jason an und raunte ihm ins Ohr, daß er genau wisse, daß die Stadtverordneten schon eine Petition vorbereiteten, in der sie den » neuen« König sofort um eine Verfassung bitten wollten. Aber da lief Jason Gebert, der in politischen Dingen schon immer den Katzenjammer hatte, wenn die andern sich erst zum Wein setzen wollten, die Galle über, und er rief ganz laut: Die Herren da oben sollten ihre Zeit zu nützlicheren Dingen verwenden; als ob ihnen der Kronprinz nicht schon die Antwort gegeben hätte! Heute vormittag bei der Feier hätte der Herr Kronprinz sprechen müssen – sonst könne er sich ja nicht oft genug hören. Aber gerade da, wo er etwas hätte sagen müssen, was des Philosophen von Sanssouci würdig gewesen wäre, wo man es von ihm erwartete, da wäre er ganz mucksstill gewesen. Und die Menschen um Jason Gebert horchten auf: Ein Arbeiter schob seine Mütze zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, er hätte recht und so wäre das auch. Andere mischten sich darein. Ein Mann mit einem Orden sprach von Pöbel und gemeiner Kanaille, und ein Tischlermeister – man sah es seinen Händen an, daß sie gewohnt waren, den Hobel zu fassen – rief, er würde dem Monsieur ein Veilchenbukett auf die Neese pflanzen, wenn das etwa gegen ihn ginge. Jettchen hing sich an Onkel Jason, der heftig atmete und sich mit der Hand an seiner schwarzen Halsbinde zerrte – und sie zog ihn fort. Als sie aber mit Onkel Jason glücklich um die Ecke gebogen war und sie sich dicht in das Gewühl, das unter den schmalbrüstigen Häusern der Schloßfreiheit dahinschob, gemischt hatten, sprach sie auf ihn ein: Warum er das täte, warum er sie so in Angst und Schrecken setze, und ob er denn gar nicht auf sie Rücksicht nehme – was denn aus ihr werden sollte, wenn sie ihn wieder in die Hausvogtei sperrten. Bei diesen Worten aber schmiegte sich Jettchen ganz dicht an Jason Gebert, und bei dem Gedanken an diese Möglichkeit liefen ihr Tränen über das Gesicht. Jason Gebert jedoch war ganz kleinlaut, als er das sah, und strich und streichelte nur wortlos im Gehen Jettchens Hand, als leiste er Abbitte dafür, daß er ihr Sorge bereitet habe. Und je näher sie den Linden kamen, desto stärker wuchs die Menge, desto unermeßlicher schienen die Scharen, die sich auf dem weiten Platz gesammelt hatten, die sich unter den eben junggrünen Bäumen dahinschoben, die die Bürgersteige umgürteten und die die Wagenreihen – diese langen Reihen von Fuhrwerken – umringten, daß sie nur Schritt für Schritt die breiten Dämme hinabfahren konnten. Die Wache stand unter Gewehr, und unaufhörlich erschollen Trommelwirbel und Kommandorufe; und wie wirkliche Feldherren über die unübersehbaren Menschenfluten ragten mit ihren grünen Lorbeerkränzen die weißen Marmorfiguren hüben und drüben auf, ganz hell von der Sonne beschienen, in ihren sieghaften und befehlenden Posen die einzig Regungslosen in all diesem tausendfachen Hin und Her. Ja, überall, selbst in den hohen Bäumen, hingen die Menschen; und hinten die flache Kuppel der Hedwigskirche war auch ganz besetzt mit schwarzen Gestalten, die sehr groß aussahen gegen die Luft und von denen man jede Bewegung ganz deutlich sah. Nur mühsam und nach langem Verweilen, fast eingeschlossen in den Menschenmauern, vermochten Jason und Jettchen sich über den Opernplatz weiterzukämpfen – und da sahen sie einen[[Anzahl]] Augenblick in eine Grube hinab, auf gekrümmte Rücken und blanke Spaten, die aufblitzten, wenn sie zur Sonne kamen, hörten das Aufschlagen der Erdschollen auf den braunen Wällen, hörten die Zurufe, die den Pionieren galten, und das Hin und Zurück von Worten und Witzen. Jason und Jettchen wurden mit angesteckt von der allgemeinen Freudigkeit; und Jason rief den Soldaten zu, ob sie es heiß hätten oder ob sie vielleicht eine {{Bouteille}} wünschten. Die Soldaten aber riefen irgend etwas zurück, aus dem Jettchen nur das Wort Mamsell verstand, und daraus entnahm sie, daß es ihr galt, und sie zerrte Jason am Ärmel; doch der lachte nur. Und als Jettchen aufblickte, da sah sie drüben, jenseits der Straße, jenseits der Grube, Kößling stehen, der sich, von der Sonne geblendet, die Hand vor die Augen hielt. Jettchen schlug das Herz bis in den Hals hinauf, und sie winkte ihm und nickte ihm zu, und sie rief ihn beim Vornamen, ohne auf die Leute ringsum Rücksicht zu nehmen. Kößling sah sie und zog den Hut, und Jettchen konnte deutlich erkennen – über die Grube fort –, wie Kößling rot bis in die Haarwurzeln wurde ... in diesem merkwürdig jungenhaften Erröten, das ihm eigen war. Jason erblickte ihn nun auch und winkte ihm. Aber es waren zuviel Menschen zwischen ihnen, als daß sie zueinander gelangen konnten, und sie machten sich Zeichen, die sie vielleicht falsch deuteten; denn plötzlich waren sie sich wieder aus den Augen, und Jettchen zog nun Onkel Jason hinüber und herüber und suchte mit den Blicken, und sie kamen immer weiter von der Denkmalstelle ab. Als sie aber ganz langsam mit dem Strome wieder zurücktrieben, da hatte längst an der Stelle, wo Kößling vordem gestanden, irgendein ganz gleichgültiger Mensch Posten gefaßt. Jettchen war das Weinen näher als das Lachen. Aber Jason sagte, daß sie bald wieder nach Hause wollten, denn es wäre vielleicht doch nicht recht, wenn Jettchen die alten Leute so lange allein ließe. Und Jettchen ging neben ihm her – wortlos, mit suchenden Blicken. Die Augen schmerzten sie, wie sie im Gewühl, das ihr entgegentrieb, sich bemühte, ein jedes Gesicht wahrzunehmen – ob es nicht doch sein Gesicht wäre. Sie[[1]] schrak zusammen, wenn sie glaubte, ihn gefunden zu haben, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Und ihre müden Augen ließen endlich die Vision von Kößlings Zügen allenthalben entstehen, sie glaubten selbst in Frauen und Knaben, die ihr entgegenkamen, im ersten Augenblick, da sie sie gewahrte, ihn zu finden. Als Jettchen nach Hause kam, saß Minchen allein in ihrem großen Zimmer mit den goldenen Stühlen, allein an ihrem Fensterplatz. Und als Jettchen sie fragte, wo Eli wäre, meinte sie, sie wüßte nicht, sie hätte ihn schon eine halbe Stunde nicht mehr gesehen. Aber wie Jettchen nach oben lief, da lag der alte Eli mit seinem spitzenbesetzten Hemd am hellen Nachmittag, der seine Strahlen durch das Fenster warf ... am hellen Nachmittag schon im Bett und schlummerte. So leise sich Jettchen auch auf den Zehen zurückziehen wollte, sie machte es doch, daß der Alte aufwachte. Und Jettchen mußte sich zu ihm auf den Bettrand setzen und ihm erzählen, was es draußen gäbe; was sie gehört und gesehen habe; was man über den König sage; ob der Russe schon da wäre und ob Jettchen gesehen hätte, wie sie im Lustgarten die Böller gelöst hätten. Er wäre auch ganz gern dabeigewesen, aber er hätte sich bezähmt. Und dann wäre er auch schon vormittags genug müde, deshalb hätte er sich hingelegt. Aber wenn morgen wieder solch ein schöner Tag wäre wie heute, würde er doch mal nach den Linden gehen. Des Abends jedoch, als Minchen schon lange Elis Beispiel gefolgt war, konnte Jettchen keine Ruhe finden, und sie ging – nachdem sie ihren Brief an Kößling beendet hatte –, von einem seltsamen Angstgefühl gepackt, auf und nieder zwischen den alten braunen Möbeln, ganz leise, daß ja nicht ihr Kleid raschele und daß sie nirgends anstieße und ihre Nachbarn um den Schlaf brächte. Und selbst der Hauch der Frühlingsnacht, der durch das offene Fenster hereindrang und die Mullgardinen flattern machte, daß sie fast bis zur Kerze herüberwehten, die über dem Schreibtisch ihr unruhiges Licht zucken ließ – selbst er ließ noch Jettchen frösteln. Und dann – sie wußte selbst nicht, wie das gekommen war – mußte Jettchen sich wohl halb angekleidet aufs Bett gelegt haben und eingeschlafen sein – schwer und traumlos. Denn plötzlich erwachte sie, weil sie jemand an der Schulter berührte. Und sie fuhr auf und sah, daß das ganze Zimmer hell war von einem gleichmäßigen Schein und daß von draußen der Himmel hereinblickte, der ganz weiß schien und doch von langen, rötlichen Streifen durchquert wurde. Irgendwo krähte ein Hahn. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber das Licht lag schon über der Welt. Und Jettchen sah eine ganze Weile Tante Minchen an, die da in ihrem alten, violetten Morgenrock und dem Häubchen zitternd vor ihr stand, ehe sie begreifen konnte, was geschehen war. &&x Ach Gott! Die kleine Tante Minchen war aufgewacht. Sie[[1]] wußte selbst nicht, wie das kam. Der Müller erwacht ja auch, wenn die Mühle zu klappern aufhört. Und so war die kleine Tante Minchen aufgewacht, weil ihr alter Ehegatte aufgehört hatte mit Schnarchen. Denn der alte Eli gehörte nicht zu denen, die einen[[Anzahl]] leisen Schlaf hatten, sondern eher zu den Geräuschvollen. Immer hatte er geschnarcht – nicht gerade übermäßig laut, aber schön und gleichmäßig, jahraus, jahrein, jede liebe Nacht –, solange es sich Minchen erinnern konnte. Und Minchen hatte sich an diese stille Musik gewöhnt, daß sie sie selbst im Schlaf vernahm und daß sie auf sie achtete, ohne es zu wissen. Und heute war Minchen plötzlich aufgewacht, als es eben dämmerte, weil es ihr so wunderlich vorkam, wie still es um sie war – und dann hatte sie gelegen und gelauscht, aber es hatte sich nichts im Zimmer gerührt, nur der Schrank hatte einmal geknackt, wie er es gern tat. Aber auch nicht das leiseste Schnarchen und Blasen war von Onkel Elis Seite zu der lauschenden Minchen herübergedrungen. Und dann hatte sie gewartet, bis es heller wurde, so hell, daß sie etwas unterscheiden konnte, hatte sich im Bett aufgesetzt und ganz verstohlen zu ihrem Ehegatten hinübergeblinzelt. Aber der lag da mit seinem alten Kopf, ruhig, scheinbar schlafend, den Mund halb offen, und regte kein Glied. Und als Minchen ihn anrief, da gab er keine Antwort und veränderte nicht einmal seine Lage, wie man es doch tut, wenn man im Schlummer gestört wird. Da war Minchen aufgestanden, auf den Zehen, ganz sacht und ganz leise, als ob sie ihren Mann zu wecken fürchte, hatte sich kaum bewegt, als sie sich den Morgenrock überstreifte, gerade als ob sie jedes Geräusch vermeiden müsse, um den leichten Schlummer Elis nicht zu unterbrechen. Sie[[1]] war aus dem Zimmer geschlichen, ohne sich noch einmal umzusehen, hinein in Jettchens Stube. Eli läge so ganz still, und er schnarche gar nicht mehr, wie er es sonst täte, und sie habe Angst, daß ihm etwas zugestoßen sei. Und Jettchen nahm die alte, kleine Tante Mine, die so ängstlich und hilflos wie ein verflatterter Vogel unter ihrem schiefen Häubchen hervorsah, in ihre Arme und geleitete sie zu einem schweren, alten Großvatersessel, der am Fenster stand. Und als sie Minchen darin geborgen, wußte, ging sie selbst hinein zum Onkel, der da im hellen, weißen Morgenlicht noch gar breit und stattlich in seinem spitzenbesetzten Hemd dalag, gerade wie am Nachmittag vorher. Schön glatt lag die Bettdecke über ihm, fast ohne eine Falte. Aber als dieses Mal Jettchen auf den Zehen sich näherte, da erwachte der alte Eli nicht mehr, und seine Züge blieben starr und eisig, wie sie es waren. Und Jettchen schlich, wie sie gekommen, aus dem Zimmer und sagte zu Tante Minchen: »Weißt du, Tante, wir wollen doch lieber runtergehen, um Onkel nicht zu stören.« Und Minchen, das arme, verschüchterte Minchen, in dessen verbrauchtem Hirn sich langsam die Gewißheit des Geschehenen formte, ließ sich müde, zitternd und willenlos von Jettchen hinuntergeleiten – gestern noch ein kleines, dürres und geschäftiges Persönchen und nun eine welke, uralte Frau. Gestern doch noch ein Schiff im eigenen Fahrwasser und nun eine Schaluppe mit zerbrochenem Steuer und gekapptem Mast. Jettchen weckte die taube Minna, die da unten in irgendeiner dunklen und luftlosen Alkovenecke bei der Küche schlief, und da sie ihr nicht zubrüllen mochte, was geschehen war – denn dann hätte es ja Minchen auch hören müssen –, legte sie den Finger an den Mund, die taube Minna solle ganz still sein. Die taube Minna, die die Eigenheit vieler Schwerhöriger besaß, daß sie eben nur mit den Ohren schlecht hörte, rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihre Augen, während sie mit dem Feuerhaken lärmend auf dem Herd herumstocherte. Und Jettchen sagte ihr, sie solle erst zum alten Geheimrat Stosch gehen und dann zum Herrn Jason Gebert und ihnen mitteilen, was geschehen war. Und die taube Minna, die ja eigentlich Auguste hieß, aber von Minchen, weil es ihr bequemer dünkte, Minna gerufen wurde, sie stellte noch, ehe sie ging – ganz wider ihre Art wortlos und geräuschlos –, die blitzende Kaffeemaschine auf den Tisch und tat die Brötchen, die eben erst vom Bäcker gekommen waren und noch ganz frisch rochen, in den schönen, silbernen Brotkorb. Das alte Minchen aber, das indes auf seinem Fensterplatz gehockt hatte, in sich zusammengesunken wie ein Vogel auf seiner Stange, kam auf Jettchens Bitten zum Tisch und ließ sich Kaffee einschenken. Und Jettchen sorgte, daß sie auch etwas von dem Weißbrot nehme. Minchen aber ließ alles mit sich geschehen und sagte kein Wort dawider. Draußen kam ein herrlicher Tag hoch. Die Sonne, kristallen und ungetrübt, stieg jetzt drüben über den niederen Häusern empor und warf in zwei breiten Strömen durch die beiden Efeubogen der Fenster ihr weißliches Gold in die Stube hinein, über den verwaisten Thronstuhl Onkel Elis fort, und sie machte alle Kristalltropfen an den Bronzereifen der Krone blitzen und ließ sie ihre Regenbogenmuster über Wand und Decke umherstreuen. Auf den breiten Kommoden ließ sie die eingelegten Blumen, die sonst tief im Schatten lagen, aufblühen wie die Blumen draußen an einem Junimorgen unter der Kanne des Gärtners. Und zwischen den Porzellanen oben auf den Kommoden, der Reifrockdame mit dem Mops und Calas Abschied, zwischen den Vögeln und der Kuh, den Göttern und dem Savoyardenknaben wand sich ein Geflecht von Sonnenstrahlen hindurch, und die Stäubchen, die darin auf und nieder tanzten, glichen silbernen Funken. Alle Stühle, die ringsum an der Wand Wache hielten in ihrer verblichenen Vergoldung, begannen im Licht der jungen Sonne zu leuchten, nicht als ob sie schon fünf Jahrzehnte dort ständen, sondern als ob sie eben aus der Werkstatt kämen. {{Chéri}} aber, der Kanarienvogel, setzte sich auf die oberste Sprosse und schmetterte mit schiefem Kopf und gesträubtem Häubchen seine hellsten Triller in all diese Helligkeit hinein, als wolle er noch einmal zeigen, daß das Leben nicht vom Tode weiß und den Tod immer wieder vergißt. Und bald hörte man, wie der alte Stosch hinten die Stufen heraufklapperte, und er blieb dann noch, ehe er wieder in den hellen Morgen hinausging, eine ganze Weile unten bei Minchen. Denn sie brauchte ihn ja jetzt und nicht mehr der da oben, dem könne er nun nicht mehr helfen und nicht mehr nützen. Und der Arzt gab Jettchen noch in der Tür genaue Vorschriften zu Minchens Wartung und Pflege. Aber ehe noch Stosch ging, kam Jason Gebert eilig herangehinkt, sehr bleich, fröstelnd am lichten Junimorgen, sehr ernst und sehr wortkarg. Und nicht eine Stunde verging, da waren sie alle da: Ferdinand und Salomon, Rikchen und Hannchen, ja selbst das alte Fräulein mit den Pudellöckchen hatte sich wieder eingefunden und saß auf einem goldenen Stuhl, den Strickbeutel an der Seite. Kein lautes Wort wurde gesprochen, keine Klage, kein Weinen wurde gehört, und jeder war bemüht, der alten Tante Minchen Liebe und Zärtlichkeit zu beweisen. Aber die alte Tante Minchen antwortete einmal ja und einmal nein und blieb sonst ganz still und ohne Tränen. Denn ihr armer und verbrauchter Verstand hatte eben noch nicht so ganz begriffen, was geschehen war. O ja, Minchen, war sich wohl schon für Augenblicke bewußt, daß sich ihr alter Weggenosse für immer von ihr getrennt hatte, aber ganz vermochte eben ihr Hirn diese Vorstellung nicht mehr zu fassen und zu halten; wird es doch schon einem gesunden Geist schwer genug, sich solch eine Vorstellung zu eigen zu machen. Als sie aber den alten Onkel Elias Gebert draußen begruben, ein paar Tage darauf, spät am Nachmittag, und als die Frauen in dem niederen, langen Zimmer mit den goldenen Stühlen alle um das alte, zitternde Minchen herumsaßen und sie zu trösten versuchten, während eben die Männer auf dem Friedhof weilten, als da die Dämmerung kam und die Straßen und Bäume mit ihrem wunderlichen Zwielicht füllte, während der Himmel oben sich seltsam rötete und von den Plätzen her so ein dumpfes Brausen und Lärmen scholl, da begannen plötzlich ringsum alle Glocken zu läuten in einem ehernen und schwermütigen Singsang – von der Marienkirche her und von der Nikolaikirche her, von der Petrikirche und von der Garnisonkirche und der Parochialkirche, weither vom Dom und vom Werder und vom Gendarmenmarkt ... alle Glocken ließen plötzlich ihre Töne über der dämmrigen Stadt zusammenfließen, und sie mischten sie zu einem klaren und unaufhörlichen Trauergesang, der jedes Wort übertönte, das die Frauen sprachen. Und von der Straße her kam zu diesem langen und dumpfen Klingen ein gleichmäßiges, schweres, rhythmisches Stoßen, als ob weit draußen große Menschenmengen im Tritt still vorüberzögen. Und ein hohles und langsames Trommeln mischte sich darein, wie eine gedämpfte Grabmusik, die aus Meilenferne herübertönte. »Äh«, sagte Minchen, »se brauchen nich mit de Glocken zu läuten. Eli hat se nie leiden können. Weißte, Jettchen, nur mit de Singeuhr hat er immer seine Freude gehabt.« Aber kaum einer hörte auf Minchens Worte, und alle ringsum wurden seltsam ergriffen und beunruhigt durch die ungewohnten Klänge, die, mit dem roten Halblicht gemischt, gleichsam ein unheimliches Naturereignis, Krieg und Pestilenz, zu verkünden schienen. Die Männer kamen sehr ernst zurück. »Wißt ihr schon«, rief Salomon Gebert, als er in die Tür trat, »daß der König heute nachmittag gestorben ist? Die ganzen Linden sind schwarz von Menschen, und draußen bringen die Truppen jetzt schon die Fahnen nach dem Schloß.« Hannchen, die sich als Frau Königliche Kommissionsrätin dem Hofe eng verbunden fühlte, brach sogleich in Tränen aus. Aber Rikchen fragte Salomon sofort nach geschäftlichen Dingen, die mit dem Tode des Königs zusammenhingen. Jason war noch nachdenklicher als vordem. »Ja«, sagte er, »mit dem alten Herrn geht eine ganze Zeit dahin«, und man wußte nicht, meinte er den König oder seinen alten Onkel Elias Gebert. Minchen aber rief: »De Glocken haben nun wirklich genug geläutet; meinethalben könnten se aufhören – und Eli hat se auch nie leiden mögen ...« &&x Und die Tage, die schon bei Onkel Elis Lebzeiten ruhig dahinflossen, sie wurden nun für Jettchen bei Tante Minchen noch stiller und einförmiger. Denn in das kleine alte Haus am Hohen Steinweg, das nicht viel breiter als ein preußischer Grenadier war, da drang eben nichts von dem Rauschen und Lärmen und dem Gewoge, das ringsum alle Straßen füllte, von den tausend Vermutungen und Gesprächen, die Hoffnung und Unzufriedenheit spiegelten und die in den Armseligkeiten des politischen Lebens Wichtigkeiten sahen. Höchstens, daß Jason einmal zu Jettchen kam, mißgestimmt über die alte Aussichtslosigkeit des öffentlichen Lebens und doch frohlockend, weil er das alles hatte kommen sehen. Natürlich hätten die Stadtverordneten nicht eine Petition um eine neue Verfassung an den neuen König gerichtet, sondern den Gedanken in aller Stille auf den Rat kluger Vorsicht erstickt. Nicht einmal den Mut hätten diese Zinngießer, sich eine abschlägige Antwort zu holen, und dann wunderten sie sich noch, wenn man ihnen auf dem Kopf herumträte. Oh, es könnte ein Lustspiel sein, wenn es keine Tragödie wäre! Aber solche Besuche Jasons oder Ferdinands, der mit dem blühenden Frühling sein altes Herz wieder entdeckt hatte, das waren doch immer nur geringe Minuten. Und wenn die Frauen auch etwas länger vorsprachen, denn Frauen haben immer weniger zu sagen und mehr zu sprechen – und besonders Tante Hannchen, die nun zu dem armen Wolfgang auch vorübergehend Onkel Eli in ihr Programm aufgenommen hatte, sie war jetzt recht ausdauernd in ihren Reden –, ja, wenn die Frauen auch länger blieben, die ganzen lieben Tage und die ganzen hellen Nächte war eben Jettchen doch völlig allein mit Minchen, die meist so schwach und kümmerlich war, daß Jettchen sie kaum auf Minuten verlassen konnte. Und dann war ja das alte Minchen, wie das bei sehr betagten Menschen wohl vorkommt, nicht mehr so recht bei Sinnen, und auch deshalb durfte Jettchen sie nicht sich selbst überlassen. Das brave alte Minchen vergaß nämlich immer wieder und wieder die eine letzte, neue und ungewohnte Wahrheit, die plötzlich in ihr Leben gekommen war und die der Erkenntnis eines halben Jahrhunderts entgegenstand. Und das Schicksal meinte es fürder mit der alten Tante Minchen sogar dermaßen gut, daß es auch nicht mehr duldete, daß Minchen sich in der kurzen Frist, die ihr noch gestattet war, mit ihrem verblichenen violetten Morgenrock von Zimmer zu Zimmer zu huschen, daß Minchen sich in den wenigen Wochen an diese neue und vernichtende Wahrheit gewöhnte. Nun glaube man nicht etwa, daß Minchen ihren abwesenden Gatten vermißte und sich klagend nach ihm sehnte –, nein, im Gegenteil, das alte Frauchen schimpfte recht kräftig den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein mit dem alten Eli herum, der doch längst fünf Schuh tief unter der Erde lag und der nunmehr schon im Heidenhimmel in seinen gelben Stulpenstiefeln und in seinem besten blauen Frack mit den echten Goldknöpfen an der Ecke stand und die Rosse des Herrn von Helios, des Sonnengottes, einer ebenso vernichtenden Kritik unterzog, wie er sie weiland auch für Herrn von Naglers ostpreußische Wallache vor dem Prenzlauer Wagen nicht gespart hatte. Minchen aber nahm, wie gesagt, von dieser Wohnungsänderung des alten Eli keine Notiz – erkannte das einfach nicht an. Und so kam es, daß sie deshalb durchaus unzufrieden mit Eli war, und da Eli zudem noch erklärlicherweise auf all ihre Anwürfe sich schweigsam verhielt, so kodderte sie sich in einen[[Anzahl]] immer wachsenden Unmut gegen ihren alten Ehegatten hinein, über den sie sich vordem doch wahrlich nicht zu beklagen gehabt hatte. Schon des Morgens beim Kaffee begann das. »Verstehst du, Jettchen, wo der Mann heute bleibt?« fragte Minchen, schüttelte den Kopf, daß die Tüllhaube nur so flog, und schob indigniert ihre Tasse zurück. »Was heißt das, nicht zum Kaffee zu kommen? Er wird doch wirklich von Tag zu Tag komischer.« Wenn Jettchen dann die Tränen nicht zurückhalten konnte, griff sich das alte Minchen an das Haar und rückte mit ihren kleinen, welken Fingern die puffige Haube zurecht. »Richtig, richtig, Jettche, ich hatt's doch wieder vergessen!« Aber nach zehn Minuten hockte das alte Minchen trotzdem schon vor ihrem Efeubogen auf ihrem Fenstertritt, auf dem goldenen Sessel, hatte ein verbrauchtes Leinenhemd Onkel Elis hervorgezogen und stichelte mit hastigen Bewegungen daran herum. »Ich sag dir nur das eine, Jettchen: heirate nicht; ich versichere dir, was die Männer für Hemden zerreißen, ist unglaublich.« Und wie weh es auch Jettchen tat, das mit anzusehen, so brachte sie es doch bald nicht mehr übers Herz, diese Dinge vor Minchen zu verbergen. Und auch der alte Stosch sagte, man solle ihr das ruhig lassen, bis sie allein damit aufhöre, denn das wäre doch eigentlich die beste und erfreulichste Art für die alte Frau, sich mit dem Geschehenen abzufinden. Aber eines schönen Nachmittags – das Laub an den Bäumen war schon nicht mehr gar so licht und hellgrün, und nur im Kalender war noch nicht Sommer –, da kamen Salomon und Rikchen zusammen, beide zusammen, was doch sonst nicht geschah, und ihrem ganzen Auftreten sah man es an, daß sie über Zeit verfügten, ja, daß sie sich gleichsam schon auf Urlaub fühlten. Wie sie hereintraten in das Zimmer, würdig, Arm in Arm, wohlgefällig und lächelnd, da hatten sie etwas von einem jungen Ehepaar und glichen gar nicht dem alten Doppelgespann von sonst, das nun schon über fünfundzwanzig Jahre einmal hü und einmal hott nebeneinanderher trottete. Nein, in ihrem ganzen Wesen lag so eine würdige und selbstgefällige Feierlichkeit. Salomon Gebert war besonders glatt und frisch rasiert, hatte einen[[Anzahl]] neuen, rehbraunen Gehrock an von so elegantem Schwung in der Taille, daß man sofort sah, daß sein Bruder Jason dabei Pate gestanden hatte, und seine schwarzseidene Weste trug in einem noch tieferen Schwarz ein Muster von Tulpen und Nelken. Sie[[1]] war das Neuste für die Landestrauer. Ja, jetzt waren Salomon Gebert {{&}} Co besser in den schwarz in schwarz gemusterten Dessins versehen als im vergangenen Jahr, und man brauchte die Kunden nicht einen[[Anzahl]] Tag auf die Erledigung ihrer Anträge warten zu lassen. Die Kisten und Kollis marschierten nur so aus dem Laden hinaus. Das Geschäft tat überhaupt von selbst seine Arbeit wie ein gutes Uhrwerk. Und das brachte einen[[Anzahl]] Lichtschein von Zufriedenheit in Onkel Salomons ganzes Auftreten. Selbst die Siegelringe an den Fingern und der Karneol auf der Busennadel schienen davon einen[[Anzahl]] höheren Glanz bekommen zu haben. Über Tante Rikchens breite, kleine Gestalt war gleichfalls ein Schein von Wohlbehagen ausgegossen, und durch die Muster und Maschen ihres schwarzen Kantentuches, das sie über die Schulter genommen hatte, blickte ihr immer noch pralles und zartes Fleisch mit hundert munteren Augen. Das blaue Taftkleid aber mit den kleinen gelben Röschen machte sie jünger und schlanker und stand ihr gut zu Gesicht und Haar. »Na, Tante«, rief Jettchen, »ihr seht doch so festlich aus – beinahe wie Brautleute.« »Ja«, sagte Salomon, »wir sind auch auf der Hochzeitsreise, wir wollen nämlich morgen nach Karlsbad fahren.« »Und denke dir«, sagte Rikchen und legte ihrem Mann die fette Hand auf die Schulter, »ich fahre dieses Mal mit, und dann werden wir noch, wenn Salomon die Kur gut bekommen ist – denn weißt du, er hat dieses Jahr ja sehr viel Aufregungen gehabt –, dann werden wir noch eine große Schweizer Reise machen. Salomon will ja immer schon geschäftlich auch einmal ein paar Plätze wie Zürich und Luzern besuchen, und das will er dann gleich damit verbinden. Die Hauptsache sind und bleiben uns aber doch die Schweizer Berge und die sonstigen Sehenswürdigkeiten.« »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindungen Pracht auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, das den großen Gedanken deiner Schöpfung noch einmal denkt«, zitierte Salomon lächelnd und schlug mit dem beringten Zeigefinger den Takt; denn diese Poesie kannte er noch aus grauen Schuljahren her. &&x Aber Rikchen hatte ihre eigene Poesie. »Soll ich den ›{{Ridji}}‹ und die Jungfrau von dir grüßen?« sagte sie und hob die Augen entzückt zur Decke. Denn da der {{Rigi}} für sie etwas durchaus Fremdländisches war, so sah sie nicht ein, warum sie seinen Namen nicht höchst fremdländisch aussprechen sollte. »Siehst du«, sagte Salomon, »wenn du jetzt nicht hier bei Tante Minchen bliebest, dann hätten wir dich wirklich zu gern mitgenommen. Na, eben nächstes Jahr, Jettchen.« »Aber weißt du«, meinte Rikchen, »Potsdam ist doch auch ganz schön.« Jettchen lachte. Gewiß, Potsdam wäre ja zwar nicht Luzern, aber endlich keineswegs zu verachten. »Nun«, begann Salomon wieder, »da sollst du einmal sehen, wie ihr da wohnen werdet. Drei Schritt rüber, und ihr seid mitten drin im Park von Sanssouci.« »Ja«, unterbrach Rikchen, und man hörte ihr die Freude an, das sagen zu können, »wir haben nämlich gestern für euch bei Sommerguths zwei Zimmer gemietet. Er kam nach Berlin herein wegen der Abrechnung, und da hat sich das bei der Gelegenheit so gemacht.« »Ach wie nett – bei Sommerguths!« rief Jettchen, und sie freute sich wirklich, denn sie kannte die alten Sommerguths – der Mann war seit fünfundzwanzig Jahren in Onkel Salomons Potsdamer Weberei Werkmeister –, sie kannte Sommerguths gar wohl, und sie war immer entzückt gewesen von dieser einfachen und sauberen Häuslichkeit und den kleinen und hellen Gartenzimmern. »Sowie es Stosch Minchen erlaubt«, begann Salomon und setzte die Miene eines Bärbeißers aus den Ifflandschen Stücken auf, der sein weiches Herz unter der Maske eines Menschenfeindes verbirgt, »da macht ihr also, daß ihr hier herauskommt. Ich habe heute erst mit Stosch gesprochen. Jetzt wäre natürlich noch keine Rede davon, sagte er, aber er hoffe mit Sicherheit, Minchen bald wieder soweit zu haben.« »Gewiß«, meinte Rikchen, »Stosch sagt auch, daß ja bei Minchen eine neue Umgebung überhaupt Wunder tun könnte.« Die alte, kleine, schiefe Tante Minchen hatte währenddessen ziemlich teilnahmslos auf ihrem Fensterplatz in dem Efeubogen gesessen und scheinbar kaum auf das Gespräch geachtet. Das zerschlissene alte Hemd von Onkel Eli, das sie auf den Knien hielt, war ihr viel wichtiger. Aber jetzt horchte Minchen auf, und plötzlich sagte sie etwas, was man dem kleinen, verwelkten und verdorrten Frauchen gar nicht zugetraut hätte und was allen, die es hören mußten, die Tränen in die Augen trieb. »Ich danke dir, Salomon«, sagte sie ganz ruhig und leise, mit der matten und hellen Stimme einer Grille im Spätherbst, »ich danke dir – es ist sehr gut und liebenswürdig von dir –, aber mein Eli und ich, wir haben uns schon unsere eigene Sommerwohnung dies Jahr gemietet – draußen vorm Schönhauser Tor. Eli ist schon rausgezogen, und ich muß hier bloß noch 'n bißchen was an seine Sachen in Ordnung bringen, dann zieh ich auch raus.« Salomon faßte sich zuerst und rief: »Unsinn, Minchen, Unsinn – so was sagt man nicht.« Und Jettchen, die zu Minchen geeilt war und sie umfaßt hatte, beschwor sie auch, doch nicht so zu sprechen. Das kleine Minchen aber schien im Augenblick wieder ganz anteillos und stichelte weiter auf das zerschlissene Hemd los, als läge ihr viel daran, recht bald mit dieser Arbeit fertig zu werden. »Also«, sagte Salomon noch einmal bestimmt und laut, als dulde und erwarte er als derzeitiger Senior aller Geberts keinen Widerspruch, »also ... dann zieht ihr, sobald es geht, heraus nach Potsdam. Und nun, Jettchen« – Salomon setzte sich plötzlich in Positur und rieb sich mit großen Bewegungen die Hände, und auch Rikchen veränderte sich sichtlich und lächelte wohlgefällig und strahlend –, »und nun, mein liebes Jettchen, kommen wir zu dir. Du kannst dir denken, mein Kind, daß ich Berlin nicht verlassen würde, wenn ich deine Angelegenheiten nicht zuvor geordnet hätte oder so weit geordnet hätte, daß keine Unklarheiten mehr bestehen. Seit vergangener Woche sind wir nun glücklich mit Benjamins auch auseinander, ohne daß wir bei der jetzigen Lage der Dinge – denn der Eisenbahnmarkt hat sich ja unter dem neuen König sehr gehoben –, ohne daß wir gerade besonders viel Schaden gehabt hätten. Und nun haben wir eigentlich nur noch die gerichtlichen Formalitäten zu erledigen. Ich lasse mich die Sache mit Julius etwas kosten, damit es so wird, wie wir es wollen; ich lasse sie mich sogar viel kosten, Jettchen – mehr als man glaubt; aber für dein Glück ist uns eben nie etwas zu teuer gewesen. Und weißt du, ich sage mir immer: Mein Geld kann ich mir ja immer wieder verdienen; darum ist es nicht schade. Doch wenn ich erst einmal hier in Berlin meinen[[Besitz]] Namen verloren habe – den bekomme ich nicht wieder ... und unsere Enkel auch nicht.« So sprach Salomon Gebert, und auch aus dieser Rede vernahm man, daß er sich ein wenig gern sprechen hörte. Rikchen aber saß dabei und betrachtete ihren Mann mit bewundernden Blicken, und sie fand sich und ihr ganzes Gehaben so schön und rührend gut, daß ob ihrer eigenen Herzensvollkommenheit ihre Augen feucht wurden und sie nur noch ganz leise und gepreßt sprechen konnte. »Siehst du, Jettchen«, sagte sie, »wir haben ja von je nur dein Bestes gewollt, und wenn wir wirklich einmal einen[[Anzahl]] Fehler gemacht haben sollten, so sind wir auch immer gern bereit, ihn wiedergutzumachen – und wir waren dir doch nie im Wege ...« Den Schluß des Satzes brachte Tante Rikchen nicht heraus, und sie wandte sich schluchzend ab und suchte in ihrem perlgestickten Pompadour nach einem Batisttuch. Jettchen küßte Onkel Salomon und bedankte sich bei Tante Rikchen; sie sagte, daß sie sich sehr freue und daß Onkel wirklich so gut und großmütig an ihr handle. Jettchen sagte das, während sich doch nichts in ihrem Innern regte als Angst und Ungewißheit. Wie hatte sie diesen Augenblick ersehnt; und nun, da er gekommen war, wußte sie nichts mehr, auf das sie sich freuen sollte. Und Onkel Salomon ging umher mit der Miene der Feierlichkeit und gab Verhaltungsmaßregeln. Sein Bruder Jason würde all das Weitere ordnen, und sie hätten sogar Bielfeld {{[Biel¬feld]}} als Rechtsbeistand genommen, der wäre ja sehr geschickt und würde alles schon beschleunigen. Es wäre auch ausgemacht, daß er sie möglichst wenig mit Terminen und Aussöhnungsversuchen belästigen solle. Jason würde ihn auch wieder im Geschäfte vertreten, und Jettchen sollte nichts ohne ihn tun und um keinen Preis eine Unterschrift ohne ihn geben. Aber Rikchen fühlte, daß der Ernst der Dinge jetzt ein Ende haben müßte, und sie begann Jettchen mit ihren Vorbereitungen zu ihrer Reise zu überfallen. Sie[[1]] nähme für die Kurpromenade eine lila {{Change¬antrobe}} mit, und dann hätte sie sich noch bei Behrens {{[Beh¬rens]}} Unter den Linden englische Eßbestecke gekauft für die Reise, zum Zusammenlegen, und bei Ackermann eine Taschentuchkassette aus russischem Saffian und einen[[Anzahl]] ganz neuen Hutkoffer, der gar nicht groß wäre und trotzdem für drei Hüte Platz biete. Und für die Schweiz hätte ihr Salomon eigens eine Taschenausgabe von »Wilhelm Tell« von Schiller besorgt, und sie hätte ihn schon gestern mit vielem Vergnügen zu lesen angefangen; sie wäre ganz begeistert ... wie es nur möglich wäre, daß einer so etwas dichten könne. Und Salomon sagte, daß sie nun gehen müßten, weil sie noch viel zu besorgen hätten, und daß er jetzt ruhigen Herzens abreise, weil er wisse, daß hier alles gut wäre. Jettchen solle nur weiter so lieb und aufopfernd zu Tante Minchen sein, wie sie es bisher gewesen wäre, und dann hoffe er alle gesund und munter wiederzusehen. Ihren Kreditbrief für Mendelssohn habe sie ja noch. Und wenn Jettchen in Potsdam etwas brauche, so könne sie es durch das Geschäft einziehen lassen; er habe Demcke Anweisung gegeben. Rikchen unterbrach ihren Mann, ob Jettchen denn schon gehört hätte, daß Hannchen mit Jenny dieses Jahr nach Charlottenburg zur Frau Könnecke ziehe. Als Königlicher Kommissionsrat, hat Ferdinand gesagt, kann er nicht mehr nach Schöneberg ziehen, da kämen nur noch Pankow und Charlottenburg in Betracht. Jetzt wäre Hannchen mit einemmal Frau Könneckes Garten nicht zu stickig, und die Mücken störten sie auch nicht mehr. Nur habe sie sich ausbedungen, daß man ihr ein nettes Plätzchen im Vordergarten schaffe, weil sie gern Menschen sähe. Jettchen lächelte. Und Rikchen, die doch mit der Zeit so einen[[Anzahl]] Anflug von Gebertschem Wesen angenommen hatte, verstand dieses Lächeln. »Na, laß sie, Jettchen«, sagte sie. »Die arme Frau – sie hat doch so wenig Angenehmes sonst vom Leben.« Tante Minchen aber hatte in der ganzen Zeit sich gar nicht sonderlich um ihren Besuch gekümmert und ihn anscheinend immer wieder vergessen. Und nun nahmen sie Abschied von ihr, und zwar so hastig, daß ihnen vielleicht gar nicht zum Bewußtsein kam, daß das ein Abschied für das Leben war. Aber Salomon drängte und drängte, sie müßten nun fort und er hätte noch mit Jason viel wegen des Geschäfts zu besprechen, er habe schon zweimal heute zu ihm geschickt, aber wo der wieder sei, wüßten die Götter. »Oder die Göttinnen«, sagte Rikchen mit einem Lächeln in den Mundwinkeln. Und Salomon, der würdige Salomon Gebert, lachte laut und sagte zu Jettchen, daß er an seiner Frau in letzter Zeit immer neue Seiten entdecke. Jetzt würde sie sogar witzig. Jettchen aber war über und über rot geworden. &&x Und alles kam, wie es kommen mußte, alles wie es kommen mußte. In einem schönen, breiten Landauer mit hellen Polstern, die man ganz zu einem Ruhelager zusammenschieben konnte, in einer schönen Glaskutsche fuhren an einem hellen und warmen Julinachmittag Salomon Gebert und Tante Rikchen gen Karlsbad. Sie[[1]] hätten ja vielleicht ein Stück mit der Eisenbahn fahren können und den Wagen dann voranschicken ... und Salomon hatte auch diese Absicht gehabt. Als aber Tante Rikchen davon Wind bekam, lag sie ihrem Mann so lange in den Ohren, diesen verhängnisvollen Plan, auf den sie ja nicht eingehen würde – denn nicht zehn Pferde brächten sie da hinein, und sie würde sich zu Tode ängstigen –, diesen verhängnisvollen Plan aufzugeben, bis er ihn auch für seine Person fallenließ. Unter uns: Vielleicht hätte sich ja Tante Rikchen doch bewegen lassen, mit der Eisenbahn zu fahren, denn ihre Furcht vor diesem schnaubenden Ungetüm wäre schon zu bekämpfen gewesen – aber Rikchen wollte sich um keinen Preis darum bringen lassen, überall zu erzählen, daß sie im eigenen Wagen reisten. Das war zwar nicht ganz richtig, denn der Wagen gehörte durchaus nicht Salomon Gebert, sondern einzig und allein dem Königlichen Kommissionsrat Ferdinand Gebert; aber was tut das – es blieb doch in der Familie. Und dann machte das Tante Rikchen auch nicht etwa plump, sondern sie redete es in einem Ton hin, als ob sie von Jugend an – schon aus Bentschen her – es nie anders gewohnt wäre, als im eigenen Wagen zu reisen. Sie[[1]] sprang auch keinem Menschen damit entgegen, sondern sie warf das so ganz bescheiden und nebenher in das Gespräch ein, als ob es ihr nur eben so einfiel, trotzdem man es eigentlich noch kaum zu erwähnen brauchte; denn gerade das, wußte sie genau, ärgerte ja die andern insgeheim am meisten. Man möge das der guten Tante Rikchen nicht übelnehmen; denn die gute Tante Rikchen war nun einmal so geraten, daß ihr ihre Freuden doppelt so gut schmeckten, wenn sie sie mit dem Ärger anderer Leute würzen und aufpfeffern konnte. Und jeder Mensch muß nun einmal so verbraucht werden, wie er ist. Ja, daß ich es gleich sage – denn man wird mich danach fragen –, Karlsbad bekam dieses Mal Salomon Gebert ausgezeichnet, so gut wie kaum je zuvor. Die Braunen aber, die so lange eingestanden hatten, waren auch glatt und fett in Karlsbad geworden und hatten wieder für die Reise etwas zum Zusetzen. Und wie weiland Exzellenz von Goethe an einem hellen Augustmorgen von der gleichen Stelle im eigenen Gefährt nach der Heimat seines Herzens aufbrach, so fuhr Tante Rikchen auch an einem schönen Augustmorgen, nur einige Wochen früher, auch im eigenen Wagen oder er war doch beinah ihr eigener – gen Süden nach dem Ziel ihrer Wünsche, nach dem »{{Ridji}}« und der Jungfrau, wohlvorbereitet durch die Taschenausgabe von »Wilhelm Tell«. Sie[[1]] war immer noch entzückt, vor allem vom Anfang, allwo der lächelnde See zum Bade ladet. Nur eine Stelle hatte Tante Rikchens höchstes Mißfallen, an der es da heißt: »Seht, Kinder, wie ein Wüterich verscheidet.« Wie konnte das Frauenzimmer ihren Kindern das zeigen! Man zeigt Kindern doch so was nicht! Ja, daß ich es gleich sage – denn man wird mich ebenso danach fragen –, da dem guten Menschen alles nach Wunsch geht, war Salomon Gebert auch sonst mit dem Erfolg der Reise sehr zufrieden. Er knüpfte Beziehungen an in Basel, Zürich und Luzern und sandte mit jeder Post eine Zahl von Dessins nach Norden, reizende Herbstneuheiten, von denen er bestimmt wußte, daß sie die Konkurrenz nicht bringen würde. Wenn je, so würde er dieses Mal der Mann der Saison sein. Tante Rikchen schrieb in jedem Brief an Jettchen, daß sie sich die freien Schweizer Berge – denn seit Wilhelm Tell war doch die Schweiz frei – so majestätisch doch nicht vorgestellt hätte. Aber sie hätte sich überall kolorierte Kupfer gekauft, die ganz naturgetreu wären, und die würde sie Jettchen dann zeigen. Ja, daß ich es ferner gleich sage: Der Königliche Kommissionsrat Ferdinand Gebert zog nicht mit nach Charlottenburg zu Frau Könnecke – er hatte in der Stadt zu tun. Er kam nur manchmal am Sonntagnachmittag auf einem lammfrommen Apfelschimmel herausgeritten; denn er hatte die Notwendigkeit erkannt, sich jetzt dem Volke zu zeigen. Endlich macht doch ein Herr, der reitet, einen[[Anzahl]] ganz anderen Eindruck als einer, der im Wagen fährt oder der etwa zu Fuße geht. Ach, und wenn die gute Tante Minchen noch vor die Tür gegangen wäre, sie hätte es wieder sehen können, daß eine richtige Person, die wie eine Bachstelze getrippelt wäre, aus Tante Hannchens Hause gekommen wäre und sich mehr als einmal nach einem Fenster umgeblickt hätte. Nur ob es noch dieselbe Person wie im vergangenen Sommer gewesen wäre, das ist eine Frage, zu deren Beantwortung wir uns nicht für kompetent erklären können. Tante Hannchen aber schlief draußen in Charlottenburg in dem roten Zimmer, und über ihrer einsamen Lagerstatt spielten gleichsam ihr zu Spott und Hohn die Bacchantinnen mit den Panthern. Jenny aber hatte Jettchens Zimmer, und sie freute sich darüber, fühlte sich schon als Dame und trug sich mit Heiratsgedanken. Nein, sie würde nicht ihrem Mann auf und davon gehen ... und all ihre Freundinnen hätten gesagt, daß sie es auch nicht tun würden. Und beides, was Tante Hannchen sich erbeten hatte, geschah. Der Platz im Garten war so, daß alle Leute sie sehen konnten, und Hannchen saß dort ganze Nachmittage und nahm {{Cour}} ab, jeden grüßend, den sie auch nur kannte von irgendwoher, seit wer weiß wann; ganz gleich, ob sie vordem mit ihm auf dem Grüßfuß gestanden hatte oder nicht. Und der zweite Wunsch, daß Frau Könneckes Tochter Emilie möglichst im Hintergrund bliebe, damit nicht Jennys Kindergemüt vergiftet würde, der wurde ihr auch erfüllt. Denn Frau Könneckes brave Tochter Emilie – ach Gott, es ist mir peinlich, diese Sache zu erwähnen, aber endlich muß es doch gesagt werden – sie hatte die mütterliche Mahnung, die da sagte: »Laß dir nich mit die Männer ein ... kaum daß du sie ankiekst, hast du schon 'n Kind« – sie, Emilie Könnecke, hatte diese mütterliche Mahnung nicht befolgt. Und wenn der zukünftige Vater auch Lakai im Charlottenburger Schloß war und, wie Frau Könnecke meinte, ihr wohl heiraten würde, so war es doch zum mindesten sehr fraglich, ob er das gleich beim ersten Kind tun würde. Endlich muß aber noch erwähnt werden, daß Jennys wegen die arme kleine Emilie gar nicht so im Hintergrund gehalten zu werden brauchte, denn schon bei der ersten Begegnung, schon beim Mieten der Sommerwohnung, hatte der erste Blick Jennys genügt, um ihr über den interessanten Zustand der Haustochter keinen Zweifel zu lassen; und es hätte wenig gefehlt, so hätte sie gleich vor Vergnügen laut losgequietscht. Denn wenn wir in jenen glücklichen jungen Jahren sind, so pflegen wir ja manche Dinge für ungemein lustig anzusehen, die sehr ernst sind, und über manches zu lachen, was tiefer und geheimnisreicher und machtvoller ist, als daß wir es je in unserem Leben ergründen könnten. Ja, daß ich es gleich sage, denn man wird mich auch danach fragen: Onkel Jason lag sich wieder mit Demcke in den Haaren. Aber dieses Mal wagte der alte Demcke doch nur so ganz verstohlen gegen Jason Front zu machen, denn er hatte plötzlich das Gefühl, als ob dieser andere nicht nur der Stärkere, sondern auch der Wertvollere und Weitsichtigere hier im Geschäft wäre. Und so nörgelte er nur so ganz heimlich an seinen Anordnungen. Da nämlich in diesem Jahr wirklich viel im Geschäft zu tun war, so gab es ja für Jason Gebert viel Arbeit, von morgens bis abends, und das erstemal seit langem machte ihm diese Arbeit Freude, denn es war doch eine Beschäftigung, die ihn von seinen Gedanken abzog, und eine solche mußte er sich erhalten. In den Wochen und Monaten vorher bei all seinen Büchern hatte Jason Gebert keine Ruhe gefunden und war immer wieder hinausgestürmt in die lauen oder frischen Abende, um nach wenigen Stunden – angewidert durch die lärmvolle Lustigkeit bei Louis Drucker und durch den Genuß des Weines nur klarer, unbetäubter und verbissener –, um nach wenigen Stunden wieder dorthin zu flüchten, allwo wir wähnen, daß auf Erden unsere Sehnsucht ein Ende habe. Nun aber hatte die gleichmäßige Beschäftigung des Tages, hatten diese Hunderte von Dingen, die an Jason Gebert herantraten, die Briefe, die zu diktieren waren, und die eiligen Nachbestellungen, die herausgehen mußten, der ganze große Betrieb des Hauses, die Ablieferung der Weber und der Verkehr mit den Vertretern und Reisenden, die Trassierung und das Wandern der Wechsel, dieses Räderwerk des Geschäfts, in dem doch nichts von Belang geschehen durfte ohne seine Order, ohne seine Unterschrift und ohne seine Verantwortung ... all das hatte Jason Gebert dadurch, daß es ihm bewies, daß es etwas Höheres gab als die kleinen Leiden der Person, daß eine Macht lebte, die außerhalb sich befand und der man dienen müsse, von Menschen geschaffen und über Menschen herrschend ... all das hatte Jason Gebert geholfen, Ruhe zu finden. Wie hatte er sonst über die Menschen mit den Scheuklappen gespottet, die von der ganzen Welt nur den einen[[Anzahl]] Punkt sahen, auf den sie losmarschierten – irgendein Wort, von dem sie glaubten, daß es am Ende ihres Weges mit leuchtenden Buchstaben aufgerichtet war. Nun hatte ihn selbst der Zauberklang eines solchen unbekannten und ungenannten Wortes erfaßt, und solange seine Rhythmen in ihm und um ihn tönten, solange schlief sein Dämon und seine Sehnsucht. Des Abends, wenn sie wieder erwachten, wenn Jason Gebert, das Schlüsselkästchen in der Hand, heimwanderte, von der Spandauer Straße durch die Königstraße dahin, in deren Blau die Laternen eben aufzuckten und schwer und widerwillig in der staubigen Sommerwärme ihr erstes Licht gaben – dann schlichen wohl noch seine alten Gespenster hinter ihm her, aber die volle Macht bekamen sie nicht mehr über ihn. &&x Ach ja – was hatte Jason Gebert aber auch für eine Zeit hinter sich! Tage und Nächte, von denen es heißt, daß man sie seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Wie oft war er die ganze Nacht ruhelos von Zimmer zu Zimmer gegangen, und dann, wenn der Morgen sein erstes Licht durch die hohen Fenster schickte, war er über die grüne Bergere gestürzt, beide Arme vor dem Gesicht, und war traumlos, wie ohnmächtig eingeschlafen, um nach kurzen Stunden aufzufahren mit dem festen und unerschütterlichen Entschluß, zu Jettchen zu eilen und mit ihr zu sprechen. Nein, das könne nicht so weitergehen, und sie müsse doch sehen, wie er ohne sie leide. In seinen Gedanken war nun das alles schon geschehen, und er erblickte Jettchens hohe Augenbrauen halb gesenkt, und er fühlte den Blick der Augen, wie er zu ihm herüberkam – langsam und verträumt –, und er vernahm ihre Worte, daß sie ja immer schon ihm gehört habe und daß sie sich dessen vordem nur nicht bewußt geworden war. Diese Worte ließen sein Herz ganz still werden vor Glück. Während Jason Gebert sich umzog, pfiff er dann ein Lied in den hellen Tag, und er konnte gar nicht schnell genug die Treppe herunterkommen. Aber schon vor der Tür wurde er seltsam kleinlaut, und seine hinkenden Schritte wurden so langsam – so langsam in den Morgen hinein; die Angst machte ihm das Herz schlagen, und er fand kaum den Weg hinüber. Er atmete auf, wenn ihm einfiel, daß er irgend etwas vergessen hatte, oder wenn er einen[[Anzahl]] anderen Vorwand fand, um umzukehren; und dann, ja dann war sein hinkender Schritt gar nicht so langsam. Ja, es kam vor, daß Jason Gebert schon drüben am Hohen Steinweg die Klinke in der Hand hatte und sich doch wieder davonschlich. Und selbst wenn er den Mut gefunden hatte hineinzugehen, so fragte er nach den alten Leuten, gab sich Mühe, unbefangen zu erscheinen, und war doch seltsam mürrisch und wortkarg, damit ihm nur kein Laut davon entschlüpfe, was ihm auf der Seele brannte. Und wenn er Jettchen fast mit abgewandtem Gesicht die Hand zum Abschied gereicht hatte und die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, so begann für Jason Gebert ein neuer Tag mit neuen Qualen. Jetzt aber, unter der gleichmäßigen, zähen Tätigkeit im Geschäft, war ihm Ruhe geworden. Das war wie Asche auf eine Lavaschicht herabgefallen, und es hatte sie ganz bedeckt mit ihrer grauen Alltäglichkeit, so daß die Glut nicht mehr zum Licht kam und nur in sich selbst noch weiterzehrte und verglomm. Damit sie nicht wieder zu den alten Flammen würde, saß Jason Gebert jetzt von morgens bis abends im Kontor, und selbst des Sonntags ging er hinauf, um nach der Post zu sehen und Bücher nachzurechnen. Und daß ich es gleich sage – denn man wird mich ebenso danach fragen –, Kößling war nicht mehr alltäglich im »Royal« am Schachtisch zu finden, und es kam schon vor, daß er eine Woche nicht dahin zurückkehrte. Ein paar kleine Erfolge, Angebote zur Mitarbeiterschaft für Journale und Beiträge zu Almanachen, ja sogar so eine Art von Zensortätigkeit für einen[[Anzahl]] großen Verlag – das war ihm mit einemmal zugekommen, er wußte selbst nicht wie. Und dieser leichte Ansporn hatte genügt, um seine Kräfte wieder zu erwecken. Er selbst war mit den Dingen wenig zufrieden. Es war nichts von dem, was er wollte; aber es machte sich doch wenigstens bezahlt, und man verlangte solche Ware. Jenes, von dem er glaubte, daß nur er und niemand sonst es sagen würde, konnte er ja endlich später schreiben. Jedenfalls saß er doch jetzt wieder am Tisch vor dem Fenster, sah wieder über den kleinen, schmalen Garten mit seinem verrosteten Eisengittern fort, der ganz verwildert und verlassen war, sah den Huflattich erst mit grünen Tupfen aufsprießen und dann mit seinen breiten Blättern den Boden, die Wege und den dürren Rasen bedecken, sah die kahlen Wipfel der Ulme hinten sich erst ganz zart umfloren und sich mählich dichter, fester und massiger zusammenschließen, sah die ersten warmen Abende ihre grauen Tücher über sie breiten und hörte ganz dumpf das Rauschen, wenn der Wind in schweren, sommerlichen Laubmassen wühlte, während er tagaus, tagein Seite auf Seite mit den Schriftzügen irgendeiner romantischen Geschichte bedeckte, die von einem Ritter erzählte, der unter Heinrich dem Löwen im Orient in Gefangenschaft geraten war und unerkannt als Bettler in die Heimat zurückkehrte, oder die er mit irgendeiner Spukgeschichte von Schloßgeistern und verschlagenen Reisenden füllte, derart, daß sie sich wie eine Scharade lustig und verliebt löste. Gewiß, Kößling schrieb das mit halber Seele und halbem Geist, aber es beschäftigte ihn doch, und es machte ihm eine uneingestandene Freude, die Geschichten zusammenzubauen; und immer kam wenigstens irgend etwas von ihm selbst hinein. Vielleicht eine Schilderung aus Braunschweig oder ein Hauch von dem Grausen schlafloser Nächte in den ihm unvertrauten Räumen, so daß es ihm doch nicht ganz ohne Nutzen blieb. Und dieses kleine, bescheidene Stückchen Boden, das Kößling unter seinen Füßen spürte, hatte ihm Ruhe gegeben, und seine Gedanken, die lange Zeit wie verflatterte Vögel an den Grenzen des Irdischen umhergeirrt waren und immer wieder sich den Kopf eingestoßen hatten und zurückgetaumelt waren – sie waren wieder still mit eingezogenen Schwingen heimgekehrt. Ach Gott ... endlich ist der Mensch ja so arm, und den ganzen Himmel gibt er sofort und gern hin für den kleinsten Fußbreit von Erde, auf dem er nur stehen kann. Und vielleicht gerade weil Kößling Jettchen nicht sah und weil er mit dem gesprochenen Wort in Unfrieden lebte, in den geschriebenen Worten aber den Dolmetsch all seiner Gefühle hatte und weil in dem räumlichen Getrenntsein alle Gegensätze zwischen ihm und Jettchen sich gemildert hatten, schien alles besser denn vordem. Nun sagte er sich hundertmal, daß es alles Täuschung war, daß sie ja zusammengehörten. Er hatte sich daran gewöhnt – schwer daran gewöhnt –, Jettchen nicht mehr zu sehen; aber zum Schluß hatte er sich dareingefunden. Jetzt erblickte er in Jettchen so etwas wie eine ferne Geliebte; und seine Träume, die immer bei Ihr waren, waren ihr fast noch mehr zugetan als vordem seine Wirklichkeiten. Denn für unsere Träume gibt es ja keine Hemmungen und keine Entfernungen; und ob sie nun mit dem Gedanken der Liebe spielen oder ferne Wanderziele im Goldduft des Abends liegen sehen – sie schweben so leicht und glücklich dahin, ohne die Traurigkeiten, die doch sonst selbst unsere besten Stunden mit Dornen umhegen. Und endlich – warum sollte das Bild der Hoffnung nicht am Bugspriet seines Schiffes leuchten und ihm voranweisen? Tat man nicht alles, damit sie zueinander gelangen könnten? War nicht aus aller Ungewißheit nun ein stilles und frohes Erwarten geworden? Gewiß, sie sahen sich nicht mehr; aber konnte er nicht jeden Augenblick sie sehen, wo sie auch weilte? Gewiß, sie sprachen sich nicht mehr; aber konnte er nicht jeden Augenblick sie sprechen und ihr alles anvertrauen, wenn er nur die Feder zur Hand nahm? Und ihre Küsse – sobald er nur die Lider senkte, fühlte er sie ja auf seinen Lippen und Augen. &&x Zuerst war ihm das wie ein Schlag gewesen, und er hatte nicht gewußt, wie er die Stufen hinabfinden sollte, als ihm das alte Fräulein Hörtel, fast ohne die Tür zu öffnen, zugerufen hatte, daß Herr Jason Gebert nicht zu Haus wäre und daß Fräulein Jettchen nicht mehr hier wohne, sondern zu den alten Herrschaften nach dem Hohen Steinweg gezogen sei. Und Kößling war bis in die Nacht hinein umhergelaufen, straßauf, straßab, um vielleicht Jason Gebert zu treffen. Und dann war er am andern Tag heraufgekommen – ganz früh –, und er hatte eine Weile warten müssen, bis er Jason Gebert sprechen konnte. Noch oft in der nächsten Zeit war Kößling nun zu ihm gegangen; aber er hatte Jason meist nicht zu Haus angetroffen, ja, einige Male hatte es ihm sogar geschienen, als ob man dies nur vortäusche. So waren seine Besuche seltener und seltener geworden und hatten endlich ganz aufgehört. Nicht, daß sich etwa im Wesen Jason Geberts ihm gegenüber irgend etwas ausgesprochen hätte, was auch nur als Unfreundlichkeit ausgelegt werden konnte – er war so taktvoll und zuvorkommend wie stets, vielleicht etwas weniger warm; aber Herzlichkeit war ja nie Jason Geberts Art gewesen. Nur das eine: Wenn Kößling von Jettchen begann, dann wußte Jason Gebert immer schnell das Gespräch auf ein Thema überzuspielen, das ihnen beiden geläufig war, wußte irgendeinen Köder auszuwerfen, der Kößlings Widerspruch weckte, und schon war der von seiner ersten Frage fortgezogen. Jetzt war Jason Gebert für Kößling wieder völlig der gleiche, der er für ihn Vorjahr und Tag war: schillernd, feinsinnig, interessant und absprechend; der Mann von Grazie mit der Vorliebe für den Schnörkel in seiner ganzen Sprech- und Denkweise; der Plauderer, mit dem er Stunden in Erinnerung an irgendwelche Bücher verbrachte; der amüsante politische Spötter, der zum Schluß ebenso kühl und ebenso verbindlich ihm die Hand reichte wie zu Anfang, ohne daß Kößling auch nur einen[[Anzahl]] Schritt in sein Lager eingedrungen wäre. Es war jetzt wieder, als ob sie nie irgendwelche Berührung gehabt hätten, außer auf dem neutralen Gebiet ihrer geistigen Liebhabereien. Wie Jason Gebert jetzt ohne Jettchen lebte, was er trieb, wie er sich fühlte, von alldem, was sein ureigenstes Ich betraf – davon erfuhr Kößling nicht ein Wort, wenn sie sich vielleicht einmal bei Stehely trafen oder wenn sie über den Schloßplatz fort im Menschengewühl die Linden hinauf- und hinabgingen. Ja, Jason Gebert hatte nicht einmal den Tod des alten Onkel Eli ihm gegenüber erwähnt, trotzdem Kößling von Jettchen erfahren hatte, daß er Jason Gebert sehr nahe gegangen war. Und zu jenen nächtlichen Spaziergängen, da – unter dem Einfluß der Stunde, im Banne der Ruhe ringsum, gleichsam unbeobachtet von der hellen Welt – Jason Gebert einmal für ganze Minuten ganz er selbst wurde, konnten sie sich nicht mehr zusammenfinden. Wohl hatte Kößling ihn gebeten, ob er ihn nicht vom Geschäft abholen dürfe; oder er wollte auch einmal des Abends bei ihm anklopfen, ob er dann mitkäme. Aber immer fand Jason Gebert einen[[Anzahl]] Ausflucht. Und er, Kößling, wünschte doch jetzt, gerade jetzt, Jason Gebert nahezukommen; es gab Zeiten, in denen er eine fast kindliche Zuneigung zu ihm empfand. Denn jetzt, da vielleicht schon in wenigen Wochen das Glück in sein Haus kommen konnte, fühlte Kößling erst, was er Jason für Dank schulde und daß jener der einzige Mensch in seinem Leben war, der ihm Gutes erwiesen hatte. All seine Härte und seine Verbissenheit, ja dieser ganze angeborene Haß, den der Arme, Kämpfende und Aufsteigende immer dem Reichen, Ruhigen und Verweilenden gegenüber haben muß – denn die Bitterkeiten des Lebens machen uns ja so furchtbar ungerecht –, er war ganz verflogen. Aber jetzt, da er nun immer die Hände ausstreckte und wartete, daß man die seinen ergriffe, schritt der andere mit verkreuzten Armen neben ihm. Ja, und daß ich es endlich sage, denn man wird mich auch danach fragen: In dem Streit, der zwischen Geheimrat Stosch und Tante Minchen ausgebrochen war, siegte Tante Minchen. Sie[[1]] wollte ihre Sommerwohnung beziehen, und sie bezog ihre Sommerwohnung und ließ sich von solch einem Doktor überhaupt nicht dreinreden. Man pflegt von so alten Leuten zu sagen – und Tante Minchen war nun auch bald achtundsiebzig Jahre –, daß sie sterben wie ein Licht, das ausgeht, daß sie schwächer und schwächer werden und dann langsam erlöschen; aber ich habe immer gefunden, daß so ein Licht, bevor es sein Leben hingibt, unruhig und angstvoll hin und her zuckt, als hätte es eine Ahnung seines nahen Todes, und daß es endlich noch einmal krampfhaft und hell aufflammt, ehe es in die Dunkelheit versinkt. Nein, Tante Minchens Leben versank ganz still in die Nacht. Es war so wie eine Quelle, die rieselt, leiser und dünner rieselt, nun nur noch tropft, zäh und schläfrig, und dann für immer versiegt – man weiß nicht mehr, wann der letzte Tropfen verflossen ist, man weiß nur, daß die Quelle versiegt ist. So ging Tante Minchen dahin an einem der ersten Augusttage des Jahres 1840, so leise glitt sie hinüber wie ein Blatt, das im Herbst vom Baum fällt und zur Erde gleitet durch die müde, durchsichtige Luft. Sie[[1]] ging fort mit der sinkenden Sonne, mit dem letzten Lichtschein; es war, als ob die Sonne sie noch gerade aufgelesen hatte, um sie mit hinabzunehmen. Ich aber meine[[Meinung]], daß die kleine Tante Minchen, die doch so an den alten Eli gewöhnt war und sich in der närrischen Welt nicht mehr ohne ihn zurechtfand, daß sie es nicht lange da unten ausgehalten und daß sie sich bald im Heidenhimmel ihren alten Weggenossen wieder gesucht hat. Und wenn später einmal die Fernrohre schärfer und weitsichtiger werden, dann, meine[[Meinung]] ich, wird man auch sicherlich in irgendeiner Himmelsecke das Häuschen finden, in dem Onkel Eli und Tante Minchen am Fenster sitzen, unter den Efeubogen, auf ihren goldenen Thronsesseln. Gewiß, sie werden sich auch wohl da nicht zum allerbesten vertragen; aber da sie beide dabei doch auf Erden schon wie im Himmel gelebt haben, warum sollten sie nicht im Himmel wie auf Erden weiterleben? Schon von zehn Uhr vormittags an wußte der alte Stosch, daß Tante Minchen den Abend nicht überleben würde; Jettchen hatte das Mädchen zu Onkel Jason mit herangeschickt, und der kam eiligst und schweigsam. Ferdinand kam, und gegen Mittag kam noch Tante Hannchen, die gerade in der Stadt Besorgungen hatte – und Max und auch durch irgendeinen Wind hergeweht das alte Fräulein mit den Pudellöckchen. Die saßen nun unten sehr still in dem verlassenen Zimmer – keiner wagte, sich da oben an einen[[Anzahl]] der Fensterplätze zu setzen. Der Kanarienvogel, an den niemand gedacht hatte, schrie ängstlich nach Futter, und alles ringsum schien nur auf die alten Leute zu warten. – Die goldenen Stühle an der Wand, die dunklen Kommoden zwischen ihnen mit den eingelegten Blumensträußen, all die sehnsüchtig winkenden Schäferinnen und die kleinen Savoyardenjungen – sie standen ganz betrübt da, und die große Porzellankuh hatte tiefe, melancholische Augen bekommen. Die Männer sprachen sehr wenig, saßen sich ernst gegenüber, und nur hin und wieder geschah es, daß einer aufstand, auf und nieder schritt, sich mit langen Bewegungen die Hände rieb und sich wieder setzte. Wenn Jettchen herunterkam, so fragte man sie nicht mit Worten, sondern nur mit Blicken. Und sie antwortete immer nur mit einem Achselzucken. Hier gab es nichts mehr zu sprechen – nicht ja noch nein. So ging Viertelstunde auf Viertelstunde, Stunde auf Stunde; die Zeit schien erstarrt zu sein; und das Leben – es war so ein schöner Augusttag draußen – schien dieses Haus schon ganz vergessen zu haben. Höchstens, daß Tante Hannchen hin und her pendelte, sich mit einem Tuch fächelte und scheinbar uninteressiert alles betrachtete; aber wenn niemand gerade hinsah, schrieb sie mit einem kleinen Bleistift ganz unauffällig an die Seite eines Bildchens ihren Namen oder zeichnete ihre Initialen auf die Rückseite eines Kästchens. Warum sollten denn so etwas die anderen nehmen? Und von dem Silber, das auf den Tisch kam – denn Minna hatte Essen bereitet, aber weder Jason noch Ferdinand hatten etwas genommen –, auch von dem Silber schien ihr manches ganz beachtenswert. Den Brotkorb zum Beispiel konnte sie ganz gut gebrauchen. Gegen Nachmittag wurde die gute Tante Hannchen unruhig. »Du«, sagte sie zu Jettchen, »wie lange, meinst du, kann das hier wohl noch dauern? Ich muß nämlich heute noch nach Charlottenburg hinausfahren.« Aber Ferdinand, der in langen Schritten auf und nieder ging, blieb vor dem kleinen, runden Hannchen stehen und sah sie nur mit großen Augen an – nicht böse, nicht mehr böse, aber bitter ernst und schwer traurig. Und ganz leise nickte er mit dem Kopfe dazu. Der eine Blick jedoch, diese eine Bewegung, sie sagten deutlich: ›Zwanzig Jahre ... über zwanzig Jahre muß ich das nun ertragen; und wenn man dich in ein Meer von Gold setzte und wenn alle Engel des Himmels herabkämen und wenn wir alle hier vor deinen Augen verreckten – nichts in der Welt vermöchte dir die Schmutzflecke von deiner Seele herunterzureiben.‹ &&x Als aber dann mit der sinkenden Sonne die kleine Tante Minchen den Weg in das andere Reich hinübergefunden hatte, da war doch Tante Hannchen ganz aufgelöst in Tränen, sie schwamm ordentlich fort wie eine Figur aus Schnee. Sie[[1]] fiel Jettchen um den Hals und sagte mit vertränter Stimme, jetzt wäre natürlich nicht die Zeit, an so etwas zu denken, aber sie möchte doch gern als Andenken an die arme Tante Minchen ihren Malachitschmuck haben und das Spitzentuch – in dem hätte sie die arme Tante Minchen immer so gern gesehen, und Jettchen möchte ihr das doch bald mal heraussuchen. Aber Jettchen, die sehr ruhig war, denn sie hatte lange erkannt, daß es hier keine andere Lösung als den Tod gebe – und sie vermochte nicht zu weinen, nun, da diese einzige glückliche Lösung erfolgt war –, Jettchen sagte ganz schlicht und ohne daß man ihr Erregung anmerkte, daß sie es ja gern tun würde, aber daß sie glaube, kein Recht dazu zu haben. »Das, was du da eben meinst, liebes Jettchen«, warf plötzlich Jason Gebert ein, sehr ernst, sehr scharf und sehr fest, »scheint mir nicht ganz richtig. Soweit ich die letzten Verfügungen von Onkel Eli und Tante Minchen kenne, erbt hier kein Mensch auch nur einen[[Anzahl]] guten Groschen[[1]] außer dir, Jettchen.« Aber Jason hatte seine Worte noch nicht beendet, da war schon Hannchen vom Stuhl aufgesprungen. »Ich begreife nicht, Ferdinand«, sagte sie, und sie bemühte sich, es ruhig zu sagen, aber sie schlug beinahe mit der Stimme über, »ich begreife nicht, was wir eigentlich hier noch wollen. Ich fahre jetzt nach Charlottenburg.« Jetzt hatte die brave Tante Hannchen keine Träne mehr im Auge, und sie nahm ihre Schute von der Kommode, und sie rauschte hinaus mit ihrem fetten Hals – klein, breit, kopfschüttelnd, gefolgt von ihrem Sohn Max –, während Ferdinand Gebert ihr nachblickte mit seinen großen Augen – nicht böse, nicht mehr böse, sondern nur tief ernst und schwer traurig – und ganz leise dazu nickte und wieder nickte. Jason aber verstand diesen Blick und diese Bewegung nur zu gut. »Weißt du, Ferdinand«, sagte er, »nun ist die alte Zeit tot – nun sind wir die alte Zeit. Ich glaube, was nach uns kommt, wird nicht mehr viel sein.« »Bei Gott, Jason, da magst du recht haben«, sagte Ferdinand, ließ sich auf einen[[Anzahl]] Stuhl fallen und schlug ganz urplötzlich – keiner hätte je bei ihm etwas Ähnliches erwartet – die Hände vors Gesicht und schluchzte laut und schmerzlich auf. Und Jettchen eilte auf Ferdinand zu und umfing ihn und suchte ihn zu beschwichtigen, denn es gibt ja nichts Schlimmeres, als einen[[Anzahl]] Mann so weinen zu sehen. Was ich nun noch zu erzählen habe, denn man wird mich ja danach gleichfalls fragen, ist sehr ernst, und ich will es ganz still, sehr kurz und sehr schmucklos erzählen. Ich liebe nicht traurige Geschichten. Früher, als ich jung war und heiterer denn heute, da meinte ich, daß es richtig und stark wäre, das Leben so mitleidlos zu schildern, dieser schönen Bestie, die uns zerfleischt, die Maske herunterzureißen und auf ihr bluttriefendes Maul zu weisen. Heute, da ich weniger heiter bin und diese Bestie nun wirklich kenne, da setze ich nur zu gern ihr die Maske wieder vors Gesicht, und ich bemühe mich, sie noch rosig und zart zu schminken, nur um das bluttriefende Maul zu vergessen. Aber nehmen wir die Dinge nicht zu ernst, nehmen wir Gewesenes und Seiendes immer nur für das, was es ist: schmerzvoll oder schön, ernst oder heiter, immer nur als ein Spiel, dessen Sinn wir nicht kennen. Ja, die schönen Kommoden Tante Minchens mit den bronzenen Beschlägen und den eingelegten Blumensträußen, die schweren, vergoldeten Betten und die goldenen Stühle, das alte Porzellan, sofern es Jason nicht haben wollte – all das schöne alte Zeug, es kam für wenig Geld auf den Trödel. Denn diese Zeit war hart und mitleidlos gegen das Alte. Aber wer sollte es auch nehmen? Jeder hatte ja sein eigenes Haus voll von eigenen Sachen. Und Jettchen, die vielleicht gern irgendein Stück aus Anhänglichkeit behalten hätte, bekam ja nun auch bald ihre eigenen Möbel zurück. Denn die Angelegenheit mit ihrer Scheidung war inzwischen ruhig ihren Weg gegangen, und gleich nach den Gerichtsferien sollte sie zum Austrag kommen. Ja, Jettchen hatte sogar einmal in Gegenwart Jasons bei dem Notar ein Zusammentreffen mit ihrem Mann gehabt, der im wortwörtlichen Sinne niemals ihr Mann gewesen war. Sie[[1]] hatte sich vor dieser Zusammenkunft gefürchtet, weil sie glaubte, daß es für sie mit viel Aufregung verbunden sein würde. Und nun stand sie einem ganz fremden Menschen gegenüber, der sich bemühte, etwas mehr Umgangsformen zu zeigen denn ehedem, und an dem das Jahr Berlin äußerlich wirklich nicht ohne Spuren vorübergegangen war. Jettchen glaubte erst, sie würde noch etwas von jenem eingewurzelten Abscheu empfinden, der sie ehedem vor diesem kleinen Menschen zittern machte, aber sie fühlte nur eine tiefe und dumpfe Gleichgültigkeit, die ebensoweit von jedem freundlichen wie von jedem unfreundlichen Gefühl entfernt war. Das erstemal in ihrem Leben begriff Jettchen die Wandelbarkeit unserer Gefühle, wie sehr doch Liebe und Haß in einem Jahr sich modeln und abschwächen, sie fühlte, wie alles an dem Menschen vorübergeht und wie das, von dem wir glauben, daß es unser Wesen bis in die tiefsten Tiefen aufreißt, nur eine dünne Ackerfurche zieht, die Wind und Regen und Schnee schon in einem Jahr verflachen, verwaschen, vertreiben und kaum noch bemerkbar sein lassen. Nur eine einzige tiefe Furche war durch ihr Leben gezogen worden – und die war unverwischbar. Und da Jettchens Zimmer in Potsdam immer noch auf sie warteten, und da Jettchen durch alles Vorangegangene schwer ermüdet und körperlich und geistig matt geworden war, und da Jettchen draußen bei Tante Hannchen in Charlottenburg doch nur neue Aufregungen fürchtete, so fuhr sie an einem schönen Augusttage – aber er trug doch schon in seiner Morgenfrühe so den ersten Hauch des Herbstes in sich – hinaus nach Potsdam. Sie[[1]] sehnte sich nach Ruhe, und die fand sie hier. Jettchens beide Zimmer, die ganz für sich lagen, waren peinlich sauber, mit ihren weißen Mullgardinen, mit dem {{Tru¬meau}}, von dicken Säulen flankiert, mit dem birkenen Sekretär und mit dem alten Ledersofa, über dem an einer langbepuschelten Quaste ein goldgerahmter, ovaler Spiegel hing. Jetzt aber hatte man ihn – um ihn vor den Fliegen zu schützen – mit einem leichten Kleid von Mull verhängt. Denn Fliegen gab es hier draußen in Potsdam, kleine und große; Bassisten, Altisten und Tenoristen der Stimme nach; und sie schwebten fortgesetzt um die blaue Glaskrone, immer wieder dahin zurückkehrend, als ob sie mit unsichtbaren, elastischen Fäden daran befestigt wären. Aber wenn sie auch in der Glaskrone ihr Hauptquartier hatten – die Fliegen, sie waren im übrigen für irgendwelche Exkursionen nun durchaus nicht allein auf den Spiegel angewiesen, sondern der Spiegel in seinem Mullrock, er war fürder umgeben von einer ganzen Schar von ungeschützten schwarzen und buntfarbigen Steindrucken und Stichen. Hier hing der alte Invalide Koch, der in seinem hundersten Jahr zu seinem eigenen Besten mit acht Silbergroschen verkauft wurde, knickebeinig, mit einer Pfeife im Mund; und neben ihm, als Pendant, ein Porträt der Königin Luise, nach Kannegießer, auf dem ohne Zweifel der Perlenschmuck das einzig Ähnliche war. Hier war eine Ansicht von Sanssouci und dort eine Vedute {{[Vedute]}} des Platzes vor dem Brandenburger Tor. Aber das schönste war doch eine große Silhouette, die Sommerguth einmal mit kunstfertigen Händen geschnitten hatte, damals, als seine heute so bequeme Frau noch jünger und schlanker und eben noch nicht seine Frau war. Auf blauem Glanzpapier sah man da aus schwarzem Karton in feinstem Scherenschnitt einen[[Anzahl]] Blumentisch, unter dem ein Hündchen saß. Auf dem Gitter des Blumentisches aber, rechts und links, tirillierten zwei Vögel. Der Tisch selbst trug eine große Vase mit der Inschrift »Zum Andenken« und dem ganz fein ausgesparten Bildnis eben jener einst so holden, nun so üppigen Frau Sommerguth, während – nicht genug damit – als Bekrönung des Ganzen aus der Vase ein großer Blumenstrauß hervorsproß mit Rosen, Tulpen, Nelken, die ja bekanntlich schneller als die Freundschaft verwelken sollen. Das war Sommerguths Meisterstück, der Stolz des Hauses und der Stolz der Familie. Wenn man die groben Hände sah, so glaubte man gar nicht, daß sie je so feine Arbeit gemacht hätten. Gewiß, Sommerguths waren ganz einfache Leute, aber in ihrer ganzen Art lag eine bescheidene Zurückhaltung, die fast an Vornehmheit grenzte. Trotzdem sie Jettchen ja von Kind an kannten, fielen sie ihr in all der Zeit nie lästig, drängten sich ihr nicht auf und sprachen nur mit ihr, wenn Jettchen ihre Gesellschaft suchte. Der Mann war grau, groß, dürr und hager, und all seine Bewegungen hatten seitliche Richtung angenommen, wie das bei einem Menschen, der sein Lebtag am Webstuhl steht und Hunderttausende von Malen das Webeschiff {{[We¬be¬schiff]}} hin und her wirft, wohl geschehen kann. Frau Sommerguth hingegen war in ihrem Häubchen aus schwarz und weiß gemischten Spitzen immer noch die Hübscheste von ihren Töchtern, und sie war es – trotzdem sie jetzt schon den Eindruck eines guten alten Ecksofas machte, eines molligen und brauchbaren Möbels, das nie im Weg steht und angenehm für so eine müde, schon etwas verbrauchte Menschenseele ist, wenn sie sich einmal ausruhen will. &&x Natürlich, solch eine Gartenwelt wie draußen in Charlottenburg bei Frau Könnecke, das gab es nun hier bei Sommerguths nicht. Aber trotzdem Jettchen hier in der Stadt wohnte – oben irgendwo in der Schockstraße –, sie sah doch von ihren Fenstern in ein kleines Stückchen Vorgarten; und der war jetzt im Herbst ganz von Goldknöpfen, Fingerhut und Krauseminze erfüllt. In dichten, bunten Büschen drängten sie um die beiden verschnittenen Taxuskegel {{[Taxus¬ke¬gel]}} ... um diese beiden Taxuskegel, die, immer wieder verkürzt, immer wieder oben an der Spitze neue Zweige trieben und die – nun schon lange nicht mehr verschnitten – jetzt wie die wirren und rebellischen Haare eines dunklen Krauskopfes emporstanden. Von der Vogelwelt aber, die einst in Charlottenburg bis in Jettchens Träume das bunte Gewirr ihrer Stimmen geschickt hatte, war hier nur so eine ganze Reihe von piependen Spatzen geblieben, die allmorgendlich und allabendlich vor Jettchens Fenster in den Stäben des Zauns saßen und sich über die letzten Tagesneuigkeiten unterhielten – der eine mit dem Kopf immer hü und der andere mit dem Kopf immer hott. Und wenn auch der Vorgarten nicht so schön war wie der in Charlottenburg – oh, was waren doch die Straßen hier schön in Potsdam! Die ganze Mythologie, die Welt von Hellas und Rom, Heidentum und Christentum zogen in lockeren Reigen dahin, und all das war wieder umflattert und geleitet von einer endlosen Schar von leichtsinnigen Putten, die über diese Häuser und Giebel, über diese Fenster und Nischen, über diese Türen und Pilaster mit graziöser Hand ausgestreut waren. Da zerbrach Simson die Säule, und Theseus zerriß den Baumstamm. Der Gott des Winters blies sich in die eisigen Finger, und das Antlitz der Venus lächelte süß, umgeben von einem Gefolge von Amoretten, irgendwo von der Platte eines Stuckreliefs herab. Überall hatte der Stein Leben, und eine ruhige Freudigkeit zeigte sich in allen Formen. Und zudem war es noch, als ob niemand diese verzauberten Straßen stören dürfe. Jettchen konnte sich nicht erinnern, solange wie sie draußen in Potsdam war, daß sie je einen[[Anzahl]] Menschen hätte schnell gehen sehen. Selbst die Offiziere, die Morgen für Morgen an Jettchens Fenster vorüberritten, sie ritten – solange sie in Sehweite waren – nur ganz gemächlich und fein still im Schritt. Und dann – was fragte man endlich nach der Stadt? Da waren drüben doch gleich die Gärten, diese weiten, schönen, gepflegten Gärten, und die ganze Stadt schien mit ihnen in eins zusammenzugehen. All das war ja Tag für Tag noch so samtgrün und ruhig und träumte dahin in der wunschlosen, herbstlichen Stille einer weißen Sonne. Nicht einmal der Sonntag brachte mehr die Mengen der lärmenden Berliner heraus, die in Charlottenburg von früh bis abends in nie endenden Ketten an Jettchen Haus vorübergezogen waren. Aber vielleicht war das nur in dieser Zeit so, denn es war ja schon recht spät im Jahr. Doch in den Gärten ... in den Gärten natürlich, da merkte man nichts vom Herbst ... ebenso wie eine Frau, die sich pflegt, länger jung und schön bleibt als eine andere, die schwer zu arbeiten hat. Herbst war erst draußen – ringsum in den Wäldern, über den Wasserbahnen, im Ackerland und in den weiten Niederungen. Nur wenn Jettchen einmal an die Havel kam oder über das Land sah, so blickte sie schon fort über die rauhen Stoppelfelder und sah von weit her die letzten vergilbten Kornfelder in der Sonne leuchten, als wären sie aus altem und verbrauchtem Gold. Und Jettchen sah dann auch, wenn die Schwalben sich in Scharen über den tiefgründigen Wiesen sammelten und zwischen den Buschketten und Weidenwegen ihre jungen Flugkünste übten. An alldem spürte sie, daß die rauhe und kalte Zeit sich wieder ankündigte. Aber drinnen im Park, da war eben noch nichts vom Herbst zu fühlen, und durch die Bäume hindurch sah man den blauen Himmel oft so tief und glühend herniederwinken wie von alten Glasbildern. Ganz warme und sonnige Tage kamen noch, solche, an denen man nicht von der Welt Abschied nehmen möchte, solche, von denen man nicht begreifen kann, daß Menschen über die Erde gegangen sind, die sie nun nicht mehr sehen; ebensowenig, wie man es verstehen kann, daß es einmal wiederum gleiche Tage geben wird, wenn wir unsere Augen geschlossen haben. An solchen Tagen schritt Jettchen durch die weiten Gärten dahin, ganz verliebt in diese Scheinarchitektur: in die Säulengänge und Säulenreihen; in die offenen Tempelchen, die kaum vor der Sonne Schutz gewährten; in die Lusthäuschen und die Pagoden; in jene kleinen Lauben aus Eisengitterwerk mit der vergoldeten Sonne über der Kuppel und mit den Masken und Instrumenten, die die Wände und Türpfosten in lockerem Gefälle überzogen. All diese hundert Einfälle, einen[[Anzahl]] Garten schön und lieblich zu machen, sie fesselten gerade an solchen Tagen Jettchen immer wieder. Sie[[1]] liebte dann die verschnittenen Hainbuchen, die sich vollkommen zu grünen Dächern von hüben und drüben ineinander verstrickt hatten und in deren Nischen und Fenstern – den niederen Steinbänken gegenüber – Putten ihre kleinen, koketten Steingruppen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Musik, Dichtkunst und Malerei bildeten. Sie[[1]] war dann entzückt von diesen kleinen Gartenhäuschen, Villen und Tempelchen, deren weiße und goldene Wände durch lange Lindenwege blinkten – lange Lindenwege, über die nun schon Jahrzehnte nicht mehr die Schere des Gärtners gekommen war. Ganz knollig waren sie unten am Stamm geworden, die Linden, und breit mit Schößlingen und jungen Wildsprossen überdeckt, zwischen denen sich die zwitschernden Finken tummelten. Aber mehr als all das liebte Jettchen doch jene vier Orangenbäume in den Kübeln, die eine kleine Fontäne umstanden, ein Wasserbecken, dessen schwarze Fläche von den roten Rücken der Goldfische belebt war. An solchen warmen Mittagen genoß sie diesen Anblick, wenn die Sonne wie Silber und Stahl hoch vom Südwesten her über die blaugrüne Laubwand der Bäume das kleine Becken überflutete und sich das ganze Bild in dem halbrunden Ausschnitt eines hohen Laubganges wie in einem dunklen Rahmen bot. Langsam an den kuglig geschnittenen Buchsbäumen ging Jettchen dann vorüber, betrachtete die zierlichen Nadelfuchsien und atmete den Duft der alten Heliotropstämme, die am Wege standen – nur um immer wieder zu jenem kleinen Wasserbecken mit seinen Orangenbäumen zurückzukehren. Ein kurzes, träumendes Hinundwiderschreiten war das in dämmernden Laubgängen, deren Boden grün und golden durchwebt war – ein kurzes, träumendes Schreiten, bis Jettchen von neuem hinaustrat in die volle, weiße, schon herbstliche Sonne. Aber ihr ganzes Herz gehörte doch endlich jener Brunnengruppe – Neptun und Galatea, von Meerpferden gezogen, mit Tritonen vor sich und Tritonen an der Seite –, die sich aufbaute in einem kleinen, schmalen Teich, und der war jetzt im Herbst ganz von Entengrütze zugesponnen, ganz von den braunen Garben des Wasserampfers besetzt und an allen Ecken und Enden von den spitzigen Weidenruten überwuchert. Breites Kraut, Fenchel und Schilf hielten die morsche, hohe Sandsteingruppe halbverdeckt, und zwischen den Tritonen und den Meerpferden kletterte das grüne Leben empor; und es machte nicht einmal halt vor dem Beherrscher der Fluten, der unfähig schien, sein altes »{{Quos ego}}« zu rufen. Aber immer thronte sie da oben, sie, die schöne Meerfrau, ganz ruhig und steif, in lächelnder, kühler Schönheit, und überließ der milden Herbstsonne die steinernen Formen ihrer wilden und unbekümmerten Nacktheit – auch in den Sommergluten noch eine kühle Herrscherin. Jettchen war es manchmal, als müßte sie diese kühle Nymphe da oben beneiden, der alles zu Füßen lag, die jedem etwas gab und die doch für jeden nur das gleiche unberührte Lächeln hatte. Jettchen war jetzt müde. Der Kampf hatte für sie aufgehört, und in dieser schönen Ruhe waren langsam ihre Wünsche und ihr Wille entschlafen. Sie[[1]] verstand sich manchmal selbst nicht mehr. Sie[[1]] fühlte, daß ihre Briefe an Kößling so arm und nüchtern wurden, so ganz anders, als sie ehedem waren. Und wenn er von neuen kleinen Erfolgen schrieb oder wenn er von ihrer Zukunft sprach – denn jetzt, da alles ruhig und langsam seinen Gang ging, durfte Kößling ja wohl an eine gemeinsame Zukunft denken –, dann hatte sie das vordem warm vor innerer und freudiger Erregung gemacht. Jetzt las sie darüber fort, kniffte den Brief zusammen, tat ihn in ihren Sekretär zu den anderen und ging wieder hinaus, ihre weiten, einsamen Wege durch die Gärten und vor die Stadt; oder sie saß über den Büchern, die ihr Jason mitgegeben hatte. Und wenn sie sich des Abends hinsetzte, um Kößling zu antworten, so mußte sie den Brief erst wieder hervornehmen, denn sie wußte kaum noch, was darin stand. Sie[[1]] fühlte, daß sie von Kößling geliebt wurde, und diese Empfindung tat ihr wohl. Denn es gibt ja keine Frau, die, ob gewährend oder versagend, nicht gern hörte, daß man ihr gut wäre und daß man ihre Schönheit anbete. Aber sie selbst war an alldem unbeteiligt, und in ihren stillen Stunden kamen ihr nie die Vorstellungen an eine gemeinsame Zukunft und an ein Glück eines für den anderen. Jettchen selbst sagte sich hundertmal, daß es vielleicht nur durch alles Schwere käme, das sie jetzt durchgemacht hätte, durch all die Aufregungen eines langen Jahres, die bewirkt hätten, daß sie nun so stumpf geworden wäre. Sie[[1]] wollte sich immer von neuem überreden, daß ja in Zukunft wieder alle Quellen, von denen sie oft in verzweifelten Stunden glaubte, daß sie ganz versiegt wären – daß sie ja alle in ihrem Innern wieder emporsprudeln müßten. Endlich war es ja doch so ein Stück warmen Lebens, das da draußen an die Tür pochte, und endlich, wie hatte sie sich früher nach seinen Küssen gebangt. Gewiß, manchmal, wenn sie in Onkel Jasons Musenalmanach Verse las wie diese: »Mit meinem Kuß will ich ihn tränken, nach dem er sonst so durstig war, und ihm zum Spielwerk will ich schenken mein aufgelöstes schwarzes Haar« – gewiß, dann erwachte wohl auch jetzt für kurze Augenblicke unter der Macht der Vorstellung eine heiße Sehnsucht nach Kößling. Aber Tage und Tage wieder gingen hin, ohne daß sie seiner gedachte. &&x Und wenn sie sich auf ihren Spaziergängen in geheimen Selbstgesprächen befand – denn wir reden ja immer mit Leuten, die weit fort von uns sind –, so war das stets ein anderer, mit dem sie sprach, war das immer Onkel Jason, dem sie all ihre innersten Gedanken anvertraute. Wie sie zu ihm stand, wußte sie ja selbst nicht, sie wußte nur, daß sie ihm so nahegekommen war wie keinem Menschen in ihrem Leben. Und hundertmal las Jettchen wieder in dem Buch von Charlotte Stieglitz, und nie nahm sie es zur Hand, ohne sich jene Verszeilen von neuem einzuprägen, die ihr Jason in das Buch geschrieben hatte, und über ihren Sinn zu grübeln – weswegen es nur käme, daß er sie von sich stieße. Wochen und Wochen gingen so dahin in einem friedsamen Leben, das nur unterbrochen wurde, wenn vielleicht einmal Ferdinand an einem Sonntag früh auf einem Ritt herauskam und einen[[Anzahl]] Augenblick bei ihr vorsprach, gerade so lange, wie das Pferd brauchte, um sich zu erholen. Von den weiten Wasserflächen ringsum trieb nun schon manchmal an den frühen Septemberabenden der Nebel in die Straßen hinein, und alles Grün, jeder Baum und jedes Kraut, gab seine letzte, schwere Üppigkeit, bevor sich die ersten Blätter gelb verfärbten. Überall in den Gärten standen die Herbstblumen, breit, grell und groß, und sie leuchteten mit einer wilden Pracht in die schon frühen Dämmerungen. Salomon und Rikchen waren noch immer auf Reisen, und Jettchen erwartete von Tag zu Tag nun ihre Rückkunft, um wieder eine Stelle zu haben, wo sie einkriechen konnte. Denn wenn sie auch nicht mehr eine arme Waise wie ehedem war, sondern nun – noch von Onkel Eli und Tante Minchen her – so viel ihr eigen nannte, daß sie von der Summe und der Macht dieses Geldes eigentlich gar keine rechte Vorstellung besaß, so hatte sie doch bei alledem kein Heim und keine Stätte, keinen Flecken Erde, wo sie hingehörte. Und sie sehnte sich nach diesem Jahr des Umhergestoßenseins wieder nach ihrem alten Zimmer bei Onkel Salomon, in dem sie doch wenigstens ein Zuhause hatte. Und alles kam, wie es kommen mußte. &&x Gerade als Jettchen an dem Nachmittage des ersten Oktober, zu einem Spaziergang gerüstet, an das Fenster trat, um – die Sonne hatte sich eben verschleiert, und der mattblaue Tag hatte sich verdunkelt – nach dem Wetter zu sehen, ob sie den Weg durch den Park wagen könnte, da erblickte Jettchen jemand, der draußen am Gartengitter stand, unschlüssig und erhitzt vom weiten Weg. Und sie schrak zusammen, freudig wie ehedem, als sie an jenem Frühlingsnachmittag draußen in Charlottenburg am Fenster saß und an der Vorderwand des Handtäschchens stickte, an der Schäferin mit dem gelben Kleid und dem blauen Schäfer, der sich zu ihr neigte. Als aber Kößling Jettchens ansichtig wurde, da flog ihm die Freude wie ein Sonnenglanz über das Gesicht. Und auch Jettchen zitterte vor freudiger Erregung am ganzen Körper. Denn endlich zieht es doch Jugend zu Jugend mit magnetischer Gewalt. Und Jettchen war bei ihm, und sie hing sich an seinen Arm, und sie sprach auf ihn ein, daß sie sich so freue, daß er endlich einmal herauskäme, daß sie nun zusammengehen wollten und daß sie ihm alles hier zeigen würde. Er lachte nur und fand keine Worte und küßte ihr lachend und dankbar die Hände. Den ganzen Nachmittag schritten sie so nebeneinander dahin auf stillen und herbstlich verlassenen Wegen, stundenweit hinaus in die nimmer endenden Gärten. Der Himmel hatte sich wieder entwölkt, war nun ganz mattblau geworden; die schräge Sonne kam hoch über die Bäume fort durch einen[[Anzahl]] zarten und flirrenden Dunst zu ihnen. Sie[[1]] gingen beide über das weite Längsrund zwischen den Kommuns und dem Neuen Palais. Und über die grünen Rasenflächen, aus den runden Beeten farbiger Herbstblumen zog der Duft des Heliotrop zu ihnen herüber. Eine Turmuhr spielte ein klingendes Glockenzeichen zu ihnen herab, und die Ablösung der Wache klirrte über die ziegelgepflasterten Gänge. Und über die Hunderte von Sandsteinhermen des Zauns, die ganz vergrünt in dem Halbdunkel des Laubdachs träumten, huschte so etwas wie ein Lächeln; die Figuren hüben und drüben an den Dächern, sie lächelten ebenfalls und reckten die Hälse. Ja, selbst die großen, pausbäckigen Engelsköpfe drüben über den Fenstern – sie, auch sie schienen plötzlich über diesen preußischen Drill zu lächeln. Jettchen und Kößling blieben eine ganze Weile an dem letzten kleinen Seitenflügel des Schlosses stehen, und Kößling erklärte Jettchen die Sandsteinfiguren, die da oben in lustigen Posen ihre Glieder wiegten. Vielleicht waren es Frühling, Sommer, Herbst und Winter oder Jagd, Fischerei, Geographie, Zeichenkunst und Sternkunde. Er wies ihr all diese Allegorien, Anspielungen und Beziehungen, mit denen man einst das Leben umgürtete. Er zeigte ihr, wie Apollo herantänzelt, gefolgt von Musen und Charitinnen {{[Cha¬ritin¬nen]}} der Mark. Den Theseus zeigte er ihr und den Simson und den Herkules. Und er wies Jettchen auch Vertumnus {{[Ver¬tum¬nus]}} und Pomona. Wer das wäre, Vertumnus und Pomona, fragte Jettchen. Und Kößling begann ihr die Geschichte von Vertumnus und Pomona zu erzählen. Ein schöner Jüngling, sagte er, hätte sich um die Pomona beworben, aber sie hätte ihn nicht gehört. Da hätte er sich in eine alte Frau verwandelt und hätte in dieser Gestalt ihre Liebe gewonnen. Jedenfalls, meinte Kößling, wäre das eine höchst seltsame und vieldeutige Sage – diese Allegorie von dem Alter, das um die Jugend wirbt. Während dieser Worte aber hatte Jettchen plötzlich Kößlings Arm losgelassen und ging nun einige Schritte von ihm entfernt, den Kopf gesenkt und das Gesicht wie mit Blut übergossen. Aber unter allem, was sie nun sprach, zitterte immer wieder die Erinnerung an jene seltsame Sage von Vertumnus und Pomona, die sie plötzlich bis in ihr Innerstes erschreckt hatte. Und sie gingen beide weiter und weiter, und Jettchen sah kaum hinauf, als ihr Kößling lächelnd Venus und Amor zeigte und Venus und Hymen, die die großen Laternen trugen und deren Formen weich geworden waren vom Wind und Wetter und aufgerauht durch die lange Reihe der Jahre. Ganz still ging Jettchen neben Kößling her; aber der verstand ihr Schweigen nicht und deutete als Glück, was doch nur Angst war. Sie[[1]] sahen noch einmal zurück vom Drachenberg auf das Schloß und auf die Kommuns, die mit ihren Kuppeln und Dächern aus dem ununterbrochenen Mantel von Grün ragten; und sie betrachteten es, wie in der sinkenden Sonne die runden Fenster des Obergeschosses leuchteten, gerade als brenne und glühe eine Riesenesse hinter ihnen. Dann aber nahm die kleine alte Maulbeerpflanzung sie auf, mit den Gängen dazwischen, die ganz von Wein überrankt und von Kürbis umsponnen waren. Jettchen und Kößling gingen die schmalen Wege auf und nieder, die das umfriedete Baumland durchquerten, sie schritten hindurch durch dieses eine einzige riesige, von Gängen und Gassen durchschnittene Blumenbeet. Wegauf, wegab prangten da neben ihnen, wie aus eigenen Tiefen glühend, in ungezählten Mengen die Feuerwerkskörper der Sonnenblumen; und alle Farben der herbstlichen Blüten fanden sich zu immer neuen Mustern zusammen: Dahlien und Georginen, Astern und Phloxe. Der Amarant ließ seine roten, hängenden Wedel ordentlich über den Boden schleifen, und die weißen und roten Jalappen, die vor der Sonne die Blüten wie welk gesenkt hielten, sie hatten sich nunmehr erschlossen und strömten jetzt vor der beginnenden Dunkelheit ihren beißenden und grellen Duft in den herbstlichen Abend hinaus. Und große Schwärmer schossen pfeilschnell und summend heran, wie aus endlosen Fernen – nur um einen[[Anzahl]] Augenblick wie graue Schatten unruhevoll über den Blüten zu stehen und dann, von einer heißen Sehnsucht getrieben, wieder weiterzuschießen, gleichsam als wäre es ihnen gegeben, den Raum mit Gedankenschnelle zu überbrücken. Keinem Menschen begegneten die beiden mehr, und wenn sie nicht gesehen hätten, daß die Wege geharkt waren, sie würden nicht geglaubt haben, daß je Menschen in dieses verzauberte Blumenland kämen. Sie[[1]] würden geglaubt haben, daß alles den Laubvögeln gehörte, die – bevor sie sich zur Ruhe begaben – unruhig von Krone zu Krone hinüber- und herüberflatterten, oder der Drossel, die an einer Ranke zerrte. Und Kößling zog Jettchen in all dem fiebrigen Blühen dieses ersten Herbstabends an sich; und sie umschlangen sich beide mit einer fast wilden Wut; und Jettchen meinte besinnungslos werden zu müssen vor seinen Lippen und unter seinen Umarmungen. Dann aber standen sie, als der Himmel schon dunkelte und von feurigen Bändern durchschnitten war, oben auf der Terrasse von Sanssouci und sahen hernieder über die Senkung des Tals; und die Hügel drüben auf dem andern Havelufer verschleierten sich schon in der steigenden Dunkelheit des Abends. Wie die Kulissen eines gewaltigen Theaters standen unten um die Fontäne die zerflatterten, einzeln stehenden Baumkonturen. Und auch jetzt noch, in dem schwankenden, letzten Licht, sahen die beiden, wie unten neben den weißen Marmorfiguren das schwarze Rund der Fontäne von den großen Zügen der Goldfische deutlich rot und kupfrig gesprenkelt und getupft war. Unten aber, in einer Nische auf einer Marmorbank, die schon von den ersten welken Blättern und den ersten abgefallenen roten Beeren überstreut war, lagen sie beide noch einmal Herz an Herz, bis daß Jettchen drängte, nach Hause zu kommen. Und aus dem Licht, das hier noch vom scheidenden Tag zwischen den Bäumen hing, tauchten sie in die engen, dämmrigen Straßen hinein. An dem Zaun ihres kleinen Vorgartens reichte Jettchen Kößling wortlos die Hand, und sie ging dann schnell in das Haus, mit diesem schönen, stolzen Gang aller Geberts, ganz aufrecht und den Kopf im Genick. Der seidene Schal, den sie um die Schultern hatte, der blähte sich, wie sie so dahinschritt, über ihrem Rücken wie ein Segel im Wind. Und vielleicht, wenn sich dieser seidene Schal nicht gebläht hätte und wenn seine schwebenden Enden nicht so schön und verlockend dahingeflattert wären, wäre Kößling still und traurig nach Hause geschlichen. So aber stürzte er Jettchen nach und ergriff noch einmal ihre Hand. Und dann kam alles, wie es kommen mußte. &&x Am nächsten Tag aber, der ebenso licht und mattblau emporzog und ebenso wild und feurig verdämmerte – Jettchen hätte nicht sagen können, was bis dahin ihr die Stunden gebracht hatten, ob sie Freude, Sehnsucht, Reue oder Qual empfand, nur dieses einen[[Anzahl]] unerklärlichen Gefühls war sie sich bewußt, jenes Gefühls, das uns kündet, daß auch der geringste Bach mit dem unendlichen Weltmeer in Beziehungen und in Verbindung steht –, am nächsten Tag kam Onkel Jason. Und Jettchen erschrak tief, als sie ihn die Straße hinaufschreiten sah, und eilte ihm nicht entgegen. Sie[[1]] ging in ihr zweites Zimmer, und sie ließ Onkel Jason eine ganze Weile warten und mußte sich sehr zusammennehmen, um ihm gegenübertreten zu können. Aber Jason Gebert schien von alledem nichts zu merken oder nichts merken zu wollen. »Nun, Jettchen«, sagte er, »ich komme als Abgesandter der Familie, um dich wieder zu den heimischen Penaten {{[Pe¬na¬ten]}} zurückzuführen. Salomon ist auch vorgestern zurückgekommen, und man möchte dich doch gern zu Hause haben – eben die kurze Zeit, die ›Frau Jacoby‹ noch zu Hause sein wird. Aber du brauchst nicht zu denken, Jettchen, daß ich nur deinetwegen komme. Denn ich habe auch einiges mit Sommerguth geschäftlich zu besprechen. Es ist nämlich möglich, daß wir vielleicht die Anlage hier vergrößern werden. Aber das nur nebenbei. – Also wenn es dir recht ist, Jettchen, so schicken wir dir morgen vormittag den Wagen heraus, und Berlin wird dich morgen nachmittag mit Triumphespforten begrüßen. Ganz Berlin ist nämlich deinetwegen schon auf den Beinen, und Tag und Nacht arbeiten die Zimmerleute, um dir einen[[Anzahl]] würdigen Empfang zu bereiten.« Jettchen lachte. »Sollte das wirklich nur mir gelten, Onkel Jason?« »Aber wem denn sonst?« sagte Jason. »Wenn man einer einfachen Henriette {{Son¬tag}} die Pferde ausspannt, so wird man doch dir noch Ehrenpforten bauen können.« Und Jettchen antwortete – sie hatte das Gefühl, als spräche sie im Traum –, daß sie gern kommen würde und daß sie sich freue, endlich einmal wieder in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Jason sah sie einen[[Anzahl]] Augenblick ziemlich ernst aus seinen grauen Augen an und fragte sie dann ganz unvermittelt, was sie von Kößling höre. »Nichts«, sagte Jettchen, und sie wunderte sich, wie einfach dabei der Klang ihrer Stimme war, »wir schreiben zwar oft; aber wir haben uns lange nicht gesehen.« »Nun«, meinte Jason, »ich hoffe, das wird ja jetzt bald anders werden.« Jettchen wollte mit dem Kopf schütteln und wollte sagen, daß sie ihn nie mehr in diesem Leben sehen möchte und daß es doch nur einen[[Anzahl]] Menschen gebe, dem sie gehöre, und daß sie ja von Jugend an nichts anderes denken könne als den einen[[Anzahl]] Menschen und daß sie immer vor Schrecken und Freude sich kaum hätte lassen können, wenn sie nur dessen Schritt von fern gehört hätte. Aber Jettchen lächelte nur und sagte: »Ja, Onkel, das hoffe ich auch.« Und Jason bat, ob sie nachher ein wenig Spazierengehen könnten, er liebe Potsdam so sehr, und er beneide Jettchen um ihren Aufenthalt hier. Sie[[1]] müsse doch jetzt hier draußen gelebt haben, wie das Heine einmal sagt. Wenn er – Jason Gebert – sich nicht irre, sagt Heine, daß er in Potsdam mit keinem Menschen in Berührung kam und daß sein ganzer Umgang sich auf die Statuen beschränkt hätte, die im Garten von Sanssouci sich befinden. »So mußt du doch jetzt hier deine Tage verbracht haben.« Jettchen nickte wieder und sagte, daß es jetzt hier sehr schön sei – gerade jetzt im Herbst – und daß sie jeden Winkel kenne und gern mit Jason noch eine Stunde spazierengehen würde, nachdem Jason das mit Sommerguth besprochen hätte, was er erledigen wollte. So gingen sie beide nach einer Weile hinaus in die Gärten. Und Jettchen vermied mit Absicht die gleichen Wege und die gleichen Stellen, die sie gestern berührt hatte. Aber es gibt ja in den Königlichen Gärten von Sanssouci so viele Wege und so viel schöne Stellen – und es gab so viele Worte, die sie gestern nicht gesprochen hatte und die sie jetzt sprechen konnte, wie sie sich in Onkel Jasons Arm hing. Und für Augenblicke vergaß Jettchen ganz das Gestern und ihr ganzes Leben mit all seinen Irrtümern. Aber auch Jason Gebert vergaß in diesem ruhigen und taktmäßigen Hinschreiten neben Jettchen alles, was vergangen war, vergaß seine heißen Tage und seine wilden Nächte und seine Ruhelosigkeit, die ihn aufgepeitscht und aufgepeitscht, bis er jetzt glaubte, seiner Leidenschaft Herr geworden zu sein. Wie zwei, die sich einmal sehr geliebt hatten, gingen sie nebeneinander und sprachen zusammen – wie zwei, die nun die stilleren Feuer entzündet hatten. Jason Gebert erzählte von dem Einzug des Königs. Er wäre nicht hingegangen, denn er liebe so etwas nicht. Aber die Menschen hätten sich ja wie besessen gebärdet, und der König wäre auch von all diesem Jubel und all diesem Taumel wie benommen gewesen. Aber zu skeptisch, um in einer Stimmung zu verharren, und zu skeptisch, um an sich selbst zu glauben, habe er sofort erkannt, daß das nur etwas wie die Laune eines unberechenbaren Kindes sei. Und deshalb habe er zum Bürgermeister, der ihn die Treppe zum Schloß hinaufgeleitete, gesagt, daß es ja eine reine Trunkenheit sei und daß es so nicht bleiben könne und daß er fürchte, bei seinen lieben Berlinern würde nur allzubald der Katzenjammer folgen. »Das aber, Jettchen«, meinte Jason Gebert, »ist das erste Wort, in dem ich und der König gleicher Meinung sind. Sonst habe ich noch nichts von ihm gehört, was ich unterschreiben würde.« Ob Jettchen ihn denn nicht einmal gesehen hätte, er wäre doch jetzt hier draußen in Potsdam, drüben in Charlottenhof. Aber Jettchen hatte ihn nicht gesehen. Und Jason erzählte weiter, daß sie nunmehr in Berlin gar nicht mehr wüßten, was sie dem neuen König alles antun sollten, erzählte, daß sie für die Festlichkeiten eine große Halle auf dem Opernplatz bauten und daß die Zimmerleute sogar nachts bei Fackelschein daran arbeiteten – er hätte es gesehen, und es wäre ein ganz phantastischer Anblick gewesen –, erzählte vom Huldigungsfest der Stände, das vor dem Schloß stattfinden würde und zu dem sie schon begännen, die riesigen Tribünen aufzustellen; davon solle der Pferde-Krüger ein großes Bild mit zahlreichen Porträten malen. Fünfzehntausend Taler bekäme er dafür – da sehe man doch wirklich einmal, daß die Kunst noch ihren Mann nähren könnte. Jettchen sagte, daß sie so große und welterschütternde Ereignisse natürlich nicht zu berichten hätte. Und sie erzählte Jason von Potsdam, erzählte ihm von der schönen Nymphe, dieser Galatea, die sie so liebe, und von dem Glockenspiel auf der Garnisonkirche, das sie jedesmal an Onkel Eli erinnere, der sich ja auch immer so mit der Singeuhr der Parochialkirche gefreut hatte. Unten an dem langen, niederen Bau des Festsaals waren sie entlanggeschritten, dann ein Treppchen hinauf, an den vergoldeten Eisenlauben vorbei. Und sie hatten das niedere Schloß in einem rötlichen Abendschein vor sich. Einen[[Anzahl]] Augenblick sahen sie über das Land, und sie sahen hinten ferne Wasserspiegel, die mit rötlichen Augen aus dem dunklen Grün zum Himmel blickten und deren Glut nun von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Während sie langsam wieder hinabstiegen, hatte sich der Himmel ganz rot gefärbt, und die scharfen Kanten der Bäume lagen in schwarzen Silhouetten darauf. Die Marmorfiguren schienen doppelt weiß auf ihren dunkelgrünen Wänden – und riesig, wie ein Finger Gottes, ragte draußen vor dem schwarzen Gartentor die Nadel der Kleopatra in die Höhe. In dieser brennenden Dämmerung aber schritten die beiden ganz still dahin, wie zwei Menschen, die doch wenigstens wissen, daß sie miteinander hätten glücklich werden können, wenn sie eben nicht beide stärker als ihr Wille gewesen wären ... Vor dem Haus jedoch – Jason wollte zur Eisenbahn, und es blieb ihm nicht mehr sehr viel Zeit, um zum Zug zu kommen, so daß der Abschied kurz sein mußte –, vor dem Haus jedoch beugte sich plötzlich Jettchen über Onkel Jasons Hand und küßte sie. Und wenn Jason sich nicht irrte – aber er erinnerte sich erst später dessen –, so war es ihm auch gewesen, als ob Tränen darauf fielen. Da zuckte Jason Gebert zusammen, zog die Hand unwirsch zurück und sagte: »Laß das, Jettchen – laß das. Ich bitte dich. Ich gehöre nicht zu den Menschen, denen man die Hände küßt – ich nicht.« Dann aber legte er den Kopf ins Genick und sah Jettchen, die nach dieser Abweisung zurückgeschreckt war und wie ein verschüchtertes Kind vor ihm stand ... sah Jettchen mit seinen grauen Augen groß an. »Und nun, Jettchen«, sagte er sehr langsam und bedeutungsvoll, »will ich dir noch eine Freude machen. Morgen abend werden bei Onkel Salomon ein paar Menschen sein. Nur wir: Ferdinand, Hannchen und ich; und außer uns wirst du noch jemand treffen, den du vielleicht nicht ungern dort siehst.« Und wenn Jettchens Ohr noch fein und scharf genug gewesen wäre, um den Ton in Jasons Stimme zu erfassen, den sie doch einst so gut zu beurteilen wußte, dann hätte sie gehört, wie schwer es Jason wurde, das zu sprechen, und wie müde, quälerisch und schmerzlich dabei seine Stimme war, und sie hätte ihm die Arme um den Hals gelegt und hätte ihm gesagt, daß sie ja nur ihn auf der ganzen Welt kenne und sie beide – er und sie – alles vergessen müßten, was geschehen wäre, um beide glücklich zu werden. Aber Jettchens Ohr war nicht mehr fein und scharf, und sie erfaßte den Ton nicht ... Und so kam alles, wie es kommen mußte. &&x Als aber am selben Abend Jason Gebert keine Ruhe fand und durch die Königstraße auf und nieder irrte – denn er glaubte doch nun, da er das letzte Wort gesprochen hatte, sich von allem befreit zu haben, und trotzdem schlug und zappelte er wieder in dem alten Netz und wußte sich nicht Rat noch Hilfe –, als Jason Gebert da durch die Straßen irrte, wollte es der Zufall, daß ihm jemand entgegenkam, ein dünnes Stöckchen in wilden Lufthieben umherwirbelnd; gerade wie in der halbvergessenen Frühlingsnacht, in jener Nacht, da Julius Jacoby von dem Hausdiener Karl im »Goldenen Damhirsch« sich die gedruckte Liste all der Orte hatte geben lassen, die man in Berlin besuchen muß, um in Posen davon erzählen zu können. »Sieh da, Doktor Kößling! Sie[[1]] scheinen ja heute sehr guter Dinge zu sein.« Kößling blieb vor Jason Gebert stehen und berührte ihn mit der Hand an der Schulter. »Ja, wirklich, Herr Gebert, das bin ich auch.« »Sie[[1]] haben wohl heute«, sagte Jason, »ein paar Zeilen zu Hause vorgefunden?« Kößling wurde verwirrt. »Nein, das nicht...« »Nun«, meinte Jason, »dann sind Sie[[1]] wohl schon auf Abschlagzahlung guter Dinge? Denn wenn Sie[[1]] heute nach Haus kommen, dann werden Sie[[1]] vielleicht ein kleines Billett dort finden, ein paar Worte in einer schönen, geschwungenen Kaufmannsschrift mit sehr eleganten S-Bogen. Und in diesem kleinen Billett wird stehen, daß man sich mit der Hoffnung trägt, Herrn Doktor Friedrich Kößling morgen abend bei Salomon Gebert zu einem einfachen Butterbrot begrüßen zu können. Ja, ja – so geht's im Leben ... es kommt doch alles besser, als man glaubt.« Kößling hatte Jason Geberts Hand ergriffen. »Wie soll ich Ihnen danken«, sagte er; man hörte es seiner Stimme an, daß er ganz weich war. »Indem Sie[[1]] nicht davon reden«, sagte Jason Gebert brüsk und machte sich mit einem Ruck los. Aber im Augenblick war Jason Gebert doch wieder ganz der alte, und er schämte sich, daß er sich so hatte gehenlassen. »Kommen Sie[[1]], Doktor, wir wollen noch ein wenig zusammen promenieren. Wir beide sind ja so lange nicht des Abends spazierengegangen. Ich glaube, es muß bald ein Jahr her sein – seit jener letzten Schneenacht nicht mehr. Kommen Sie[[1]], wir wollen das letztemal zusammen gehen; wer weiß, ob ich später noch einmal mit Ihnen gehen werde.« »Aber Herr Gebert!« »Ja, da werden Sie[[1]] doch jemand anders haben, mit dem Sie[[1]] gehen werden. Und ich werde allein sein.« »O nein, dann werde ich mir eben Urlaub erbitten – und ich hoffe, ich werde ihn auch erhalten.« »Kößling!« rief plötzlich Jason Gebert in die Nacht hinaus. »Kößling – ich kann nicht mehr! Ich habe Sie[[1]] bis hierher geleitet, und ich habe Furchtbares dabei ausgehalten. Kein Mensch kann sagen, was ich dabei gelitten habe! Nun will ich Ruhe – ich will nichts mehr hören, und ich will nichts mehr sehen. Ich kann nicht mehr davon sprechen, ohne daß mir die Tränen kommen. Heute bin ich ein alter Mann – Sie[[1]] wissen ja, ich habe Sie[[1]] gern, sonst hätte ich nicht das für Sie[[1]] getan –, und in Ihre Hände lege ich nun das Liebste, das ich auf der Welt habe, etwas, was so schön und so stolz ist, daß es nie mein werden konnte. Sie[[1]] nehmen es aus meiner Hand, rein wie Gold – und nun sehen Sie[[1]], daß keine Flecken darauf kommen. Ihnen, Doktor, mögen diese Worte überschwenglich vorkommen, aber wenn man durch Jahrzehnte mit spöttischem Mund zu schweigen verdammt war, so kann man doch einmal, ein einziges Mal, die Wahrheit sagen. Es gibt ja keinen Menschen auf der Welt, dem ich das anvertrauen könnte – außer Ihnen. Kößling, ich kenne Sie[[1]]; Sie[[1]] sind oft hart und unwirsch und vergrämt, und dann achtet man den anderen Menschen nicht. Als ich jung war, war ich auch nicht anders. Aber nun müssen Sie[[1]] ein anderer werden, weil jetzt in Ihre Hände etwas gegeben ist, was mehr ist, als Sie[[1]] sind. Haben Sie[[1]] das jemals schon gefühlt?« »O ja«, sagte Kößling, den die Worte Jasons zwar im Innersten erregt, aber doch nicht überrascht hatten, »o ja. Und wenn sich jetzt hier unsere Wege trennen sollten, Herr Gebert, so will ich Ihnen versprechen, daß ich das, was Sie[[1]] – und kein anderer – mir geschenkt haben, immer mehr achten will als mein Leben.« »Dann ist es gut«, sagte Jason Gebert. Eine ganze Weile schritten sie nebeneinanderher, ohne daß einer an den andern das Wort richtete. Auf der Kurfürstenbrücke blieben sie einen[[Anzahl]] Augenblick stehen und sahen auf das seltsame Bild, auf die großen, dämmrigen Tribünen, die dort aufgeschlagen wurden. Ihre zackigen Gerippe standen hoch gegen den Nachthimmel und waren ganz überhuscht und überzuckt vom Schein mächtiger Kienfackeln, die in großen eisernen Ringen steckten und die ihre Reflexe bis auf die Bronzegestalt des Großen Kurfürsten warfen, der da oben – ein schreckhafter Schatten – durch die schwere Nacht ritt. Die Zimmerleute kletterten und sprangen wie die Eichhörnchen von Balken zu Balken, man hörte ihre Zurufe, und man hörte die lauten Hammerschläge, die, in gleichen Abständen geführt, klar und dröhnend über den dunklen, stillen Platz schallten. »Na«, sagte Jason, und jetzt hatte er seinen alten Ton wiedergefunden, »na, Kößling, wo werden Sie[[1]] denn stehen? Sie[[1]] werden wohl mit den Siebmachern am Nikolai-Bürgerspital stehen? Oder wird man Sie[[1]] unter die Ehrenjungfrauen einreihen? Ich lerne jetzt schon immer mein Gedichtchen: ›O Herr und König, diese Pforte hier, erbaut hat sie die Hand der Liebe dir, mit Blumen und mit Kränzen leicht verhüllt und mit der Jungfrau'n heitrer Schar erfüllt.‹ Wissen Sie[[1]], Doktor, wirklich, was wäre der Mensch, wenn es die Poesie nicht gäbe?« Kößling mußte lachen, und es war ihm doch gar nicht so zumut. Denn in dem Glücksgefühl, das ihn beherrschte, zitterte ein ihm unerklärlicher Unterton von tiefer Herzensangst. »Kommen Sie[[1]]«, sagte er, »ich möchte heute bald nach Haus gehen.« Und Jason schritt wieder neben ihm her. Jetzt war er mit seinem Gespräch in das politische Fahrwasser gekommen, und er erregte sich darüber, daß, kaum da die Amnestie erlassen war, sie die Gefängnisse wieder füllten und daß alles beim alten geblieben war. Nichts hätte man bisher gegeben als leere Versprechungen, und das einzig Gewisse an ihnen wäre, daß man sie nicht einlösen würde. Jetzt führe man eben die »Räuber« im Schauspielhaus auf – früher hätte sie die Zensur verboten –, das wäre der Erfolg des neuen Regimes. »Man erlaubt uns nun doch wenigstens, in Gedanken uns frei zu fühlen. Aber die Redern {{[Re¬dern]}} und die Voß {{[Voß]}} und wie alle die Schranzen heißen, die setzt man uns dafür über den Kopf. Und sogar den Hassenpflug {{[Has¬sen¬pflug]}} wollen sie jetzt aus Hessen herholen – als ob wir in Preußen nicht schon genug von solchen Reaktionären haben.« An der Ecke der Klosterstraße nahmen Kößling und Jason Abschied voneinander. »Ja«, sagte Jason, »dann denke ich Sie[[1]] also morgen abend noch einmal zu sehen, Kößling – vielleicht für lange Zeit das letztemal. Morgen früh schickt Ferdinand einen[[Anzahl]] Wagen nach Potsdam, der soll Jettchen abholen. Und vielleicht schon in acht Tagen wird – das sagte mir heute Salomon – Frau Henriette Jacoby wieder Jettchen Gebert heißen; und all das, was wir zusammen durchgemacht haben, wird der Vergangenheit angehören. Es war nicht leicht, Kößling, nicht leicht war es – aber nun ... gute Nacht. Ich war heut nachmittag in Potsdam, und ich bin jetzt sehr müde.« Kößling und Jason reichten sich stumm die Hände. Der eine ging rechts und der andere links, jeder ganz verfangen und zappelnd und schlagend im Netz der Gedanken und Erinnerungen ... &&x Am nächsten Morgen erwachte Jason Gebert dadurch, daß ihn jemand rüttelte. Er sah Fräulein Hörtel vor sich, und die sagte ihm, daß Herr Sommerguth aus Potsdam da wäre, der müsse ihn sofort sprechen, meinte er. Jason zog schnell den Schlafrock an und eilte vor in das gute Zimmer, in das er, seitdem Jettchen ihn verlassen hatte, nur ungern hineinging. Und da sah er – es war ein grauer Tag, und das Licht war noch trübe, die Sonne war noch nicht durchgekommen und hing über den Dächern in einem matten Flor ganz dünner gelblicher Wolken –, da sah er den alten Sommerguth, der am Fenster stand, den grauen Kopf tief gesenkt, und der mit seinen unruhigen Weberhänden immerfort eine Schirmmütze vor sich hin und her drehte. »Um Himmels willen, Sommerguth – was gibt's denn so früh?« rief Jason Gebert; denn Jason Gebert glaubte, daß Sommerguth wegen ihres gestrigen Gesprächs nach Berlin hereingekommen war, um dazu noch irgend etwas vorzubringen, und Jason Gebert verstand im Augenblick, warum er das so früh tat: weil Sommerguth ja den Tag über in der Fabrik unentbehrlich war. Aber Sommerguth stand immer noch mit gesenktem Kopf und drehte die Mütze. »{{Herr Gebert}}«, sagte er endlich, »{{es is wat pas¬siert – es is wat Schreck¬liches pas¬siert ... es is wat mit Fräu¬lein Jett¬chen pas¬siert. Ich weiß nich, was ich machen soll. Ich kom¬me zu Ihnen 'rein ... ich hab' es noch kee¬nem Men¬schen jesagt, nur meine Frau – die is nu bei ihr.}}« Jason Gebert stand vor Sommerguth und starrte ihn mit seinen großen Augen an – es war ja doch möglich, daß er noch träumte. Aber der Mann da stand immer noch unbeweglich in seiner Fensterecke, mit gesenktem Kopf, und drehte die Mütze. »{{Jestern is sie die janze Nacht auf¬je¬wesen. Wir haben nu jedacht, daß sie ihre Sachen zusam¬men¬packt. Und jejen Morgen is sie denn noch mal wech¬je¬jangen; und wie meine Frau sie nach¬her weckt – denn der Wagen sollte doch kom¬men –, da jibt se keene Ant¬wort. Na, hab ich jesacht, denn las¬se se man noch schlafen. Und nach 'ner hal¬ben Stunde is meine Frau wieder hin¬jej¬angen und hat an de Tür je¬kloppt. Und wie se denn so jar nichts jehört hat, da hat se de Tür janz leise auf¬je¬macht; un wie denn Fräu¬lein Jett¬chen da noch nich auf¬je¬wacht is, da is se denn ans Bett je¬jangen – und da hat se auf de Seite je¬legen, janz zusam¬men¬je¬zogen, und auf dem Bett war een jroßer Blut¬fleck, so jroß wie eene Hand. Und auf der Erde vor dem Bett lag solch Ding wie so 'ne lange sil¬berne Nadel – janz lang und spitz; die muß se doch dazu je¬nom¬men haben ... Jott, wenn wir bloß vor¬her wat je¬hört hätten – wir müs¬sen ja schon auf¬je¬wesen sein –, aber wir haben ja jar nichts je¬hört; es is ja janz still je¬wesen. Und dabei muß es doch 'ne janze Weile vorher je¬schehen sein, denn se war schon janich mehr recht warm, wie meine Frau rein¬je¬kom¬men is ...}}« All das sagte der alte Sommerguth ganz leise und sehr tonlos, und er drehte dabei mit seinen unruhigen Weberhänden immerfort seine Mütze und wagte nicht, Jason Gebert anzusehen. »{{Sie Sind doch selbst noch jestern da¬je¬wesen, Herr Jebert, da war se janz ver¬jnügt. Und die janze Zeit hab' ick se nie¬mals weinen sehen. Und wenn ich nur das je¬ringste von so wat ver¬mu¬tet hätte, na, denn hät¬ten wir ja auch auf se auf¬je¬paßt. Wir ken¬nen doch Fräu¬lein Jett¬chen von so klein an. Und se is doch zu meine Frau je¬wesen, jar nich, als ob se das reiche Mäd¬chen wäre, son¬dern wirk¬lich, als ob se 'ne Tochter von ihr wär'.}}« Jason Gebert war völlig erstarrt, stand ganz ruhig, preßte nur die Stuhllehne mit beiden Händen, als ob er sie zerbrechen müsse, damit er nicht im Augenblick zerbräche. Er hatte keine Träne im Auge, und seine Stimme war merkwürdig fest. »Herr Sommerguth«, sagte er, »Sie[[1]] sind jetzt dreißig Jahre bei uns. – Sie[[1]] kennen uns. Sie[[1]] wissen, was wir hier in Berlin sind.« »{{Det weeß ich, Herr Jebert}}«, sagte Sommerguth, »{{da sind nich viele hier in der Stadt, die so sind ...}}« »Und ich hoffe, wir dürfen in dieser Sache auf Ihre Verschwiegenheit rechnen«, sagte Jason. »Kommen Sie[[1]], wir müssen jetzt zu meinem Bruder Salomon gehen.« Während Jason Gebert sich hastig anzog, war es ihm doch einen[[Anzahl]] Augenblick, als müsse er niederstürzen. Aber das ging vorüber. Und er schrieb noch, bevor er ging, an Ferdinand ein paar Zeilen, daß ja sogleich ein Wagen mit seinen schnellsten Pferden zu Salomon geschickt würde – sie müßten nach Potsdam hinausfahren, es hätte sich etwas Entsetzliches dort ereignet. Als aber Jason Gebert vor Salomon stand, den er sich in das grüne Zimmer hatte rufen lassen, da verließ ihn doch seine Kraft. Und ehe er ein Wort herausbrachte, stürzte er über einen[[Anzahl]] Polsterstuhl und biß schluchzend in die Kissen. Kößling aber war von Jason Gebert fort nicht sogleich nach Haus gegangen, sondern er war, erregt durch all das, was in den letzten Tagen auf ihn eingestürmt war, immer noch weiter durch die Straßen geirrt, bis in ganz ferne und fremde Gegenden, und in seine Sehnsucht nach Jettchen und in seine Beunruhigung über die Worte Jasons, aus denen doch eine tiefere Empfindung emporflammte, als er sie bei Jason Gebert erwartet hatte – in sie hatte sich mehr und mehr eine Angst gemischt, eine Angst, die ihm ganz närrisch schien, denn er wußte nicht, worauf sie sich richtete, und die ihn doch am ganzen Körper zittern machte. Immer wieder sagte er sich, daß das nur ein Rückschlag war von all der trüben Zeit, die er durchgemacht hatte, daß das vielleicht daher käme, daß er jetzt sein Glück nicht glauben konnte, so unwahrscheinlich und so ungerecht erschien es ihm. Und er versprach sich, daß er durch Erfolge und durch all das, was das Leben einer Frau an der Seite eines Mannes schön machen kann, daß er dadurch für dieses Glück danken wollte. Aber all das betäubte nicht seine tiefe Unruhe, und nicht einmal die Sehnsucht nach der Geliebten schien dieses unbestimmte Angstgefühl ihm zu erklären, das sich von Viertelstunde zu Viertelstunde steigerte. Er war nach oben gegangen und hatte sich in seinen schwarzen Lehnstuhl gesetzt, um ein wenig einzuschlafen. Und er war aufgewacht, als es wieder hell wurde, gepackt von dieser unbeschreiblichen Angst und mit dem festen Entschluß, sofort zu Jettchen hinauszufahren und nach ihr zu sehen. Aber als dann der Morgen kam und das Licht stärker wurde, da hielt es Kößling doch nur für eine Laune von sich, für eine Laune, der er nachgäbe, um sich einen[[Anzahl]] glücklichen Vormittag zu schaffen. Und so ging er hinaus, über die Plätze fort, durch die menschenleere Leipziger Straße, in der das Gras zwischen den Steinen emporsproß. Eine Stunde mußte er bis zum nächsten Zuge warten; und er ging auf und nieder in der offenen Halle, im Augenblick guter Dinge und im Augenblick wieder von einer Furcht gepeitscht, daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte. Und das letzte Stück draußen in Potsdam, das lief Kößling, als ob er etwas gestohlen hätte. Aber er kam nicht hinein zu Jettchen; die älteste Tochter von Frau Sommerguth sagte ihm, daß niemand zu Frau Jacoby gelassen werden dürfe. Kößling entgegnete, er würde nicht eher von der Stelle gehen, bis er sie gesehen hätte. Frau Sommerguth, die die lärmenden Worte Kößlings gehört hatte, kam aus Jettchens Zimmer heraus, und ihr Gesicht war ganz rot und ganz verquollen vom Weinen. Kößling bat sie und flehte sie an, sie solle ihm doch nur sagen, was geschehen wäre – er hätte es ja schon die ganze Nacht gefühlt, daß mit Jettchen etwas geschehen wäre. Und Frau Sommerguth, die Mitleid mit Kößling hatte, den sie zwar nicht von Angesicht zu Angesicht kannte, von dem sie aber wohl gehört hatte, nahm ihn bei der Hand und führte ihn einen[[Anzahl]] Schritt hinein in das Zimmer. Kößling sah dasselbe Bett und dieselben Möbel, die ihm doch erst vorgestern vertraut geworden waren. Er sah Jettchen dort liegen, die Brust entblößt, den Kopf ins Genick gekrampft und den schönen Körper ganz verzogen. Er sah den Blutfleck auf den weißen Bezügen – nur einen[[Anzahl]] Blutfleck, so groß wie eine Hand. Dann aber zog alles wie im Nebel an Kößling vorbei. – Als er wieder erwachte, da lag er irgendwo draußen mit dem Kopf im Moos, und zwei Farnwedel verkreuzten ihre grünen, zackigen Blätter über seiner Stirn. Wie er die Hand bewegte, da zerbrach ein Zweig. Die Bäume über ihm schienen in den Himmel gewurzelt zu sein. Hinten zwischen den Stämmen, da leuchtete es, als ob dort große weiche Tücher gebreitet wären. – Und nach Stunden fand er sich wieder am Boden. Ringsum war niederes Gestrüpp und Tannen und Kiefern, ganz dicht. Sein Anzug war über und über mit Moos und Flocken und Nadeln behangen, und zwei rote Pilze standen bei seinen Füßen. – Dann aber sah er Sterne, viele Sterne, immer in Mustern zwischen den Kiefernkronen stehen. Und wieder wurde es hell – ein Wind kam von weit herüber über eine große Wasserfläche. Ein seltsames und unheimliches Schreien hörte er aus dem Schilf; Wolken trieben auf ihn zu und der Regen, der Regen, der ihm so ins Gesicht peitschte. &&x Als aber am vierten Tage Kößling noch nicht in seine Wohnung zurückgekehrt war, da nahm Jason Gebert den Brief, der dort lag, nahm ihn an sich, damit er nicht in unbefugte Hände käme. Denn Jason Gebert kannte wohl die Hand, die ihn geschrieben hatte. Wie Jason Gebert dann mit dem Brief nach Hause gehinkt war, da mochte er, trotzdem die Dämmerung eben hereinbrach – und es war ein regenschwerer Oktobertag –, nicht Licht anzünden. Er stellte sich an das Fenster und begann zu lesen. Jason Gebert fürchtete nicht mehr, daß er damit ein Unrecht beginge; denn es gab nichts mehr in der Welt, was er fürchtete. Ach Gott, er wußte ja nur zu gut, daß der andere nicht mehr kommen und diesen Brief von ihm fordern würde. »Lieber Fritz«, las Jason Gebert da mühsam bei dem verdämmernden Licht. »Lieber Fritz! Du wirst diese Zeilen vielleicht schwer verstehen, und doch wirst Du an sie glauben müssen, armer Junge. Und ich verstehe sie selbst kaum, da ich sie nun schreibe; aber ich höre sie im Ohr, und ich glaube, hinter mir steht eine dunkle Gestalt, nach der ich mich nicht umzusehen wage, und die flüstert sie mir zu – und ich muß sie nachschreiben. Wir sterben ja alle mit geschlossenem Munde, aber ich will nun reden, bis sich mir die Hand um die Kehle legt. Denn ich weiß, daß ich vielleicht in einer Stunde nicht mehr reden werde. Die Leute haben mir oft gesagt, daß ich sehr schön wäre, so oft, daß ich es selbst glaubte – aber es hat mir nie ein Mensch gesagt, daß ich glücklich wäre, und vielleicht ist es nicht bestimmt, daß Schönheit und Glück zusammen wohnen. Ich träumte heute früh, wie Du von mir fortgegangen warst, ich ginge einen[[Anzahl]] langen, schmalen Weidenweg entlang, und rechts und links, so weit der Blick reichte, war Wasser – schwarzes, tiefes Wasser. Aber plötzlich war der Weg vor mir fortgebrochen, und die Wellen netzten mir den Schuh. Und als ich erschrocken mich umwandte, um wieder zum festen Land zurückzuflüchten, da sah ich, wie auch hinter mir es fortbrach, wie die Bäume auseinanderfielen gleich gemähten Grashalmen und wie sie klatschend in die Fluten schlugen, wie sie sich drehten und zäh und schwer mit einer unsichtbaren Strömung fortgezogen wurden. Eine wahnsinnige Angst packte mich, ich schlug die Arme breit auseinander und schrie auf, während das Wasser um mich emporspritzte – schrie auf, daß ich erwachte. Und da, wie ich mich im Bett hochsetzte, da wußte ich mit einemmal, daß ich nie die Deine werden würde, trotzdem ich doch schon die Deine gewesen bin. Damals hätten wir uns beide nehmen müssen, als wir vielleicht noch beide jung genug waren, um uns zu finden. Jetzt ist aber ein anderer stärker. Ihm gehörte ich, ohne es zu wissen, solange ich denken kann, und ihm werde ich gehören, jetzt, da ich es weiß, in alle Ewigkeit. Verzeih mir, daß ich Dir weh tue – aber für jeden von uns kommt einmal die Stunde, wo er nicht mehr danach fragen kann, ob er dem andern, dem er doch im Innersten vielleicht noch gut ist, weh tun muß. Ja, ich liebte Dich, weil Du jung warst – und doch weiß ich es jetzt, wir hätten uns unser Lebtag gequält und fremde Worte gesprochen. Denn ich gehöre zu einem andern, und der ist nicht mehr jung – und vielleicht liebte ich in Dir nur seine Welt. Ich glaube, er hat ganz graues Haar. Man hat es mir gesagt; ich weiß es nicht. Für mich ist er der gleiche geblieben, solange ich denken kann. Man sagt, sein Gang ist schwer und langsam; aber ich hätte nie schneller gehen mögen. Man kann meinen[[Meinung]], daß er heute alt und müde ist und daß wir beide doch zusammengehörten. Aber die Liebe fragt nicht nach Jahren. Und ich würde heute zu ihm gehen, zu dem andern – und diese Zeilen würden auch so unser Abschied sein, wenn ich mit unbefleckten Erinnerungen zu ihm gehen könnte, wie sie eben jetzt meinen[[Besitz]] Abschied für das Leben bedeuten. Ich wußte es nicht vordem, ob ich ihm je gehören würde; was wissen wir denn von uns selbst? – Aber das eine wußte ich, daß, wenn ich ihm gehörte, ich nie vorher einem andern gehört haben könnte. Und nun will ich ihm gehören. Du würdest das nicht verstehen, und Du würdest mich beschwören, Dich zu vergessen, und Du würdest mich freigeben, wie man einem schönen Vogel, den man einmal gefangen hat, schweren Herzens die Freiheit wiedergibt, wenn er sich nicht an das Bauer gewöhnen will. Aber was soll mir jetzt noch die Freiheit? Ich weiß, Du wirst all das nicht verstehen; aber Frauen denken über solche Dinge anders als Männer. Du mußt nicht glauben, daß ich diese Zeilen in großer Erregung niederschreibe. Ich bin nie ruhiger gewesen als jetzt, da ich weiß, was ich zu tun habe. Aber vorher – die ganze Zeit vorher –, da habe ich furchtbar gelitten. Ich habe nie geglaubt, daß ein Mensch so viel leiden kann. Ich wollte immer andere Wege gehen als die anderen, und nun habe ich mich verirrt. Wenn ich als Kind Seifenblasen gemacht habe, so habe ich schon damals immer darüber geweint, daß die buntesten Seifenblasen am ehesten zersprangen, während die farblosen in der Sonne hochstiegen, bis weit über das Dach hinaus. Und jetzt beginne ich auch zu weinen, weil meine[[Besitz]] buntesten Seifenblasen am ehesten zerspringen mußten. Armer Junge! Ich will jetzt an Dich denken. Was habe ich aus Deinem Leben gemacht! Wir glaubten, daß es der Zufall gut mit uns meinte, als er uns, zwei fremde Menschen aus anderen Welten, von weit her zusammenführte, daß er unser Glück wollte – und er wollte unser Elend. Ich fürchte, ich bringe viel Kummer über Dich; aber Du sollst nicht böse von mir denken. Denke auch, daß ich in meinen[[Besitz]] Händen, die Du immer so schön fandest und so liebtest, für Dich Glück gebracht habe. Vergiß das nicht, armer Junge, denn ich möchte doch gern, da ich jetzt so vielen Schmerz bereiten muß, daß einer von ihnen sich auch erinnert, daß ich ihm einmal Freude bereitet habe. Zeige diesen Brief niemandem und rede auch nicht zu Jason von ihm – versprich mir das –, denn er hat mich im Leben immer so sehr geliebt, und ich möchte nicht, daß er mich noch im Tode verachten müßte. Lebe wohl, Fritz – draußen beginnt es hell zu werden –, lebe wohl. &&ar Henriette« &&ax Als Jason Gebert die letzten Worte nur noch mühsam entziffert hatte, war auch der letzte Schein von Licht draußen erloschen. Jason Gebert stand allein tief im Dunkel.